Luftangriff von Kundus: BGH-Richter beklagen „Propagandaerfolg der Taliban“

Fast zwölf Jahre nach dem Luftangriff bei Kunduz in Afghanistan, den der damalige Bundeswehr-Kommandeur vor Ort befohlen hatte, haben sich Richter des (deutschen) Bundesgerichtshofs zu dem Geschehen öffentlich zu Wort gemeldet. Die Zahl der zivilen Opfer bei der Bombardierung zweier von Taliban entführter Tanklaster im am 4. September 2009 sei in der öffentlichen Darstellung übertrieben und ein Propagandaerfolg der Taliban, erklärten die Juristen.

Der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof (BGH) Ullrich Herrmann und der Richter Harald Reiter waren im Oktober 2016 am damaligen Urteil des BGH zu dem Vorfall beteiligt, in dem das Gericht Ansprüche von Afghanen auf Schadenersatz nach der Bombardierung und dem Tod ihrer Angehörigen zurückgewiesen hatte. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Verfassungsbeschwerde dagegen im Dezember vergangenen Jahres abgelehnt.

Die strafrechtlichen Vorwürfe gegen den Kommandeur, den damaligen Oberst Georg Klein, hatte das Verfassungsgericht bereits 2015 als letzte deutsche Instanz nicht zugelassen. Der Europäische Gerichtshof hatte zudem im Februar dieses Jahres eine Klage wegen Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention zurückgewiesen.

Herrmann und Reiter äußerten sich im Leserforum in der jüngsten Ausgabe der Fachzeitschrift Neue Juristische Wochenschrift (NJW). Deren Chefredakteur Tobias Freudenberg machte den Beitrag am (heutigen) Donnerstag via Twitter publik und bezeichnete ihn als außergewöhnlichen Leserbrief:

Die beiden Richter begründen ihre Äußerungen mehr als ein Jahrzehnt nach dem Vorfall damit, dass die Sache nunmehr durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts abgeschlossen sei und sie sich damit inhaltlich dazu äußern könnten, nachdem sie am BGH zuvor selbst damit befasst waren.

In der Öffentlichkeit, so beklagen Hermann und Reiter, habe sich das Bild festgesetzt, dass auf Befehl des deutschen Kommandeurs ohne Vorwarnung eine Menschenmenge bombardiert worden [sei], wobei über 100 Personen ums Leben gekommen seien, darunter viele Zivilisten und Kinder. Diese Darstellung sei falsch, vor allem im Hinblick auf die Opferzahl, und beruht letztlich wohl auf einem Propagandaerfolg der Taliban.

Dem III. Zivilsenat des BGH (KORREKTUR: nicht der II), der 2016 die Schadenersatzansprüche zurückgewiesen hatte, sei dagegen der korrekte Sachverhalt zuverlässig bekannt, schreiben die beiden Richter. Sie berufen sich dabei vor allem auf Infrarotaufnahmen der beiden US-Kampfflugzeuge, die auf Anordnung Kleins eine Bombe auf die Tanklaster abgeworfen hatten: Diese Aufnahmen sind in öffentlicher Verhandlung des Landgerichts Bonn vorgeführt und ausgewertet worden. Das Bonner Gericht hatte im Dezember 2013 als erste Instanz die Schadenersatzklagen von Hinterbliebenen abgelehnt.

Allerdings bleibt unklar, ob Herrmann und Reiter bei ihren Äußerungen auf Informationen zurückgreifen, die der Öffentlichkeit nicht bekannt wurden. So hatte die Bundesanwaltschaft im Zusammenhang mit ihrer Entscheidung bereits im April 2010, die strafrechtlichen Ermittlungen gegen den Oberst einzustellen, dazu erklärt: Das der Entscheidung zugrunde liegende militärische Tatsachenmaterial ist zum überwiegenden Teil als geheime Verschlusssache eingestuft.

Einzelne Details, die die BGH-Richter in ihrem Leserbrief nennen, fanden sich – soweit ich das bislang feststellen konnte – nicht in veröffentlichten Informationen zu diesem Vorfall. Insbesondere die Einzelheit, dass die US-Jets in nur 360 m Höhe (!) über der Szenerie kreisten, war in diesem Detaillierungsgrad so nicht öffentlich bekannt. (KORREKTUR: das wurde in einem Gerichtsverfahren öffentlich bekannt, siehe Nachtrag unten) Aufgrund des Videomaterials der beiden Maschinen, so heißt es in dem Leserbrief, sei bekannt, dass sich vor den Bombenabwürfen noch 30 bis 40 Personen im Bereich der Tankfahrzeuge [aufhielten], und dies waren sicherlich keine Zivilisten mehr, geschweige denn Kinder.

Die Einstellungsverfügung der Bundesanwaltschaft, auf die sich Herrmann und Reiter auch ausdrücklich beziehen, ist an der Stelle – zumindest in der offenen Version – vorsichtiger:

Die Anzahl der durch den Luftangriff getöteten und verletzten Menschen lässt sich nicht mehr mit endgültiger Sicherheit aufklären. Gleiches gilt für die Frage, bei wie vielen Opfern es sich um Taliban oder um Zivilisten handelt.
1. Die Auswertung des Videomaterials, das von den Luftfahrzeugen kurz vor dem Luftangriff aufgenommen wurde, führt mit den dem Generalbundesanwalt zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten zu der Feststellung, dass zum Zeitpunkt des Luftangriffs ungefähr 30 bis 50 Personen auf der Sandbank zu erkennen sind, von denen sich mehr als 10 Personen nach den Einschlägen rasch in Richtung der Ufer bewegten. Es besteht allerdings die Möglichkeit, dass fliehende Personen so schwer verletzt wurden, dass sie später verstarben. Außerdem könnten sich Personen in oder unter den Tanklastzügen oder in den Schleppfahrzeugen aufgehalten haben, die auf den Videobildern
nicht zu erkennen sind. Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch
weitere Personen, die sich außerhalb der Bildaufzeichnung im Wasser oder am Flussufer, jedoch innerhalb des Radius der Waffenwirkung aufhielten, durch die Explosion verletzt oder getötet worden sein könnten, obwohl Oberst Klein ausdrücklich eine Beschränkung der Waffenwirkung auf die Tanklaster und die in deren unmittelbaren Nähe befindlichen Personen befohlen hatte.
Auf den Videoaufzeichnungen ist allerdings zu erkennen, dass sich nach dem
Bombenabwurf Fahrzeuge von den Ufern entfernten, was gegen eine erhebliche Auswirkung der Detonationen auf diese Örtlichkeiten spricht. (…)
Aufgrund der vorliegenden Berichte lässt sich zumindest der Schluss ziehen, dass sowohl Taliban als auch Zivilisten getötet worden
sind, wobei die Zahl der Taliban unter den Opfern deutlich höher gewesen sein dürfte. Eine Anzahl von bis zu 142 Geschädigten ist aufgrund der vorliegenden Videoaufzeichnungen als einzigem objektiven Beweismittel ausgesprochen zweifelhaft. Ein Abgleich der Namen auf den vorhandenen Listen ergibt zudem, dass sich nur ungefähr 50 Personen durchgängig wiederfinden. Eine exakte Bezifferung ist angesichts unterschiedlicher Schreibweisen auch hier nicht möglich. Der Annäherungswert von etwa 50 Geschädigten lässt sich allerdings mit den Videobildern, den Angaben des Informanten und den am
Tatort verbliebenen Spuren in Einklang bringen, so dass eine gewisse Wahr-
scheinlichkeit dafür besteht, dass insgesamt von etwa 50 Toten und Verletzten auszugehen ist. Eine weitere Aufklärung war und ist nicht möglich, weil der Einsatz moderner gerichtsmedizinischer Untersuchungen einschließlich notwendiger Exhumierungen und DNA-Analysen zur Überprüfung von Zeugenangaben angesichts der gesellschaftlichen und religiösen Auffassungen in der afghanischen Bevölkerung ausgeschlossen ist.

In den Berichten aus Afghanistan, die auf Angaben von Bewohnern umliegender Orte und von Hinterbliebenen beruhen, ist dagegen regelmäßig von mehr als 100 getöteten Afghanen und darunter einer hohen Zahl von Zivilisten die Rede.

Die beiden BGH-Richter machen in ihrem Leserbrief am Schluss deutlich, was sie zu ihrer Wortmeldung bewogen hat: Es ist sehr ärgerlich, dass diese öffentlich zugänglichen Quellen, die ein zuverlässiges Bild vom Sachverhalt vermitteln, von der Allgemeinpresse ungenutzt blieben. Darüber hinaus stehe der damalige Kommandeur Klein weiterhin in einem völlig falschen Licht.

Nachtrag (danke für den Leserhinweis): Ein Bericht von der Vorführung des Videos in der Verhandlung vor dem Landgericht Bonn:

Kampfjet-Videos im Kundus-Prozess: Wer ist Zivilist und wer Kämpfer?

(Archivbild: Das Wrack eines der am 4. September  2009 durch einen Luftangriff zerstörten Tanklaster, aufgenommen im November 2011 – BRFBlake, Wrecks of the fuel tankers in the Kunduz River 1, CC BY-SA 3.0; Screenshot aus der NJW mit freundlicher Genehmigung der Redaktion)