Luftangriff von Kundus: BGH-Richter beklagen „Propagandaerfolg der Taliban“
Fast zwölf Jahre nach dem Luftangriff bei Kunduz in Afghanistan, den der damalige Bundeswehr-Kommandeur vor Ort befohlen hatte, haben sich Richter des (deutschen) Bundesgerichtshofs zu dem Geschehen öffentlich zu Wort gemeldet. Die Zahl der zivilen Opfer bei der Bombardierung zweier von Taliban entführter Tanklaster im am 4. September 2009 sei in der öffentlichen Darstellung übertrieben und ein Propagandaerfolg der Taliban, erklärten die Juristen.
Der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof (BGH) Ullrich Herrmann und der Richter Harald Reiter waren im Oktober 2016 am damaligen Urteil des BGH zu dem Vorfall beteiligt, in dem das Gericht Ansprüche von Afghanen auf Schadenersatz nach der Bombardierung und dem Tod ihrer Angehörigen zurückgewiesen hatte. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Verfassungsbeschwerde dagegen im Dezember vergangenen Jahres abgelehnt.
Die strafrechtlichen Vorwürfe gegen den Kommandeur, den damaligen Oberst Georg Klein, hatte das Verfassungsgericht bereits 2015 als letzte deutsche Instanz nicht zugelassen. Der Europäische Gerichtshof hatte zudem im Februar dieses Jahres eine Klage wegen Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention zurückgewiesen.
Herrmann und Reiter äußerten sich im Leserforum in der jüngsten Ausgabe der Fachzeitschrift Neue Juristische Wochenschrift (NJW). Deren Chefredakteur Tobias Freudenberg machte den Beitrag am (heutigen) Donnerstag via Twitter publik und bezeichnete ihn als außergewöhnlichen Leserbrief:
Die beiden Richter begründen ihre Äußerungen mehr als ein Jahrzehnt nach dem Vorfall damit, dass die Sache nunmehr durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts abgeschlossen sei und sie sich damit inhaltlich dazu äußern könnten, nachdem sie am BGH zuvor selbst damit befasst waren.
In der Öffentlichkeit, so beklagen Hermann und Reiter, habe sich das Bild festgesetzt, dass auf Befehl des deutschen Kommandeurs ohne Vorwarnung eine Menschenmenge bombardiert worden [sei], wobei über 100 Personen ums Leben gekommen seien, darunter viele Zivilisten und Kinder. Diese Darstellung sei falsch, vor allem im Hinblick auf die Opferzahl, und beruht letztlich wohl auf einem Propagandaerfolg der Taliban.
Dem III. Zivilsenat des BGH (KORREKTUR: nicht der II), der 2016 die Schadenersatzansprüche zurückgewiesen hatte, sei dagegen der korrekte Sachverhalt zuverlässig bekannt, schreiben die beiden Richter. Sie berufen sich dabei vor allem auf Infrarotaufnahmen der beiden US-Kampfflugzeuge, die auf Anordnung Kleins eine Bombe auf die Tanklaster abgeworfen hatten: Diese Aufnahmen sind in öffentlicher Verhandlung des Landgerichts Bonn vorgeführt und ausgewertet worden. Das Bonner Gericht hatte im Dezember 2013 als erste Instanz die Schadenersatzklagen von Hinterbliebenen abgelehnt.
Allerdings bleibt unklar, ob Herrmann und Reiter bei ihren Äußerungen auf Informationen zurückgreifen, die der Öffentlichkeit nicht bekannt wurden. So hatte die Bundesanwaltschaft im Zusammenhang mit ihrer Entscheidung bereits im April 2010, die strafrechtlichen Ermittlungen gegen den Oberst einzustellen, dazu erklärt: Das der Entscheidung zugrunde liegende militärische Tatsachenmaterial ist zum überwiegenden Teil als geheime Verschlusssache eingestuft.
