Kurz erklärt: Was bedeutet Verteidigungs-/Spannungs-/Bündnis-/Zustimmungsfall?
Die sicherheitspolitischen Entwicklungen der jüngsten Zeit, die Äußerungen und Forderungen von Politikern, die Diskussion über eine Wehrpflicht – aber auch die missglückte Feldjäger-Übung in Bayern haben juristische Begriffe wieder in die Debatte gebracht, von denen lange kaum die Rede war: Was bedeutet der Verteidigungsfall, der Spannungsfall, der Bündnisfall und der kaum bekannte Zustimmungsfall? Eine kurze Übersicht.
Die entsprechenden Bestimmungen für Krise und Krieg wurden erst Ende der 1960-Jahre ins Grundgesetz aufgenommen, mit der so genannten Notstandsverfassung. Die Erläuterungen dazu finden sich recht ausführlich im Bericht des Bundestags-Rechtsausschusses aus dem Jahr 1968 (Bundestagsdrucksache 5/2873).
Angewandt wurden diese Vorschriften bisher noch nie. Zwar wurde der Bündnisfall der NATO nach den Angriffen vom 11. September 2001 in New York und Washington ausgerufen. Die Bundeswehr unterstützte in diesem Rahmen den Bündnispartner USA; die innerstaatlichen Regelungen in Deutschland wurden in diesem Zusammenhang aber nicht in Kraft gesetzt.
Die einzelnen Regelungen:
• Verteidigungsfall
Die offensichtlichste und selbsterklärende Regelung: Bei einem bevorstehenden oder bereits begonnenen Krieg gegen Deutschland gilt die Bestimmung im Grundgesetz: Wenn das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht, kann der Bundestag mit Zweidrittelmehrheit den Verteidigungsfall feststellen, wie Artikel 115a der Verfassung festlegt. Zusätzlich ist die Zustimmung des Bundesrates erforderlich – allerdings sieht der Grundgesetzartikel auch Ausnahmeregelungen für den (ja nicht unwahrscheinlichen) Fall vor, dass dieses Verfahren nicht eingehalten werden kann.
Mit der Erklärung des Verteidigungsfalls treten mehr oder weniger automatisch die Notstandsgesetze in Kraft, die für diesen Fall vorgesehen sind – vom Übergang der Kommandogewalt über die Streitkräfte auf den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin bis zu Eingriffen des Bundes in die Landesverwaltungen. Aber auch der Zugriff des Staates auf die Wirtschaft oder die Arbeitsleistung einzelner Bürger wird möglich. Nicht zuletzt tritt die ausgesetzte Wehrpflicht für Männer automatisch wieder in Kraft.
• Spannungsfall
Ebenfalls mit Zweidrittelmehrheit kann der Bundestag nach Artikel 80a des Grundgesetzes den so genannten Spannungsfall feststellen. Er gilt als Vorstufe des Verteidigungsfalles und richtet sich nach vorherrschender juristischer Meinung auf eine außenpolitisch bedingte Krisenlage, also nicht zum Beispiel auf innere Unruhen.
Auch im Spannungsfall wird die Wehrpflicht automatisch reaktiviert, zudem treten Teile der Notstandsverfassung in Kraft – und die Bundeswehr erhält mehr Handlungsmöglichkeiten im Inland. (Aus diesem Grund gab es in den vergangenen Wochen auch nach den zahlreichen Drohnen-Vorfällen den Vorschlag, den Spannungsfall auszurufen.)
• Bündnisfall
Der Grundgesetzartikel 80a regelt im Absatz 3 auch den sogenannten Bündnisfall. Die Bestimmung sieht vor, dass Notstandsgesetze angewandt werden können, wenn ein Beschluss von einem internationalen Organ im Rahmen eines Bündnisvertrages mit Zustimmung der Bundesregierung gefasst
wird. Bei der Ausrufung des Bündnisfalles hat der Bundestag formal kein Mitspracherecht. Das Parlament kann in diesem Fall aber die Anwendung der Notstandsgesetze stoppen; dafür ist allerdings eine (einfache) Mehrheit aller Abgeordneten erforderlich, die so genannte Kanzlermehrheit.
