Abbau bei laufendem Motor

Bisweilen muss auch ein sonst so nüchtern auftretender Politiker wie Thomas de Maizière weniger nüchterne Dinge tun. Zum Beispiel in einem Boxer über das Counter-IED-Übungsgelände im Camp Marmal bei Masar-i-Scharif in Nordafghanistan donnern. (Vor den Augen der Öffentlichkeit etwas, was der Verteidigungsminister selten tut.) Zusammen mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich stellte sich de Maizière am (gestrigen) Dienstag in einen Boxer in der Führungsvariante und hatte sichtlich Spaß an der Geländegängigkeit des Fahrzeugs.

De Maizière (m.) und Tillich (r.) auf dem Boxer

Der Boxer auf der Counter IED Lane im Camp Marmal

Nun ist der Boxer als Truppentransporter schon fast ein Jahr in Afghanistan im Einsatz, doch von der Gefechtsstand-Version dieses gepanzerten Transportfahrzeugs sind erst relativ kurz ein paar Exemplare am Hindukusch – Grund genug für den Minister, sich das mal vorführen zu lassen. Zugleich illustriert der Führungs-Boxer das Grundproblem, dem sich politische und militärische Führung beim Afghanistan-Einsatz in diesen Tagen gegenüber sehen: Die Ausrüstung der Truppe mit modernem und für diese Mission passenden Gerät ist noch längst nicht abgeschlossen – ein Beispiel dafür sind die noch fehlenden Hubschrauber Tiger und NH90. Zugleich müssen jetzt die Weichen gestellt werden, den versprochenen Abzug, militärisch gesprochen: die Rückverlegung, der Kampftruppen bis Ende 2014 auch durchzuziehen.

Auf den außenstehenden Beobachter sieht allerdings bislang wenig nach einem solchen Abzug aus. Bei jedem Besuch – zugegeben: in größeren Abständen von acht bis zehn Monaten – in Kundus oder Masar-i-Scharif fiel mir auf, wie die Camps wieder ein (erhebliches) Stück gewachsen sind, ja immer noch wachsen. Und sich über die Jahre feste Strukturen gebildet haben, die aufzugeben vermutlich gar nicht so einfach wird. Wie sagte doch der Hauptmann in Kundus bei der Meldung an den Minister: Ich habe den Auftrag, Ihnen ausgewähltes Personal und Material am Standort Kundus vorzustellen. An Größe und Ausstattung haben diese Camps ohnehin schon manchen Standort in Deutschland überholt.

Der Sitz der Wehrverwaltung in Kundus

Das liegt natürlich zum Teil daran, dass Truppen verbündeter Nationen, allen voran der USA, zunehmend in diesen Basen präsent sind. Im Camp Marmal haben sogar amerikanische Arbeiten begonnen, das Lager noch mal in gleicher Größe für US-Truppen zu erweitern. Die ersten Straßenzüge (Hotel Avenue) sind schon errichtet, mit Elektro-Freileitungen, die an eine Kleinstand im Mittleren Westen der USA erinnern:

Camp Marmal dürfte auch über den angekündigten Abzug der ISAF-Truppen der amerikanische Großstandort im Norden Afghanistans bleiben, und vermutlich werden in absehbarer Zeit die Euro only! Schilder an den Betreuungseinrichtungen verschwinden …

Die Bundeswehr beginnt dagegen die Planung für die Rückverlegung, auch wenn die Einzelheiten noch recht vage sind und de Maizière bei seinem Blitzbesuch einen Spruch wiederholte, den er schon mehrfach gemacht hatte: Auf einen Baum heraufzuklettern ist einfacher, als wieder herunter zu kommen.

Die Rückverlegung, schilderte der deutsche Generalmajor Erich Pfeffer, Kommandeur im RC North, dem Minister, ist inzwischen eine eigene Operationslinie. Allerdings eben neben den anderen, weiter laufenden Operationslinien im Norden. Denn die Hauptarbeit, die afghanischen Sicherheitskräfte bis zur geplanten Rückverlegung in zweieinhalb Jahren zum eigenständigen Sichern des Landes zu befähigen, ist ja noch nicht erledigt.