Einzelne Details, die die BGH-Richter in ihrem Leserbrief nennen, fanden sich – soweit ich das bislang feststellen konnte – nicht in veröffentlichten Informationen zu diesem Vorfall. Insbesondere die Einzelheit, dass die US-Jets in nur 360 m Höhe (!) über der Szenerie kreisten, war in diesem Detaillierungsgrad so nicht öffentlich bekannt. (KORREKTUR: das wurde in einem Gerichtsverfahren öffentlich bekannt, siehe Nachtrag unten) Aufgrund des Videomaterials der beiden Maschinen, so heißt es in dem Leserbrief, sei bekannt, dass sich vor den Bombenabwürfen noch 30 bis 40 Personen im Bereich der Tankfahrzeuge [aufhielten], und dies waren sicherlich keine Zivilisten mehr, geschweige denn Kinder.
Die Einstellungsverfügung der Bundesanwaltschaft, auf die sich Herrmann und Reiter auch ausdrücklich beziehen, ist an der Stelle – zumindest in der offenen Version – vorsichtiger:
Die Anzahl der durch den Luftangriff getöteten und verletzten Menschen lässt sich nicht mehr mit endgültiger Sicherheit aufklären. Gleiches gilt für die Frage, bei wie vielen Opfern es sich um Taliban oder um Zivilisten handelt.
1. Die Auswertung des Videomaterials, das von den Luftfahrzeugen kurz vor dem Luftangriff aufgenommen wurde, führt mit den dem Generalbundesanwalt zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten zu der Feststellung, dass zum Zeitpunkt des Luftangriffs ungefähr 30 bis 50 Personen auf der Sandbank zu erkennen sind, von denen sich mehr als 10 Personen nach den Einschlägen rasch in Richtung der Ufer bewegten. Es besteht allerdings die Möglichkeit, dass fliehende Personen so schwer verletzt wurden, dass sie später verstarben. Außerdem könnten sich Personen in oder unter den Tanklastzügen oder in den Schleppfahrzeugen aufgehalten haben, die auf den Videobildern
nicht zu erkennen sind. Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch
weitere Personen, die sich außerhalb der Bildaufzeichnung im Wasser oder am Flussufer, jedoch innerhalb des Radius der Waffenwirkung aufhielten, durch die Explosion verletzt oder getötet worden sein könnten, obwohl Oberst Klein ausdrücklich eine Beschränkung der Waffenwirkung auf die Tanklaster und die in deren unmittelbaren Nähe befindlichen Personen befohlen hatte.
Auf den Videoaufzeichnungen ist allerdings zu erkennen, dass sich nach dem
Bombenabwurf Fahrzeuge von den Ufern entfernten, was gegen eine erhebliche Auswirkung der Detonationen auf diese Örtlichkeiten spricht. (…)
Aufgrund der vorliegenden Berichte lässt sich zumindest der Schluss ziehen, dass sowohl Taliban als auch Zivilisten getötet worden
sind, wobei die Zahl der Taliban unter den Opfern deutlich höher gewesen sein dürfte. Eine Anzahl von bis zu 142 Geschädigten ist aufgrund der vorliegenden Videoaufzeichnungen als einzigem objektiven Beweismittel ausgesprochen zweifelhaft. Ein Abgleich der Namen auf den vorhandenen Listen ergibt zudem, dass sich nur ungefähr 50 Personen durchgängig wiederfinden. Eine exakte Bezifferung ist angesichts unterschiedlicher Schreibweisen auch hier nicht möglich. Der Annäherungswert von etwa 50 Geschädigten lässt sich allerdings mit den Videobildern, den Angaben des Informanten und den am
Tatort verbliebenen Spuren in Einklang bringen, so dass eine gewisse Wahr-
scheinlichkeit dafür besteht, dass insgesamt von etwa 50 Toten und Verletzten auszugehen ist. Eine weitere Aufklärung war und ist nicht möglich, weil der Einsatz moderner gerichtsmedizinischer Untersuchungen einschließlich notwendiger Exhumierungen und DNA-Analysen zur Überprüfung von Zeugenangaben angesichts der gesellschaftlichen und religiösen Auffassungen in der afghanischen Bevölkerung ausgeschlossen ist.
In den Berichten aus Afghanistan, die auf Angaben von Bewohnern umliegender Orte und von Hinterbliebenen beruhen, ist dagegen regelmäßig von mehr als 100 getöteten Afghanen und darunter einer hohen Zahl von Zivilisten die Rede.
Die beiden BGH-Richter machen in ihrem Leserbrief am Schluss deutlich, was sie zu ihrer Wortmeldung bewogen hat: Es ist sehr ärgerlich, dass diese öffentlich zugänglichen Quellen, die ein zuverlässiges Bild vom Sachverhalt vermitteln, von der Allgemeinpresse ungenutzt blieben. Darüber hinaus stehe der damalige Kommandeur Klein weiterhin in einem völlig falschen Licht.
Nachtrag (danke für den Leserhinweis): Ein Bericht von der Vorführung des Videos in der Verhandlung vor dem Landgericht Bonn:
Kampfjet-Videos im Kundus-Prozess: Wer ist Zivilist und wer Kämpfer?
(Archivbild: Das Wrack eines der am 4. September 2009 durch einen Luftangriff zerstörten Tanklaster, aufgenommen im November 2011 – BRFBlake, Wrecks of the fuel tankers in the Kunduz River 1, CC BY-SA 3.0; Screenshot aus der NJW mit freundlicher Genehmigung der Redaktion)
Milliway sagt:
08.08.2021 um 11:18 Uhr
„…So besuchte am 5. September 2009 der ISAF-Oberbefehlshaber General McChrystal den Ort des Geschehens und besuchte verletze Zivilisten in Krankenhaus. Anschließend erklärt er: „Es sei klar, dass einige Zivilisten zu Schaden gekommen sind.“…“
Genau darin besteht ja das große Versagen des Oberst Klein: Er hat auf den COM ISAF – seinen Boss – gewartet bis er sich an den Anschlagsort ‚getraut‘ hat. Und zu diesem Zeitpunkt hatten die Taliban bereits die Initiative wieder in der Hand. Ein verwundeter Talibankämpfer im Krankenhaus konnte dann einfach als ‚verletzter Zivilist‘ verkauft werden.
Hätte man den Anschlagsort unverzüglich gesichert und alles dokumentiert, dann hätte man sich dieses StratCom Desaster von Anfang an ersparen können. Stattdessen blieb die Bw-Truppe im Lager hocken und wartete darauf, dass die Taliban ihren Spin aus der Geschichte drehen. Unglaublich naiv und unprofessionell! – Man stelle sich zum Vergleich einfach mal vor die Polizei würde einen Tatort erst mal 12 Stunden lang den Tätern überlassen, bevor sie zu ermitteln beginnt…..
@AoR
„Die Zeit um den Kunduzvorfall war dadurch gekennzeichnet, dass die Taleban immer frecher – auch ggü der BW – wurden. (S.Karfreitaggefecht)“
Natürlich sind die Talibs mit ihren militärischen Taktiken zu diesem Zeitpunkt immer „frecher“ geworden, aber ohne die zustimmende Hoheit über die Zivilisten vor Ort geniessen zu können, und der Herr Oberst ist genau auf diese Provokation mit den falschen militärischen Mitteln aus gekränkter Eitelkeit darauf eingestiegen („da haun wa mal richtig druff“), statt auf die taktische Frechheiten der Talibs mit einer ebensolchen militärischen Frechheit (mit dem Ziel: Zeit erkaufen und die Zivilisten von Talibs aufzuklären und zu trennen) zu antworten, und denen 10 neue Tanker zum abpumpen von Benzin hinterher zu schicken und die die ganze Nacht lang damit zu beschäftigen.