Als die Regelung 1968 in die Verfassung kam, hatte sie nur für Beschlüsse im Rahmen der NATO Bedeutung. Allerdings hatte der Bundestags-Rechtsausschuss schon schon damals vorhergesehen: Zu denken wäre jedoch nicht nur an Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der NATO, sondern auch in etwaigen ähnlichen Verteidigungsbündnissen der Zukunft.
• Zustimmungsfall
Auch der bislang öffentlich wenig bekannte Zustimmungsfall ist im Grundgesetzartikel 80a definiert. Danach kann der Bundestag unterhalb der Ebene des Spannungsfalls mit einfacher Mehrheit einzelne Bestimmungen der Notstandsgesetze in Kraft setzen. Das gilt nicht für alle diese Vorschriften – zum Beispiel nicht für Arbeitsverpflichtungen für die Zivilbevölkerung, für die eine
Zweidrittelmehrheit nötig ist.
Dagegen reicht für Bestimmungen zum Beispiel des Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetzes in diesem Fall die einfache Mehrheit aus, einschließlich der darin vorgesehen Anordnung von
Behörden, den Aufenthaltsort nicht zu verlassen. Auch das Verkehrssicherstellungsgesetz mit Regelungen, um die für Zwecke
der Verteidigung erforderlichen lebenswichtigen Verkehrsleistungen, insbesondere zur Versorgung der Zivilbevölkerung und der Streitkräfte, sicherzustellen könnte auf diese Weise in Kraft gesetzt werden.
(Offenlegung: Ich bin kein Jurist und habe mir deshalb für diese Erläuterung juristisches Fachwissen von einem Kenner geholt: Dieter Weingärtner war bis 2018 Leiter der Rechtsabteilung im BMVg)
(Archivbild März 2024: Feldjäger bei der Übung Allied Spirit 24 auf dem US-Übungsplatz Hohenfels in Bayern – U.S. Army National Guard photo by Staff Sgt. Justin Hough)
Hallo Hr. wiegold,
Danke für diese griffigen Definitionen. Das kann man bei Bedarf super verlinken.
MfG
Sven
Der wahrscheinlichste Fall dürfte ja 115a Abs. 4 sein, nach dem der Bundespräsident den eingetretenen Verteidigungsfall einfach verkündet, da es wohl sehr unwahrscheinlich ist, dass der Bundestag im Augenblick des Angriffs mit Zweidrittelmehrheit den V-Fall feststellen kann.
Als fünften und noch weniger bekannten fall gibt es den Bereitschaftsfall, nach §48 WPflG. Dieser kann von der BReg (wohl als Kollegialorgan) angeordnet werden ohne Mitwirkung des BT. KI sagt:
„Die Anordnung des Bereitschaftsdienstes ist ein politischer Ermessensakt der Bundesregierung.
Keine gesetzlichen Voraussetzungen: Die Anordnung ist nicht von bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen abhängig, wie dem Spannungs- oder Verteidigungsfall, und unterliegt lediglich der parlamentarischen Rechenschaftspflicht.“
[„KI sagt“ ist keine Quelle, und so was findet hier nicht statt.
Erst recht nicht, wenn man auch dieses Blog dazu zitieren könnte. Ich habe nämlich mal das Verteidigungsministerium gefragt, das ich an dieser Stelle für zuverlässiger halte als irgendeine beliebige und noch dazu ungenannte KI:
Der Bereitschaftsfall liegt vor, wenn von der Bundesregierung Wehrübungen als Bereitschaftsdienst gemäß § 6 Absatz 6 des Wehrpflichtgesetzes angeordnet worden sind.
Das setzt grundsätzlich eine relativ spät anzusiedelnde Stufe einer außenpolitische Krisenlage voraus, d.h. einer Phase steigender internationaler Spannungen, die den bestehenden Zustand soweit stört, dass besondere Maßnahmen zu ihrer Bewältigung erforderlich werden, ohne dass schon der Spannungs- oder Verteidigungsfall eingetreten ist.
Für diesen Fall sind zusätzliche Erleichterungen und Beschleunigungen für das Musterungs- und Einberufungsverfahren vorgesehen.
