Mittlere Kräfte: Für den Einsatz (nicht nur) im Baltikum setzt das Heer auf ‚Rad statt Kette‘

Das Deutsche Heer hat – wie es aussieht, erstmals öffentlich über die internen Papiere hinaus – seine Planungen für die künftigen mittleren Kräfte dargelegt: Neben die schweren Divisionen mit ihren Kampf- und Schützenpanzern und die leichten Einheiten wie Fallschirm- und Gebirgsjäger sollen diese vor allem schnell beweglichen Truppenteile treten. Die Grundüberlegung, die sicherlich zu (auch emotionalen) Debatten führen dürfte: Rad statt Kette.

Die wesentlichen Eckpunkte der Planungen veröffentlichte das Heer am (heutigen) Mittwoch auf seiner Webseite. Die Kernaussage:

Was zeichnet die Mittleren Kräfte auf Rad aus? Sie sind hochmobil auf eigener Achse und dennoch durchsetzungsstark, auch im hochintensiven Gefecht. So können bestimmte Einsatzräume zum Verstärken von Kräften schneller und eigenständig erreicht werden. Damit diese Fähigkeit im Heer künftig präsenter ist, werden gerade schrittweise Verbände im Heer umgegliedert und teilweise neu unterstellt. Dafür müssen die Verbände mit dem richtigen Material ausgestattet, insbesondere mit verschiedenen Radfahrzeugen ergänzt werden. So sollen die Mittleren Kräfte etwa die dringend erforderliche Feuerkraft auf Rädern erhalten, indem die Radfahrzeuge mit schweren Waffentürmen und Haubitzen ausgestattet und neu beschafft werden. In den Brigaden der Mittleren Kräfte werden zukünftig Radschützenpanzer, Radhaubitzen, radbasierte Mörsersysteme, Transportpanzer, radbewegliche Pionierfähigkeiten sowie weitere radbasierte Systeme in allen Truppengattungen vorhanden sein müssen. Denn nur wenn alle Fähigkeiten einer einsatzbereiten Brigade radbasiert vorhanden sind, können die Mittleren Kräfte schnell am richtigen Ort wirksam werden.

Ein Vorbild dafür sind unter anderem die mit Stryker-Radpanzern ausgestatteten Verbände der U.S. Army. Die hatten bereits 2015 und 2016 demonstrativ ihre Einheiten auf dem Straßenmarsch aus dem Baltikum in ihre Garnisonen in Deutschland und umgekehrt verlegt. Dragoon Ride, Dragonerritt, nannten die US-Streitkräfte diese Operation, mit der gezeigt werden sollte, wie schnell und vor allem ohne Rückgriff auf Bahntransport oder Sattelschlepper für Panzer Truppen aus Deutschland über 2.000 Straßenkilometer in die baltischen Staaten verlegt werden können.

Das Baltikum, die Nordostflanke der NATO, ist inzwischen die Region, auf die sich auch die Bundeswehr für mögliche Einsätze vorbereitet, und so dürften diese Erkenntnisse auch bei den Überlegungen für die künftigen mittleren Kräfte eine wesentliche Rolle gespielt haben. Hinzu kommen die Erwägungen, dass gepanzerte Kräfte in manchen Bereichen der baltischen Staaten nur eingeschränkt einsetzbar sein können, weil schon ihr Gewicht die Beweglichkeit einschränkt und/oder zusätzliche Pionierunterstützung zum Beispiel mit Schnellbrücken erfordert. Für die derzeit laufende Operation Griffin Lightning der Panzergrenadierbrigade 41 Vorpommern in Litauen (die gleichnamige und zeitgleiche Exercise Griffin Lightning ist eine Gefechtsstandübung des Multinationalen Korps Nordost in Polen, wird oft verwechselt) verlegte das Jägerbataillon 413 seine Fahrzeuge auf eigener Achse über 1.000 Kilometer von Torgelow nach Pabrade nahe der belarussischen Grenze.