@ AOR
„@Johannes Ram: @Milliway bringt es auf den Punkt mit „nichts zu finden“. Wann erfuhr die Öffentlichkeit zum ersten Mal davon? Ende 2013! Wo erfuhr die breite (SCNR) Öffentlichkeit davon? In der TAZ.“
Das ist nicht korrekt. Eine 20 sekündige google-Rechereche brachte folgendes Ergebnis:
Die „Bild“ veröffentlichte die Videos am 26.11.09. Ironischerweise behauptete die Bild auch es seien 142 Personen getötet worden. Hier ist erneut eine selbstkritische Auseinandersetzung notwendig. Zum einen natürlich mit der katastrophalen NATO/ISAF/ BW Öffentlichkeitsarbeit, aber auch sehr fraglichen journalistischen Standards, da man zwar die bewegten Bilder leakt, aber nicht im Geringsten auswertet. Und letztendlich auch mit allen Personen, die nun völlig überrascht sind, dass das entsprechende Videomaterial seit November 2009 offen erhältlich war.
@Johannes Ram: Das Video von BILD war auch hier bekannt. Da erkenne ich nicht viel, allein wegen der Auflösung und dem Sprengradius, welcher weit über den Ausschnitt der Kamera hinausgeht.
Den Richtern muss das von @Milliway bemannte Material vorgelegen haben.
@fortressonathehill
„Die deutsche Arroganz beginnt dort, wo zwei Richter am BGH Wertungen zu einem Vorfall mit nicht begründbaren Tatsachen (12-13)verfügen und dabei die Berichte einer extra eingesetzten Kommission der afghanischen Regierung in Tatablauf und in den Opferzahlen der Lüge strafen.“
Nun wird es aber wirklich albern. Offenbar ist Ihnen entgangen, dass in dem Artikel die Rede von SPUREN für nur 12-13 getöteten Personen ist.
Das bedeutet nicht, dass die Richter von insgesamt 12-13 Toten durch den Luftschlag ausgehen.
Es bedeutet lediglich, dass durch die Spurensicherung 12-13 Tote eindeutig nachgewiesen werden konnten.
Außerdem sind diese Spuren (vermutlich DNA), die festgestellt wurden, so ziemlich die einzigen begründbaren Tatsachen in diesem Fall.
Sie sollten wesentlich vorsichtiger damit sein das Wort Lüge in den Mund zu nehmen.
„[…] und indem die arrogante Floskel vom gemieteten Afgahnen, der nicht gekauft werden kann, eingestreut wird […]“
Ich erkenne in dem Spruch keine Arroganz.
Ist es etwa weniger Arrogant zu sagen, dass man sich die Loyalität eines Afghanen kaufen kann?
Denn das lese ich in Ihrem Vorschlag mit den 10 Tanklastern, die man an die Bevölkerung hätte ausgegeben sollen.
Man kann von dem Spruch halten was man möchte, aber aktuell sehen wir rapide Raumgewinne durch die Taliban, die mit hunderten wenn nicht gar tausenden Desertationen aus ANA und ANP einhergehen.
Ohne jeden Zweifel waren die Verluste innerhalb der ANA und ANP größer als bei den westlichen Streitkräften. Aber jetzt, wo keine Löhne mehr fließen und sich die Aussichten verschlechtern, wechseln viele Afghanen die Seiten.
„10 weitere Tanker + 2 Kompanien Pioniere anfordern können, die sowohl die ortsansässigen Talibs und Zivilisten trennend am Boden durch weitere Benzingeschenke gebunden hätten [..]“
Sie beharren hier auf Ihrer subjektiven Wahrnehmung des Vorfalls.
Dabei kann niemand glaubhaft belegen, dass Zivilisten am Ort des Luftschlags waren um Benzin zu plündern.