Die Ermächtigung der Bundesregierung zur Anordnung des Bereitschaftsdienstes ist von keiner im Gesetz formulierten Voraussetzung, auch nicht vom Spannungsfall, abhängig.
Es handelt sich nicht um einen Akt der Rechtsetzung, sondern um einen Regierungsakt, der nur auf der Einschätzung einer politischen Situation beruht und für den die Bundesregierung lediglich parlamentarisch verantwortlich ist.
Die Bundesregierung handelt insofern nur nach ihrem politischen Ermessen. Es handelt sich hierbei nicht um den Einsatz bewaffneter Streitkräfte.
https://augengeradeaus.net/2021/11/die-bundeswehr-und-ihre-reserve-jetzt-neu-mit-kundenbindung/
T.W.]
Danke für die sehr gute Übersicht!
Zusätzlich ist noch folgender Fall interessant, den mit Sicherheit 1/3 der Bundesbürger nicht kennen:
Die EU-Beistandsklausel laut Artikel 42 Absatz 7 im Vertrag über die Europäische Union (EUV).
[Das wäre ja der Bündnisfall; deshalb auch da der Hinweis auf die bereits 1968 getroffene Aussage aus dem Parlament, dass es eben auch was anderes als die NATO geben könnte. T.W.]
Klasse! Vielen Dank dafür. Es ist doch immer ein gutes Gefühl, Bescheid zu wissen. Und eine Quelle zu haben, auf die man sich berufen kann.
Super, danke für das Erklärstück! Aber selbst im Bündnisfall wurden die Notstandsgesetze nie angewendet?
[Der Bündnisfall wurde ja bislang nur 1x ausgerufen, nach 9/11 – und warum hätten da in D die Notstandsgesetze angewandt werden sollen? T.W.]
Wenn die Politik klug wäre, dann hätte sie den Spannungsfall schon nach dem 24. Februar 2022 ausgerufen, weil die außenpolitische Spannungslage liegt ja vor. Auch das Behördenchaos bei der Drohnen-Abwehr könnte durch die Erklärung des Spannungsfalles beendet werden & die Bundeswehr in ganz Deutschland die Drohnenbekämpfung übernehmen & wir hätten wieder die alte Wehrpflicht. Allerdings nachdem 1/3 der Wähler bei der letzten Bundestagswahl für Putinhörige Parteien gestimmt haben, ist eine 2/3 Mehrheit im Bundestag dafür fraglich.
In den Begriffen fehlt mir nur der Hinweis, dass die Wehrpflicht durch einfaches Gesetz – also ohne 2/3 Mehrheit im Bundestag – wieder eingeführt werden kann. Denn in den letzten Wochen gab es Medien, die den Verteidigungsfall & die Wiedereinführung der alten Wehrpflicht durcheinander geworfen haben und behauptet haben, der Bund könnte die Wehrpflicht nur mit 2/3 Mehrheit im Bundestag wieder einführen. Dies ist falsch. Der Bund kann eine Wehrpflicht, egal ob die alte oder eine neue Wehrpflicht mit einfacher Mehrheit im Bundestag beschließen(der Bundesrat hätte nur ein Einspruchsrecht, was der Bundestag überstimmen kann). Nur wenn der Bundestag den Spannungsfall oder den Verteidigungsfall mit 2/3 Mehrheit erklärt & Zustimmung des Bundesrats für Verteidigungsfall, tritt die alte Wehrpflicht automatisch wieder in Kraft, ohne extra Entscheidung über Wehrpflicht. Es gibt also drei verschiedene Wege zur Wehrpflicht!
Eine wirklich tiefgehende Erklärung, was in den einzelnen Fällen passiert und welche Maßnahmen ausgelöst werden, findet sich auch im Buch „Deutschland im Ernstfall“.
Es mag banal klingen, aber ich möchte dennoch darauf hinweisen, dass eine Verteidigung auch ohne formalen Verteidigungsfall möglich ist.
Wenn das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird, darf die Bundeswehr direkt zurückschießen. Dafür ist kein formaler Verteidigungsfall und keine Zweidrittelmehrheit im Bundestag erforderlich.