Die offizielle Begründung des Heeres liest sich denn auch wie für die deutsche Brigade in Litauen geschrieben:

Mittlere Kräfte sind eine neue Kräftekategorie, die ausschließlich auf radbewegliche Gefechtsfahrzeuge baut. Radbewegliche Kräfte zeichnet besonders aus, dass sie entlang von Straßen und Wegen aus eigener Kraft schnell in ein Einsatzgebiet verlegen können. Sie bieten eine effektive, schlagkräftige Kombination aus Wirkungsmöglichkeiten, Mobilität und Schutz. Im Konfliktfall können sie als schnell verlegbarer und zugleich stärker durchsetzungs- und durchhaltefähiger „operativer Türkeil“ die notwendige Zeit zum Einsatz weiterer, vor allem schwerer Kräfte, verschaffen. Damit wirken sie dem Abschneiden von Bündnispartnern und eigenen Kräften im Operationsraum entgegen.

Allerdings: Um diese Planungen umzusetzen, muss die Bundeswehr neu einkaufen. Die Boxer-Transportpanzer sind zwar bei den Jägerbataillonen vorhanden, die schon jetzt als Kern für den Aufbau der mittleren Kräfte bezeichnet werden – aber davon sind nicht nur mehr nötig, sondern auch in einer anderen Version. Zum Beispiel mit Maschinenkanone, was in der Konzeption bereits als schwerer Waffenträger angelegt, aber noch nicht bestellt, geschweige denn beschafft wurde.

Das gleiche gilt für Haubitzen, für die das Modell RCH155 von Krauss-Maffei Wegmann im Gespräch ist, und für weitere spezialisierte Varianten von Radfahrzeugen.

(Um Missverständnissen in der Debatte vorzubeugen: dieser Boxer als schwerer Waffenträger ist etwas anderes als der ebenfalls diskutierte Boxer mit dem Turm des Schützenpanzers Puma – und die Diskussion über diese Überlegungen bitte an dieser Stelle nicht)

Zu den Planungen passt auch, was die Neue Zürcher Zeitung Anfang der Woche bekannt machte: Die Bundeswehr überlege, mehrere hundert Boxer aus australischer Herstellung zu kaufen – der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall hatte dort eine Produktionslinie aufgemacht, die eigentlich für den Bedarf der australischen Streitkräfte selbst vorgesehen war. Das mögliche Geschäft mit einem Umfang von drei Milliarden australischen Dollar (rund 1,9 Milliarden Euro) hatte erstmals die australische Wirtschaftszeitung Financial Review unter Berufung auf den deutschen Botschafter in Canberra gemeldet:

“The German government has now shared its intention with the Australian government to buy Australian-made Boxer CRVs for the German army,” German ambassador to Australia Markus Ederer told The Australian Financial Review in an exclusive interview.

Einen Streit um das Konzept Rad statt Kette, betont das Heer, gebe es nicht. Mit der Konzeption der mittleren Kräfte sind auch erhebliche Verschiebungen in der Organisationsstruktur des Heeres verbunden, die bereits in wenigen Wochen losgehen:

Ab dem 1. April 2023 werden die zwingend nötigen Unterstellungswechsel schrittweise und unter Berücksichtigung laufender Einsätze und Verpflichtungen umgesetzt. So werden die Schweren Kampftruppenbataillone auf die zukünftigen Schweren Brigaden, sprich die Panzerbrigade 12, die Panzerlehrbrigade 9 sowie die Panzergrenadierbrigade 37, aufgeteilt. Zugleich werden die Jägerkräfte der 1. Panzerdivision in der Panzerbrigade 21 zum Kern einer ersten künftigen Mittleren Brigade zusammengefasst und die 10. Panzerdivision von ihren Leichten Kräften entlastet.
Konkret heißt das: Die Gebirgsjägerbrigade 23 der 10. Panzerdivision wird künftig der Division Schnelle Kräfte unterstellt, das Panzerbataillon 363 der Panzergrenadierbrigade 37 wechselt in die Panzerbrigade 12. Die Panzergrenadierbrigade 37 erhält hingegen das Augustdorfer Panzergrenadierbataillon 212 der Panzerbrigade 21. Die Panzerbrigade 21 erhält das Jägerbataillon 91 von der Panzerlehrbrigade 9 sowie das Jägerbataillon 413 der Panzergrenadierbrigade 41.

(Foto: Ein Boxer des Jägerbataillons 413 auf dem Truppenübungsplatz Pabrade in Litauen im März 2023)