Es ist lediglich der Versuch zu erklären warum sich zum Zeitpunkt des Luftschlags möglicherweise Zivilisten dort befunden haben könnten.
Deshalb unterstelle ich Ihnen auch die afghanische Zivilbevölkerung als naiv darzustellen.
-Die Tanklaster waren gestohlen mit den Fahrern als Geiseln
-Befanden sich unter der Kontrolle der Taliban, denen, wie Sie sagen, die örtliche Bevölkerung feindlich gegenüber stand. Und trotzdem betteln sie bei den Taliban um Benzin? Zweifelhaft…
-Sie sind mitten im Fluss stecken geblieben
-Sind für 40 Minuten von Kampfjets in niedriger Flughöhe umkreist worden
-Die Bombardierung fand um 01:49 Ortszeit statt
Was veranlasst Sie angesichts dieser Gegebenheiten nun zu der Annahme, dass sich viele Zivilisten vor Ort befunden haben sollen?
Ist es nicht deutlich realistischer, dass die örtliche Zivilbevölkerung zu der Zeit zuhause geschlafen hat, statt in der Dunkelheit der Nacht durch den Fluss zu waten und die feindlich gesonnenen, bewaffneten Taliban nach Benzin zu fragen?
Ist es nicht realistischer, dass unmittelbar vor dem Luftschlag (fast) ausschließlich Taliban anwesend waren, die versuchten so viel Benzin wie möglich auf kleinere Fahrzeuge umzuladen und weg zu transportieren?
Sie behaupten, dass die afghanische Zivilbevölkerung dermaßen verarmt und verzweifelt ist, dass sie bei Nacht losziehen um bei den feindlichen Taliban um einen Kanister Benzin im Wert von 25€ zu betteln.
Meinen Sie nicht, dass es dann auch im Rahmen des Möglichen wäre, dass vom Luftschlag NICHT betroffene Zivilisten lügen um eine Schadensersatzzahlung in Höhe von 60.000€ zu erhalten?
https://www.dw.com/de/angeh%C3%B6rige-von-kundus-opfern-scheitern-in-karlsruhe/a-55958054
Wäre ich ein verarmter afghanischer Zivilist aus der Gegend, hätte ich in Anbetracht dieser Summen wohl auch einen der getöteten Taliban zu meinem unbewaffneten Sohn erklärt, der ein bisschen Benzin holen wollte.
@fortressonathehill sagt: 08.08.2021 um 14:43 Uhr
„und der Herr Oberst ist genau auf diese Provokation mit den falschen militärischen Mitteln aus gekränkter Eitelkeit darauf eingestiegen“
Wow, dass ist ja jetzt mal heftig. Nicht nur unbelegt, sondern auch noch ehrenrührig.
Wow.
@fortressonathehill
Das Problem Ihrer Einlassungen zu dem Thema beginnt schon in Ihrer Trennschärfe zwischen den Taliban und „der“ afghanischen Zivilbevölkerung. Diese gab es nämlich nicht, die Taliban waren zu diesem Zeitpunkt kein stehendes Heer, Realität war, dass männliche Person XY um 08.00 Uhr Zivilist und um 18.00 Uhr Taliban war, nur um 23.00 Uhr wieder Zivilist zu werden. Die Taliban sind eine Gruppe von Menschen die eine Ideologie teilen und sind daher von außen nicht erkennbar, sie führen auch kein Mitgliedsregister an welchen zweifelsfrei eine Zugehörigkeit nachvollzogen werden kann.
Auch die Trennschärfe zwischen Kind und Erwachsenem gibt es in Afghanistan nicht in diesem Maße wie wir es beispielsweise hier in Deutschland kennen, insbesondere bei den Taliban, wo die „Biologie“ darüber entscheidet wer als Erwachsener gilt und nicht die Geburtsurkunde.
Wer diese, dort herrschenden Zustände, ignoriert, der wird niemals erkennen wie schwierig der Einsatz der Soldaten dort vor Ort war und welche Herausforderungen dort vorlagen. Diese Umstand wird insbesondere in einer breiten deutschen Öffentlichkeit vollkommen verkannt. In diesem Zusammenhang ist auch an die sinnbefreite deutsche Diskussion erinnert, ob und wann ein bewaffneter Gegner flieht und ob und wann er nur einen Stellungswechsel durchführt.
Die späten 2000er Jahre des AFG-Einsatzes der Bundeswehr hatten mehrere Probleme, die im Endeffekt dazu geführt hatten, dass der Kundus-Luftschlag so aufgenommen wurde, wie er aufgenommen wurde.
1. Es ist dem Verteidigungsministerium nicht geglückt (man hatte es auch nicht wirklich probiert) der Öffentlichkeit realistisch zu erklären wie die Lage von Ort ist (Krieg führen nur die anderen, die BW bohrt Brunnen…)
2. Demzufolge hatte man auch nicht den passenden Kräfte- und Fähigkeitsmix vor Ort um flexibel auf jegliche Eskalation der Lage reagieren zu können, bzw. diese bereits im Vorfeld abzuschrecken.
3. Die Bundeswehr hat die Tragweite von Info-Ops unterschätzt. Man hat diese vornehmlich dazu genutzt um der Bevölkerung vor Ort zu erklären wer man ist und was man da will. Was man versäumt hat, ist festzustellen, dass nicht nur die Bundesrepublik Deutschland am Hindukusch verteidigt wird, sondern aus dass das Ansehen der Streitkräfte weltweit und in allen Domänen (dazu zählten damals auch schon das Internet und die aufkommenden sozialen Medien) auf den Prüfstand gestellt wird. Hätte man, wie einige Kommentatoren das richtigerweise anmerken, unmittelbar Beweissicherungsaktionen durchgeführt, hätte man sich viel Ärger, auch von der ISAF-Führung (welche da ihre eigene Agenda verfolgt hat und aus eigenem Interesse den Deutschen auch mal einen Denkzettel verpassen wollte), ersparen können. Aber damit dies gelingen könnte, müssten die Punkte 1 und 2 vorher geklärt gewesen sein. Denn entgegen der Annahmen von vielen Kommentatoren hier, stellen bewaffnete Soldaten nicht per se geeignetes Sicherungspersonal dar (einige stellen in solch einer Situation sogar eine Gefahr dar, insbesondere dann, wenn es nicht im Vorfeld ganz klar definiert wurde, wer wann wo wen verstärkt/ersetzt).
Man muss doch sehr verwundert sein:
Der Brief der beiden RBGH ist in mehr als nur einer Hinsicht mehr als ungewöhnlich: Zum einen, ist es in Justizkreisen sehr selten, dass sich Beteiligte Richter so (fach)öffentlich zu einem Verfahren äußern (die NJW ist die führende Juristische Fachzeitschrift in D). Zum anderen, dass eine solche Form gewählt wird. Der Leserbrief ist nicht etwa vom gesamten Senat, sondern nur von zweien der Beteiligten Richter unterzeichnet. Insbesondere da der Senat die Möglichkeit gehabt hätte per Hinweisbeschluss im Verfahren seine Sicht der Fakten darzustellen.
Was die aufgeworfenen Fakten angeht, muss man auch verwundert sein, denn wie schon erwähnt, ist die Zahl der Opfer keineswegs so eindeutig geklärt, wie es die Autoren darstellen.
Zum Abschluss noch zur Absolutheit, mit der hier eine Deutungshoheit über die Ereignisse eingefordert wird, die so eigentlich unmittelbar nach dem Luftschlag im Strudel von Propaganda und Zweifel verschwand.
Richter am BGH sind zwar keine Halbgötter in Scharlachrot (Richter am BGH tragen Purpur) und „nur“ Teil des Zweitwichtigsten Gerichts der Stadt, haben hier aber scheinbar überlegenes Wissen und überlegenen Willen, der Welt ihre Interpretation mitteilen zu müssen.