Um Missverständnisse zu vermeiden, könnte man also den empirischen Verteidigungsfall vom formalen Verteidigungsfall unterscheiden.
Prägnante Erklärung mit Angabe der qualifizierten Quelle. So wünscht man sich das.
Nach den Erklärungen reicht für den Bündnisfall also ein Beschluss der Regierung ohne den Bundestag.
Da dies z.B. via Telefonkonferenz sehr schnell gehen kann gehe ich mal davon aus das im Falle überraschender, erschreckender Entwicklungen zuerst der Bündnisfall ausgerufen wird. Der Verteidigungsminister ist da Oberbefehlshaber und setzt die Einheiten x,y und z nach a-Dorf und b-Stadt in Marsch.
Der Verteidigungsfall kommt dann im Extremfall ( Parlamentsferien ) deutlich später dazu.
In den Erklärungen oben werden aber Sonderregeln für wahrscheinlich auch einen solchen Fall genannt. Könnte also da schneller gehen…
@Der Realist
„Die EU-Beistandsklausel laut Artikel 42 Absatz 7 im Vertrag über die Europäische Union (EUV).“
Wie weitgehend der Art. 42, 7 EUV tatsächlich ist ist unter Völkerrechtlern umstritten. Dem Wortlaut gemäß wären alle zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen also käme man da mit einem billigen Beileidstweet auf X nicht davon.
Der wissenschaftlieche Dienst des BT sieht dies allerdings anders und stellt in den Folgen den 42,7 dem NATO Art. 5 gleich:
https://www.bundestag.de/resource/blob/396620/0a70a7885e83aca60333593f753ccbbf/kollektiver-beistand-in-der-eu-data.pdf
In der Arbeit von Sebastian Lang, p. 22 f.
https://epub.jku.at/obvulihs/download/pdf/9667867
@TW
Wenn Sie in Google u.a. suchen wird regelmäßig auch eine KI-generierte Antwort ausgeworfen.
[Eine Quelle ist eine Quelle, und „die KI sagt“ ist keine Quelle. Wenn wir uns darauf nicht mehr verständigen können, dann lassen Sie es bitte. T.W.]
@Closius
In wie weit ein Angriff auf das Staatsgebiet der Ukraine einer auf das Staatsgebiet Deutschlands sein soll erschließt sich mir nicht, und das wäre Voraussetzung für die Feststellung des Spannungsfalles (bzw. „ein unmittelbar bevorstehender Angriff“ -Wiki sagt: außenpolitische Konfliktsituation, die mit großer/erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einem bewaffneten Angriff führt). Davon sind wir immer noch sehr weit entfernt.
In wie weit man Drohnenüberflüge, Cyberangriffe u.a. hybride Aktionen als (bewaffneten) Angriff werten kann und tatsächlich auch politisch so bewertet mit den daraus erwachsenden Konsequenzen obliegt der Politik sollte aber nicht im Alleingang erfolgen.
@Christopher Paun, das eine ist die Praxis für die Soldaten vor Ort. Wobei auch für die formale Feststellung des Verteidigungsfalls gibt es eine Aufgangregel in Absatz 4 von Artikel 115a. Sobald die erste Bombe im Bundesgebiet landet außerhalb einer Plenarsitzung vom Bundestag gilt der Verteidigungsfall als festgestellt und wird asap nachträglich vom Bundespräsidenten verkündet.
@Apollo11 Für den Bündnisfall reicht nur die Feststellung durch das Bündnis aus. Wobei die BR bei der Feststellung nicht dagegen gestimmt haben darf. Einen weiteren eigenen Beschluss der BR braucht es nicht.
