Rekordzahl an toten afghanischen Zivilisten – vor allem durch IED

In den gewaltsamen Auseinandersetzungen in Afghanistan sind im ersten Halbjahr 2011 nach Angaben der UN-Mission UNAMA fast 1.500 unbeteiligte Zivilisten ums Leben gekommen, ein neuer trauriger Rekord. 80 Prozent der Opfer gehen nach den UN-Angaben auf das Konto der Aufständischen, 14 Prozent kamen durch Kampfhandlungen der afghanischen Sicherheitskräfte und der ISAF-Truppen ums Leben (sechs Prozent lassen sich nicht zuordnen).

Was aufhorchen lässt: Im Vergleich zum ersten Halbjahr 2010 starben 28 Prozent mehr Unbeteiligte durch die Aktionen von Taliban und anderen Aufständischen – und zwar vor allem durch Sprengfallen, so genannte Improvised Explosive Devices (IED). Dafür ist nach den UN-Beobachtungen ein Wechsel in der Taktik verantwortlich: weit mehr als früher setzen die Angreifer auf Sprengfallen, die durch Druckplatten ausgelöst werden (Victim Activated IED). Inzwischen seien zwei Drittel aller IED mit diesem Mechanismus ausgestattet, der bei einer Belastung zwischen zehn und 100 Kilogramm die Sprengung zündet – praktisch wie eine Landmine. Und wie eine Landmine unterscheidet auch eine solche IED nicht zwischen einem zivilen Kleinbus und einem Militärfahrzeug.

Auffällig ist die Zunahme dieser Art von Sprengfallen deshalb, weil vor einiger Zeit noch ferngezündete IED die Regel waren – aktiviert über Funksignale wie einen Handy-Anruf oder über einen Draht, den control wire. Gegen diese Art von gezielter Zündung sind allerdings die internationalen Truppen zunehmend erfolgreich vorgegangen – gegen die Funk-Auslöser mit Störsendern, so genannten Jammern, und gegen den Triggerman mit seinem control wire mit sorgfältiger Beobachtung des Umfelds und auch der gezielten Ausschaltung möglicher Auslöser.

So zynisch es klingt: gerade die Aufrüstung hat offensichtlich die Aufständischen auf alte, primitive Techniken zurück gezwungen – unter denen jetzt vor allem die Zivilisten leiden. Ob sich Taliban von dem UN-Vorwurf beeindrucken lassen, sie verletzten damit internationales Recht und erfüllten nicht die Pflicht, unnötiges Leiden zu vermeiden, wage ich zu bezweifeln.

Den Aufständischen wirft die UN-Mission übrigens auch eine Zunahme von Targeted Killings vor (ein Begriff, der sonst im Sprachgebrauch meist nur für das Militär verwendet wird). Interessant ist die rechtliche Einordnung dieser gezielten Tötungen, die auch ISAF nicht gefallen dürfte:

Targeted killings of Afghan civilians by AGEs continued at last year’s high rate. Between January and June 2011, UNAMA documented 191 targeted killings compared to 181 in the same period in 2010. UNAMA called on AGEs (Anti-Government Elements)  to use the meaning of “civilian” that is consistent and in compliance with their obligations under international humanitarian law. Under international humanitarian law “civilians” are all persons who are not combatants (members of military or paramilitary forces) or members of organized armed groups of a party to the armed conflict. Parties to a conflict are required to always make a distinction in the conduct of military operations between combatants and civilians and must not attack civilians meaning persons who are not or no longer taking part in hostilities.

Wenn auch die Pro Government Forces, also neben den Afghanen die ISAF, für eine erheblich geringere Zahl an getöteten Zivilisten verantwortlich sind: die Zahl der Toten durch Luftangriffe ist gestiegen. Inzwischen nicht mehr in erster Linie durch Bombenabwurf, sondern durch Beschuss von Kampfhubschraubern.

Neben der Mitteilung von UNAMA und dem Bericht gibt es auch eine Abschrift der heutigen Pressekonferenz dazu in Kabul.