Aufgedröselt: Kein Flugzeugabschuss, aber militärische Mittel im Inland

Die heutige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes der Bundeswehr im Inneren ist, wie juristische Texte so oft, dröger Stoff. Und, auch das liegt in der Natur der Sache, Interpretationen und Fehl-Interpretationen jeder Art leicht zugänglich. An Fakten scheint festzustehen: den Abschuss eines entführten Flugzeugs darf es auch künftig nicht geben; bei Bundeswehreinsätzen im Inland im Rahmen der Amtshilfe sind auch militärische Mittel künftig nicht mehr ausgeschlossen, und der Bund und damit die Bundeswehr hat in bestimmten Bereichen ein Recht auf Gefahrenabwehr. Gerade die letzten beiden Punkte führen übrigens, dass für die Freunde der Marine, zu der Frage, ob sich damit die Problematik eines Seesicherheitsgesetzes erledigt hat…

Ich maße mir als Nicht-Jurist nicht an, das in allen Details zu verstehen; nachdem ich den Beschluss und die zusammenfassende Pressemitteilung (mehrfach) gelesen habe, unternehme ich dennoch den Versuch, das Ganze mal in einigen Details aufzudröseln:

• Der Beschluss des Plenums des Bundesverfassungsgerichts fiel zwar aufgrund einer abstrakten Normenkontrollklage der Länder Bayern und Hessen gegen das Luftsicherheitsgesetz der rot-grünen Koalition – die damals umstrittene Möglichkeit, ein entführtes Flugzeug abzuschießen, spielte diesmal aber keine Rolle: Nachdem § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz, der zum Abschuss eines gegen das Leben von Menschen eingesetzten Luftfahrzeugs ermächtigte, durch Urteil des Ersten Senats vom 15. Februar 2006 für nichtig erklärt wurde, haben die Antragstellerinnen ihren Antrag insoweit für erledigt erklärt. Also: Die heute veröffentlichte Entscheidung ist keine Abkehr von dem höchstrichterlichen Urteil, dass diesen Abschuss verbot.

• Interessant ist die verfassungsrechtliche Begründung für den Einsatz der Streitkräfte nach dem Luftsicherheitsgesetz: Der regelt sich, so das Bundesverfassungsgericht, nicht nach der Amtshilfe in Artikel 35 des Grundgesetzes. Sondern nach dem Grundgesetz-Artikel 73, Absatz 1, Nr. 6: Der Bund hat die ausschließliche Gesetzgebung über … den Luftverkehr. Die Erläuterung der Karlsruher Richter dazu: Nach tradierter und im Grundsatz unbestrittener Auffassung steht dem Bund, soweit er für ein bestimmtes Sachgebiet die Gesetzgebungszuständigkeit hat, als Annexkompetenz auch die Gesetzgebungsbefugnis für die damit in einem notwendigen Zusammenhang stehenden Regelungen zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung in diesem Bereich zu. Das macht wiederum – ich betone erneut: für mich als Nichtjuristen – eine neue Tür auf: Der Bund hat nach Artikel 73 Absatz 1 Nr. 6a und 7 auch die ausschließliche Gesetzgebung für die Eisenbahnen des Bundes und für die Telekommunikation – dürfte damit auch zum Beispiel in einem Eisenbahnsicherheitsgesetz die Bundeswehr zur Gefahrenabwehr ermächtigt werden?

• Das entscheidend Neue an dem Beschluss ist die Erlaubnis, auch im Inland militärische Mittel, sprich: Waffen, einzusetzen. Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG schließen eine Verwendung spezifisch militärischer Waffen bei Einsätzen der Streitkräfte nach diesen Bestimmungen nicht grundsätzlich aus, lassen Einsätze aber nur unter engen Voraussetzungen zu, die insbesondere sicherstellen, dass nicht die strikten Begrenzungen unterlaufen werden, die nach Art. 87a Abs. 4 GG einem Einsatz der Streitkräfte zum Kampf in inneren Auseinandersetzungen gesetzt sind. Erläuternd heißt es dazu:

Die Verfassung begrenzt einen Streitkräfteeinsatz im Inneren in bewusster Entscheidung auf äußerste Ausnahmefälle. Soweit es um den Schutz vor Straftätern und Gegnern der freiheitlichen Ordnung geht, stellt deshalb Art. 87a Abs. 4 GG für einen Einsatz der Streitkräfte strenge Anforderungen, die selbst im Fall des inneren Notstands gemäß Art. 91 GG noch nicht automatisch erreicht sind. Im Unterschied dazu erlauben Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG einen Streitkräfteeinsatz zur Unterstützung der Polizeikräfte bei einer Naturkatastrophe oder einem besonders schweren Unglücksfall. Auch damit bindet die Verfassung den Einsatz der Streitkräfte an Anforderungen, die nicht immer schon dann erfüllt sind, wenn die Polizei durch das allgemeine Ziel der Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung überfordert ist; dies zeigt sich bereits darin, dass in Fällen von besonderer Bedeutung gemäß Art. 35 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich nur Unterstützung durch Kräfte und Einrichtungen des Bundesgrenzschutzes angefordert werden kann.