@Apollo 11
„Der Verteidigungsminister ist da Oberbefehlshaber und setzt die Einheiten x,y und z nach a-Dorf und b-Stadt in Marsch.“
Nun, gem. Wiki hebt die Feststellung des Bündnisfalles den Parlamentsvorbehalt nicht auf, das hätte mich auch gewundert. Daher wäre unbedingt zu klären ab wann ein Einsatz der Bw tatsächlich vorliegt:
„Bevor der Bündnisfall eintritt, muss er zunächst einstimmig (d. h. ohne Gegenstimmen) von allen NATO-Mitgliedsstaaten beschlossen werden. Militäreinsätze von US- bzw. deutschen Truppen müssen zusätzlich von den jeweiligen Parlamenten beschlossen werden.“
https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCndnisfall
Da ein Einsatz ja einen zeitlichen Vorlauf hat sollte es möglich sein die Meinung des BT hierzu einzuholen, die meisten Abstimmungen werden zeitlich parallel ablaufen.
Als Ergänzung zum Thema: Sachstand-Publikation der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages – »Das Notstandsrecht im Lichte des Krieges in der Ukraine« (WD 2 – 3000 – 004/23)
https://www.bundestag.de/resource/blob/948530/WD-2-004-23-pdf.pdf
@ T.W.
Ja, aber die Art des Beistands ist nicht gleich.
Bei einem Angriff auf ein EU Land ist jedes Land verpflichtet, zu unterstützen. Es gibt keine Ausnahme.
Aber anders als bei der NATO muss es keine militärische Hilfe sein.
@Der Realist
Auch beim Art. 5 gibt es keinen Automatismus bzgl. eines (bewaffneten) militärischen Beistands. Auch hier genügt ein Fax des Bedauerns um der Bündnispflicht den Buchstaben gemäß nachzukommen.
@Der Realist:
Wieso „anders als bei der NATO“? Bei der NATO ist Artikel 5 nur darin klar zu verstehen, dass ein Angriff auf ein Mitglied, als Angriff auf alle Mitglieder gewertet wird. Wie die Reaktion aussieht, ist da weniger eindeutig formuliert:
Das steht etwas von Waffengewalt. Stimmt. Aber „Maßnahmen, einschließlich“ heißt ja gerade dem Wortlaut nach nicht, dass hier vor allem militärische Schritte unternommen werden. Man muss die Schritte auch noch für „erforderlich“ erachten.
Wenn also die hohe Pforte in Person von Erdoğan im Falle eines spekulativen Angriffs eines Drittstaats auf Griechenland nur eine lauwarme Bedauernsdepesche als „Beistand“ für erforderlich und ausreichend hält, dann ist das eben so.
Erstmal Danke für die Definitionen – immer gut die griffbereit zu haben.
Was in den Kommentaren auffällt ist, dass diese wieder sehr deutsch ins Akademische abdriften.
Bsp.: „Bevor der Bündnisfall eintritt, muss er zunächst einstimmig (d. h. ohne Gegenstimmen) von allen NATO-Mitgliedsstaaten beschlossen werden. Militäreinsätze von US- bzw. deutschen Truppen müssen zusätzlich von den jeweiligen Parlamenten beschlossen werden.“
Das ist natürlich komplett richtig, ebenso die Feststellung, dass der Bündnisfall festgestellt und in gewisser Form bestätigt werden muss.
Nur, wie sieht das in der Realität aus? Sollte – was wir alle nicht hoffen – es tatsächlich zum militärischen Konflikt zwischen Russland und der NATO kommen sind zwei Szenarien denkbar:
1. Kompletter Angriff auf die NATO-Infrastruktur Osteuropas sowie der großen Luftwaffenstützpunkte und Häfen in Schlagdistanz. Also auch in Deutschland, der Türkei, UK usw. In diesem Falle ist jeder Diskussion ob und wie das der Bündnisfall ist komplett hinfällig und reine Formsache (auch wenn ich davon ausgehe, dass einige Leute selbst dann noch vorm Reichstag stehen und sagen „der Putin will doch nur Frieden“).
2. Lokaler Angriff auf einen der baltischen Staaten mit dem Ziel die NATO zu spalten und unsere Bereitschaft zu prüfen. Diese Variante ist deutlich realistischer und final der Grund für die dorthin abgestellten Verbände der größeren Vertragspartner. Denn glaubt wirklich jemand wir ergehen uns in „ist das der Bündnisfall – ja, nein, vielleicht“, wenn die PzBrig45 in Litauen im Kampf steht und ausgebrannte Leoparden neben den Leichen deutscher Soldaten im Wald liegen?
Ich irgendwie nicht (auch da wird es natürlich die Fraktion der Putinversteher und wir-sind-selbst-Schuld-Sager geben).
Warum eigentlich so komplizierte, typisch deutsche Umschreibungen zu den Begriffen? Diese bedürfen eines solchen guten Artikels um die Situationen auseinander halten zu können. Warum nicht etwas ähnliches wie die USA nutzen, die Defense Condition (DEFCON). Ein System zur Messung des Alarmzustands der US-Streitkräfte, das von 5 (normaler Frieden) bis 1 (höchste Kriegsbereitschaft) reicht. Diese Stufen sind auch ohne große Erklärung jedem verständlich.
[Diesen OT verfolgen wir jetzt nicht weiter. T.W.]
@GolfEcho83:
Natürlich gibt es das nicht. Die Klarheit „Am 31. Oktober 2025 überschritten weißrussische und russische Panzerverbände nahe Białystok, Vilnius, Tauragė, Daugavpils und Narwa die Grenzen“ wird man vermutlich auch nicht haben.
Der Krieg ist seitens Russland ja schon lange asymmetrisch und an der Schwelle zur mehr oder minder glaubwürdigen Leugnung des eigenen Handelns. Jedenfalls anfänglich. Und so war es ja auch auf der Krim und im Donbass. Da waren dann plötzlich „Patrioten im Urlaub“ am Werk, wenn sich die eigene Beteiligung gar nicht mehr leugnen ließ.
Je älter (verfassungs-)gesetzliche Bestimmungen sind, umso qualitativ besser sind sie mMn grundsätzlich. Nicht, weil die Juristen, die sie konzipiert haben damals signifikant schlauer gewesen wären. Sondern, weil sie mit sehr viel mehr Überlegung, Ruhe und auch im politischen Bereich mehr Abwägung gestaltet werden durften, auch vor dem Hintergrund, dass man natürlich wollte, dass ein Kanzler irgendeiner Partei selbst mit absoluter Mehrheit nicht einfach mal das Kriegsrecht verhängen können soll. Dass im Ernstfall, wenn es knallt, reagiert werden muss, wussten die Väter und Mütter dieser Verfassungsartikel auch. Und die Feststellung des Verteidigungsfalls funktioniert selbstverständlich auch nachträglich. Dies dürfte sogar denklogisch die Regel sein. Weil der Gegner ja sicherlich kaum auf einen Bundestagsbeschluss wartet, bis er einmarschiert. Oder Drohnen und Raketen schickt. Oder Umspannwerke, Trinkwasserversorgung und Brücken sabotiert.
@T.W: Zur Notstandsfrage. Nicht dass ich das beurteilen könnte. Mein Gedanke und die Frage zielte in Richtung des Vorfalls bei der Feldjägerübung. Wieviel bewährtes Vorgehen und Wissen ist seit dem kalten Krieg – jetzt schon – verloren gegangen?
Hinzu: Ich meine mich zu erinnern, Notstandsgesetze sind politisch ein rotes Tuch. Wurde das je beübt? Kennt jede Behörde ihre angedachte Rolle? Kennt jeder einzelne mit direktem/indirektem Bezug zu den Behörden und Organen seine Rolle und Pflichten?
Oder brauchst da wieder ne Schießerei bis Bedarf erkannt? Ich kann nur als „Hobbyjurist“ im Nachgang auf ihr Erklärstück Notstandsgesetze überfliegen. Und jetzt hab ich echt Fragen ?!
Den Zustimmungsfall findet man an folgender Stelle im GG in Art 80a Abs. 1:
Ist in diesem Grundgesetz oder in einem Bundesgesetz über die Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung bestimmt, daß Rechtsvorschriften nur nach Maßgabe dieses Artikels angewandt werden dürfen, so ist die Anwendung außer im Verteidigungsfalle nur zulässig, wenn der Bundestag den Eintritt des Spannungsfalles festgestellt ODER WENN ER DER ANWENDUNG BESONDERS ZUGESTIMMT HAT.
Die Feststellung des Spannungsfalles triggert das ganze also automatisch, dagegen kann es auch gesondert zugestimmt werden.
