Luftangriff bei Kunduz 2009: Europäischer Gerichtshof sieht keine Verletzung der Menschenrechtskonvention

Für den Luftangriff bei Kunduz in Nordafghanistan im September 2009, bei dem zahlreiche Zivilisten ums Leben kamen, ist dem anordnenden deutschen Offizier keine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention anzulasten.Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wies mit dieser Entscheidung eine Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland ab.

Vor dem Straßburger Gericht hatte ein Afghane geklagt, der bei dem Luftangriff zwei Söhne verloren hatte. Bei dem Luftschlag am 4. September 2009 waren zahlreiche Zivilisten ums Leben gekommen, als sie aus zwei Tanklastern Treibstoff abzapfen wollten, die auf einer Sandbank im Kunduz-Fluss stecken geblieben waren. Die Tankwagen waren von Aufständischen entführt worden, und der damalige Oberst Georg Klein, Kommandeur des Provincial Reconstruction Teams (PRT) Kunduz der internationalen Mission in Afghanistan, hatte einen Angriff mit diesen Tanklastern als rollende Bomben befürchtet und deshalb den Luftangriff angeordnet.

Das am (heutigen) Dienstag veröffentlichte Urteil zieht einen Schlussstrich unter zahlreiche Verfahren, die von Hinterbliebenen der Opfer des Luftangriffs gegen Klein, die Bundeswehr und die Bundesrepublik angestrengt worden waren. Deutsche Instanzen bis hin zum Bundesverfassungsgericht und jetzt der Europäische Gerichtshof entschieden zu Gunsten des deutschen Offiziers und der Bundesrepublik. Dabei ging es sowohl um die strafrechtliche Verantwortung als auch zum zivilrechtliche Entschädigungsforderungen.

Die Bundesanwaltschaft war bereits im April 2010 zu der Einschätzung gekommen, dass das Vorgehen des Offiziers nicht nach dem deutschen Strafrecht, sondern als Kriegshandlung nach Völkerstrafrecht zu bewerten sei und deshalb nicht als Straftat verfolgt werden könne.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stützte sich bei seiner Entscheidung auch auf die in Deutschland bereits abgeschlossenen Verfahren, ebenso auf den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Bundestages. Die Richter kamen einstimmig zu dem Ergebnis, dass keine Verletzung des Artikels 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention und des darin festgelegten Rechts auf Leben vorliege:

In today’s Grand Chamber judgment in the case of Hanan v. Germany (application no. 4871/16) theEuropean Court of Human Rights held, unanimously, that there had been:
no violation of Article 2 (right to life) of the European Convention on Human Rights
The case concerned the investigations carried out following the death of the applicant’s two sons in an airstrike near Kunduz, Afghanistan, ordered by a colonel of the German contingent of the International Security Assistance Force (ISAF) commanded by NATO. (…)
The Court observed that the Federal Prosecutor General had found that Colonel K. had not incurred criminal liability mainly because he had been convinced, at the time of ordering the airstrike, that no civilians had been present at the sand bank. According to the Prosecutor General, Colonel K. had thus not acted with the intent to cause excessive civilian casualties, which would have been required for him to be liable under the relevant provision of the Code of Crimes against International Law. The Prosecutor General had considered that liability under the Criminal Code was also excluded because the lawfulness of the airstrike under international law served as an exculpatory defence. Colonel K. had believed that the armed Taliban fighters who had hijacked the two fuel tankers were members of an organised armed group that was party to the armed conflict and were thus legitimate military targets. The Court noted that the German civilian prosecution authorities had not had legal powers to undertake investigative measures in Afghanistan under the ISAF Status of Forces Agreement, but would have been required to resort to international legal assistance to that end. However, the Federal Prosecutor General had been able to rely on a considerable amount of material concerning the circumstances and the impact of the airstrike.

Unjuristisch gesagt: Wie zuvor schon die deutsche Bundesanwaltschaft und auch deutsche Gerichte kam der Menschenrechtsgerichtshof zu der Auffassung, dass Klein den Angriff auf aus seiner Sicht legitime militärische Ziele befohlen habe und damit nicht das innerstaatliche Strafrecht, sondern die Bestimmungen des Völkerrechts greifen. Damit war sein Vorgehen strafrechtlich nicht zu beanstanden und auch nicht als Kriegsverbrechen einzustufen.

Das ist in Deutschland im so genannten Völkerstrafgesetzbuch geregelt: bei einer militärischen Aktion dürfen auch zivile Opfer in Kauf genommen werden dürfen, wenn ihre Zahl nicht außer Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil steht, wie es Artikel 11 des Völkerstrafgesetzbuches festlegt.

So weit bekannt, ist damit die juristische Aufarbeitung des Luftangriffs abgeschlossen – weitere Gerichtsverfahren sind derzeit offensichtlich nicht anhängig.