Laienhaft gesagt: Auch randalierende Plünderer, die das Einkaufsviertel einer deutschen Großstadt in Schutt und Asche legen, berechtigen danach noch nicht gleich zum Einsatz der Bundeswehr. Oder in den Worten des Verfassungsgerichts: Art. 87a Abs. 4 GG unterwirft auf dem Hintergrund historischer Erfahrungen den Einsatz der Streitkräfte zur Bewältigung innerer Auseinandersetzungen besonders strengen Beschränkungen. Diese Beschränkungen dürfen nicht dadurch umgangen werden, dass der Einsatz statt auf der Grundlage des Art. 87a Abs. 4 GG auf der des Art. 35 Abs. 2 oder 3 GG erfolgt. Das gilt erst recht für die Verwendung spezifisch militärischer Kampfmittel im Rahmen eines solchen Einsatzes. Und: Angesichts der in Art. 87a Abs. 4 in Verbindung mit Art. 91 GG getroffenen Regelung der militärischen Bekämpfung nichtstaatlicher Gegner können die Streitkräfte auf der Grundlage von Art. 35 Abs. 2 und 3 GG jedoch zur Bekämpfung eines Angreifers nur in Ausnahmesituationen eingesetzt werden, die nicht von der in Art. 87a Abs. 4 GG geregelten Art sind. So stellen namentlich Gefahren für Menschen und Sachen, die aus oder von einer demonstrierenden Menschenmenge drohen, keinen besonders schweren Unglücksfall im Sinne des Art. 35 GG dar, der es rechtfertigen könnte, Streitkräfte auf der Grundlage dieser Bestimmung einzusetzen.

Allerdings: Im Katastrophenfall werden diese spezifisch militärischen Mittel künftig zugelassen. Denn die Unterstützung der Polizei nach dem Grundgesetz-Artikel 35 bedeute nicht, so die Richter, dass die Möglichkeiten der Streitkräfte auf die aktuell oder potentiell polizeirechtlich zulässigen Einsatzmittel begrenzt sein müssten – denn: Zu berücksichtigen ist zudem, dass die Zulassung des Streitkräfteeinsatzes in den erfassten Katastrophenfällen eine wirksame Gefahrenabwehr ermöglichen soll.

Aber was sind dann die Katastrophenfälle nach dem Artikel 35, bei denen die neuen Möglichkeiten genutzt werden können? Da verweist das Verfassungsgericht auf die Grundgesetz-Gleichsetzung von Naturkatastrophe und besonders schwerem Unglücksfall:

Hieraus wie auch aus der normativen Parallelisierung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen in Art. 35 Abs. 2 und 3 GG wird deutlich, dass der hier verwendete Begriff des besonders schweren Unglücksfalls nur Ereignisse von katastrophischen Dimensionen erfasst. Insbesondere stellt nicht jede Gefahrensituation, die ein Land mittels seiner Polizei nicht zu beherrschen imstande ist, allein schon aus diesem Grund einen besonders schweren Unglücksfall im Sinne des Art. 35 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 GG dar, der den Streitkräfteeinsatz erlaubte. Besonders schwere Unglücksfälle sind vielmehr ungewöhnliche Ausnahmesituationen.

Unjuristisch, unterm Strich: Die Bundeswehr kann auch mit militärischen Mitteln und ihren Waffen eingesetzt werden, wenn es eine ungewöhnliche Ausnahmesituation von katastrophischen Dimensionen gibt. Da wäre einiges vorstellbar, allerdings ist das nicht wirklich trennscharf formuliert. Was ungewöhnlich ist und wann es die Dimension einer Katastrophe erreicht – da sind sehr unterschiedliche Einschätzungen denkbar.