[Ja, deshalb ja Zustimmungsfall. Sonst wäre es ja der Spannungsfall, s.o. Oder was wollen Sie eigentlich sagen? T.W.]
@AOR
Die Notstandsgesetze wurden am 30. Mai 1968 mit 384 Stimmen angenommen, 100 stimmberechtigte Abgeordnete votierten dagegen.
In Sorge vor der Rückkehr zu einem autoritären Machtstaat opponierten vor allem Gewerkschaften, FDP, das Kuratorium „Notstand der Demokratie“ und besonders die Westdeutsche Studentenbewegung der 1960er Jahre mit SDS und LSD gegen die auf parlamentarische Weise nicht verhinderbaren Pläne.
Es war der letzte Anstoß zur Etablierung außerparlamentarischer (APO) Straßenproteste der studentischen Bewegung.
Zu Ihrer Frage was gewusst wird, …, mit ziemlicher Sicherheit wenig bis nichts.
Was würde geübt? Sehr viel. Früher.
Solange es noch NATO-Stabsrahmenübungen WINTEX/CIMEX gab (bis 1989 im Zweijahres-Rhythmus ), war der Notstand regelmäßig als „Einstieg“ Teil der Übungsanlage. Die zivile Beteiligung vollzog sich von der Bundesregierung bis hinunter auf die kommunale Ebene einzelner Bürgermeister im jeweiligen ÜbR, die dann auch persönlich in Erscheinung traten.
@AoR, zumindest Teile der Notstandsgesetze wurden erst dieses Jahr geübt. Als ein Teil von Red Storm Bravo wurde dieses Jahr in Hamburg von der Agentur für Arbeit das Arbeitssicherstellungsgesetz durchgespielt.
@KPK: WINTEX/CIMEX 1989, also wenn ich schon zu jung bin, als das ich mich erinnern könnte, …, ganz großer Üb- und Sensibilisierungsbedarf. Pensionierte Polizisten Ihrer Generation erzählen mir jüngst, da hat leibhaftig der General und/oder GeZi die Blaulichtorganisationen nochmal abtelefoniert.
Gerade bei heutiger Informationsflut wäre das ein Aspekt der Kommunikationsstrategie als Teil einer von ihnen beschriebenen Übung, die wohl wieder stattfinden würde.
Die Übung zum Verteidigungsfall waren früher die grossen REFORGER-Manöver. Letzte Übung war 1993. Ab 1994 dann nicht mehr. Da war „die Lage“ aber auch so langsam wirklich entspannt. Nicht nur gefühlt… Dieses Gefühl hat sich dann aber gezogen und gezogen. Offensichtlich (viel) zu lange…
Kann mich noch an einen Botenbesuch im Bunker in den 1980ern erinnern. Grosses Gewusel vor der Lagekarte ( die Lage war gerade echt übel ). Der Raum voll mit Eichenlaub in Silber & auch Gold. Davon sehr viele Reservisten, oft Lehrer, die alle 2-5 Jahre eine (freiwillige) Reserveübungung machten. Aufgrund der Beförderungen nach Übungen wohl das viele Eichenlaub.
Faszinierend waren die Kisten mit Kartenmaterial in Maßstäben bis runter zum Aussiedlerhof. Der Chef der Landkartenkisten war ein Geografie-Uni-Professor mit Oberst d.R. -Abzeichen. „Wollen Sie mal reinschauen ?“
Das war einerseits sehr gut organisiert, andererseits aber auch erschreckend. Es gab Symbole für die Lagekarte in der Form von Atompilzen… damals lagerten in der BRD über tausend Atomsprengköpfe. Zur Verwendung meist auf Bundesgebiet.
Heute „nur“ noch kolportiert 20 auf dem Fliegerhorst Büchel. Und das intendierte Ziel liegt nicht mehr auf Bundesgebiet.
Dieser Gewinn nach dem Ende des kalten Krieges ist geblieben…
@Flo: Danke für den Hinweis, das Arbeitssicherstellungsgesetz scheint ja die weitreichendsten Pflichten für jeden einzelnen mitzubringen