Der Brief schreit für mich am Ende die Frage (und man möge mir den folgende Anspielung verzeihen)
“Wollt ihr die Totale Deutungshoheit?“
Dieser Anspruch verwundert massiv.
Seltsame Aktion der Herren Bundesrichter, aber ein willkommener Anlass, diese hoch umstrittene Aktion des heutigen Generals Klein noch mal zu beleuchten. Wieder sehr aufschlussreiche Kommentare hier!
Warum immer noch hoch-rote Gesichter, wie damals auch schon? Weil nmE der damalige Oberst Klein Massnahmen hat durchfuehren lassen, die zwar den nationalen Vorgaben (Hier wohl: „Keine, ich wiederhole: Keine (!) DEU Toten, Klein!“) 1a entsprachen, aber das ISAF-Narrativ war ja gerade kurz vorher von COM ISAF (McChrystal) angepasst worden, so dass Truppensteller-Blut sparen mit allen Mitteln irgendwie deplaziert wirkte.
Die Anzahl / Art der Toten sind in diesem de facto „Communication Fratricide“ also nachrangig. Auch wenn das nie offiziell gesagt wurde: Aus DEU Sicht hat GM Klein alles richtig gemacht, und wenn durch DEU Staatsorgane Menschen getoetet werden, gibt es national eine Untersuchung, ob das nun Scharfschuetzen der Polizei oder PRT-Kommandeure betrifft. Folgerichtig keine Veraenderung im Anstellwinkel B6+ fuer den braven Soldaten Klein, der kurz nach der Aktion auch noch mit unbewegter Miene den gross inszenierten Anschiss durch COM ISAF ueber sich ergehen hatte lassen . Obwohl es stets und immer noch viele Widersprueche und Ungereimtheiten gab und gibt, hier also nicht alle Register in Sachen vollstaendiger Transparenz gezogen wurden, Klein hat sich stets allein in die Verantwortung gestellt und damit fuer alle anderen ueber und unter ihm das Feuer auf sich gezogen. Fuer die hoechste Fuehrungsebene der DEU Streitkraefte also ein sehr angenehmer, weil hoechst(!) loyaler Offizier.
Aber: Fuer NATO und vor allem DEU ein Lehrstueck dafuer, wie man integrierte Kommunikation vor Ort in AFG, aber auch zu Hause in den Truppensteller-Staaten nicht macht. Die Spannung zwischen offizieller Erzaehlung und tatsaechlichen Handeln, entlang voellig anderer und dazu noch informeller Prioritaeten, war und ist bei diesem Beispiel immer noch so gross, das entsprechend die Diskussions-Wellen hochschlagen.
@ Rechtsverdreher sagt:
10.08.2021 um 8:17 Uhr
Genau das hat mich auch überaus gewundert. Ein überaus schlechtes Beispiel in meinen Augen., was die beiden Richter (und einer davon noch der Vorsitzende) hier geben.
Man stelle sich vor, dass demnächst haufenweise Amtsrichter, Richter am LG, OLG etc ihre Privatmeinung (denn darum handelt es sich hier wohl) zu gerade bearbeiteten Fällen in der Presse kundgeben..
Grober Unfug in meinen Augen. Ich hoffe nicht, dass das Schule macht.
@J10: „Klein hat sich stets allein in die Verantwortung gestellt und damit fuer alle anderen ueber und unter ihm das Feuer auf sich gezogen. Fuer die hoechste Fuehrungsebene der DEU Streitkraefte also ein sehr angenehmer, weil hoechst(!) loyaler Offizier.“
Oh jaa, dennoch stellt sich die Frage, warum die entlastenden Beweise nicht umgehend angebracht und in Teilen veröffentlicht wurden?
War PsyOps in der damaligen SiPo noch kein Thema? Wie würde man heute reagieren?
Ziel muss doch sein, dass im Konflikt mit internationalem Djihadismus aus der viel zitierten „abstrakten Gefahr“ keine „direkte Bedrohung“ wird.
@Landmatrose
Der Fall ist wohl schon ein bischen her… also ein „gerade zu bearbeitender“ Fall ist es nicht gerade. Das wäre auch ein Ablehnungsgrund für die Prozessparteien.
Ich bin durchaus der Meinung, dass man sich da an den USA ein Vorbild nehmen könnte und Richter ein wenig offener mit ihren Rechtsansichten zu rechtskräftigen Vorgängen sein sollten. Es ist noch so ein Überbleibsel aus preußischen Zeiten, die Richterschaft als einen neutral-monolithischen Subsumtionsautomaten zu betrachten, in dem das Individuum keine Rolle spielt. Da sollte man mal realistischer werden.
@ JCR sagt:
11.08.2021 um 12:50 Uhr
Nicht „ gerade zu bearbeitender Fall“, sondern „ zu gerade bearbeiteten Fällen (jüngere Vergangenheit) geschrieben.
Ein Beispiel für den Propagandarefolg der Taliban bzw schlechten Journalismus ist heute die Deutsche Welle, die im Artikel „Bundeswehr Veteranen: Wut über den Fall von Kundus“ einfach schreibt zum Fall Oberst Klein: “ Im September 2009 befahl ein deutscher Offizier einen US Luftangriffbauf einen Öllastwagen, bei dem ungewollt mehr als 100 Zivilisten uns Leben kamen.“ Verlinkt zu einem Artikel, der behauptet, der Angriff forderte rund 100 Tote, überwiegend Zivilisten.
Da nur 30 – 40 Menschen vor dem Bombenabwurf vor Ort war, ein Teil weggelaufen sei und die Afgahnische Regierung von nur Taliban Opfern bzw überwiegend Taliban spricht, belegt dieses Beispiel gut das Bemühen der beiden Richter, gegen diese einseitige n oder bewussten Falschdarstellung vorzugehen.
@ Rechtsverdreher
Ihr Beitrag demonstriert was die Reiter und Herrmann kritisieren. Sie bemängeln nämlich, dass starke Meinungen vertreten werden ohne sich zu informieren oder auch nur oberflächlich zu lesen.
„Was die aufgeworfenen Fakten angeht, muss man auch verwundert sein, denn wie schon erwähnt, ist die Zahl der Opfer keineswegs so eindeutig geklärt, wie es die Autoren darstellen.“
Herrmann und Reiter benennen eben keine eindeutige Anzahl an Opfern. Sie kritisieren jedoch völlig korrekt, dass der 100+ Opfer Narrativ unwahrscheinlich bis abwegig ist. Im Gegensatz zur medialen Rezeption (z.B. Tagesschau und auch hier) steht diese Betrachtung keineswegs im Gegensatz zur Einschätzung des GBA, sondern deckt sich mit dieser. Auch ist Ihre Goebbels-Anspielung der „totalen Deutungshoheit“ wohl genauso geschmacklos wie abwegig. Neben Ihrer bedenklichen Darstellung des deutschen Rechtsstaats wird völlig ignoriert, dass die beiden Richter auf Umstände hinweisen, die in der öffentlichen Rezeption völlig ignoriert wurden, obwohl die Informationen frei verfügbar waren. Dies schreibt auch der Hausherr TW in seiner Korrektur in Bezug auf die Flughöhe der F15s. Das Videomaterial war im Gegensatz zu anderen Behauptungen auch spätestens ab November öffentlich verfügbar.
Der Leserbrief ist schlichtweg die berechtigte Fassungslosigkeit darüber, dass sich wohl absolut niemand in einem dermaßen omnipräsenten Thema für völlig offensichtliche Fakten zu interessieren scheint. Auf Neudeutsch könnte man ihn als Facepalm bezeichnen.