Genau das befürchtet der Verfassungsrichter Reinhard Gaier, der in diesem Punkt ein von der Mehrheit seiner Kollegen abweichendes Sondervotum abgegeben hat. Seine grundsätzliche Haltung dazu:

Es ist sicherzustellen, dass die Streitkräfte niemals als innenpolitisches Machtinstrument eingesetzt werden. Abgesehen von dem extremen Ausnahmefall des Staatsnotstandes, in dem nur zur Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer als letztes Mittel auch Kampfeinsätze der Streitkräfte im Inland zulässig sind, ist die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit Aufgabe allein der Polizei. Ihre Funktion ist die der Gefahrenabwehr und nur über hierfür geeignete und erforderliche Waffen darf die Polizei verfügen; hingegen sind Kampfeinsätze der Streitkräfte auf die Vernichtung des Gegners gerichtet, was spezifisch militärische Bewaffnung notwendig macht. Beide Aufgaben sind strikt zu trennen. (…) Wer hieran etwas ändern will, muss sich nicht nur der öffentlichen politischen Debatte stellen, sondern auch die zu einer Verfassungsänderung erforderlichen parlamentarischen Mehrheiten für sich gewinnen. (…) Selbst wenn man es unerträglich empfindet, dass die Streitkräfte hiernach bei terroristischen Angriffen untätig in der Rolle des Zuschauers verharren müssen, ist es nicht Aufgabe und nicht Befugnis des Bundesverfassungsgerichts korrigierend einzuschreiten.

Vor allem aber warnt Gaier vor einer ausufernden Nutzung der jetzt geschaffenen Möglichkeiten in der Praxis:

Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie Meinungsäußerung schwerlich gedeihen. Wie ist beispielsweise zu verhindern, dass im Zusammenhang mit regierungskritischen Großdemonstrationen – wie etwa im Juni 2007 aus Anlass des „G8-Gipfels“ in Heiligendamm – schon wegen befürchteter Aggressivität einzelner teilnehmender Gruppen „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Kürze“ eintretende massive Gewalttätigkeiten mit „katastrophalen Schadensfolgen“ angenommen werden und deswegen bewaffnete Einheiten der Bundeswehr aufziehen? Der bloße Hinweis des Plenums, dass Gefahren, die „aus oder von einer demonstrierenden Menschenmenge drohen“, nicht genügen sollen, kann in diesen Fällen die selbst definierten Einsatzvoraussetzungen kaum wirksam suspendieren.

Ob man Gaier zustimmt oder nicht – in einem Punkt hat er mit Sicherheit Recht: Der Gesetzgeber, also das Parlament, hat eine Debatte und vor allem eine Entscheidung bislang vermieden, ob neue Bedrohungen auch andere Regelungen für den Einsatz von Streitkräften bedeuten. Das fängt bei den Bundeswehreinsätzen im Ausland an, die auf dem Umweg über den Grundgesetz-Artikel 24 (Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen) beschlossen werden. Und führt zu der notwendigen Debatte über die Frage, ob es im Inland Bedrohungen geben kann, gegen die nur militärische Mittel helfen können – und ob dazu eine Veränderung des Grundgesetzes nötig ist. Um das immer wieder zitierte Beispiel vom gekaperten Flüssiggastanker in der Deutschen Bucht zu nehmen, der mit einem – militärischen – Schuss in die Ruderanlage gestoppt werden könnte, aber nicht darf: Zumindest die Debatte wäre nötig. Und eigentlich auch die Entscheidung.

Nachtrag: Die gemeinsame Erklärung von Verteidigungsminister Thomas de Maizière und Innenminister Hans-Peter Friedrich war so zu erwarten:

Friedrich und de Maizière begrüßen Plenarentscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesministerium des Innern und das Bundesministerium der Verteidigung begrüßen die heutige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Einsatz der Streitkräfte im Inland. Der Beschluss bestätigt die Rechtsauffassung der Bundesregierung im Kern. Die Sicherheit unserer Bürger, gerade auch in Extremfällen, zu gewährleisten, ist eine der wichtigsten Aufgaben unseres Staates. Die Folgerungen aus der Entscheidung sind jetzt gründlich zu prüfen.

Und aus dem Bundesjustizministerium:

Pressemitteilung: Bundeswehr wird kein Hilfspolizist
Zum heute veröffentlichten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2012 sagt
die Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger:
„Die Bundesrepublik ist mit dem Grundsatz groß geworden, dass die Bundeswehr kein Hilfspolizist ist. Für die FDP in Regierungsverantwortung bleibt das handlungsleitend. Die Trennung von innerer und äußerer Sicherheit ist und bleibt richtig. Nicht alles, was verfassungsrechtlich möglich ist, ist politisch richtig.“