Da zeichnete Pfeffer im Briefing für den Minister ein recht positives Bild. Im Combined Team North, dem gemeinsamen Kräfte-Dispositiv von ISAF und Afghanen im Norden, stellten die Afghanen inzwischen nicht nur 75 Prozent aller Truppen, sondern hätten ihre Sollstärke auch schon zu 95 Prozent erreicht: Zu den rund 11.800 ISAF-Soldaten im RC North kämen 15.800 Soldaten der afghanischen Armee (ANA), 15.100 Polizisten der Afghan Uniformed Police, 3.900 der Grenzpolizei (ABP) und 2.300 der Afghan Civil Order Police (ANCOP), eine Art Bereitschaftspolizei. In dieser Rechnung nicht enthalten sind die zum Teil aus örtlichen Milizen rekrutierten rund 3.000 Kräfte der Afghan Local Police (ALP), von der die Führung des RC North offensichtlich ein durchaus positives Bild hat.

Angesichts der Stärke der afghanischen Sicherheitskräfte von 95 Prozent des Solls, sagte Pfeffer, gehe es jetzt nicht mehr um den Aufbau, sondern vor allem um die Qualität – also das Verbessern der Fähigkeiten. Die Deutschen verlegen sich deshalb zunehmend auf das Mentoring vor allem der Armee, und mit dem Umbau verschwindet auch der Begriff Partnering: In Military Advisory Teams sollen die bisherigen Operational Mentoring and Liaison Teams, die OMLTs, und die Task Force (in Deutschland etwas irreführend Ausbildungs- und Schutzbataillon genannt) verschmelzen und die Afghanen zwar noch unterstützen, aber zunehmend weniger in gemeinsame Operationen mit gleicher Stärke gehen.

Natürlich kam auch die Rede auf die Zahl der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle (incidents), die im RC North bereits im vergangenen Jahr und noch mal in diesem Jahr deutlich zurückgegangen sind (im Gegensatz zu anderen Regionen Afghanistans, wie ISAF bereits im Juni gemeldet hatte) – allerdings von der zuvor hohen Steigerung bis zum Jahr 2010.

Interessant fand ich in dem Zusammenhang den Hinweis Pfeffers auf das seit sechs Wochen neu eingeführte green reporting: Jetzt werden auch die von afghanischen Sicherheitskräften gemeldeten Vorfälle, die nur die Afghanen und nicht ISAF betreffen, in die Statistik mit aufgenommen. Zwar ergibt sich, betonte Pfeffer, für den Norden dennoch ein positiver Trend – dennoch stellt sich natürlich die Frage nach der Aussagekraft der vorherigen Zahlen, wenn dieses green reporting darin nicht erfasst ist. Zumal seit einiger Zeit die Aufständischen mit ihren Sprengfallen (Improvised Explosive Devices, IED) weniger auf ISAF-Soldaten zielen – sondern zunehmend auf afghanische Soldaten und Polizisten und auch Vertreter des afghanischen Staates.

Mit dem Blitzbesuch am Hindukusch, seinem inzwischen siebten seit Amtsantritt, hat sich de Maizière vor allem auf die nach der Sommerpause beginnenden Überlegungen für das nächste deutsche ISAF-Mandat einstimmen wollen. Denn das wird zu einem nicht unwichtigen Teil von der geplanten Rückverlegung bestimmt werden. Der Minister ließ bewusst offen, ob er die dafür nötige Personalstärke und -zusammensetzung im normalen ISAF-Mandat unterbringen will oder, wie auch schon überlegt, in ein gesondertes Mandat packt. Es müsse nur ausreichend klar sein: Re-Deployment ist ein anderer Vorgang, betonte de Maizière. Da müssen wir einen Weg finden, wie wir das sauber trennen. Angesichts der noch offenen Details wollte er auf die Frage nach den Kosten vor allem bei zunehmendem Lufttransport nur so viel sagen: Die Sache wird teuer. Ob es teurer wird als auf dem anderen Wege, wissen wir nicht.

Nachtrag: der Minister-Besuch im Bundeswehr-Bericht auf YouTube: