Das neue ISAF-Mandat: Die Begründung

Das Bundeskabinett hat heute, wie erwartet, den Entwurf des Mandats für den weiteren Bundeswehreinsatz in Afghanistan gebilligt. Der Beschlussvorschlag geht jetzt in den Bundestag, die erste Lesung ist für den 21. Januar, die abschließende Entscheidung für den 28. Januar vorgesehen.

Das eigentliche Mandat enthält wenig neues – wie bisher steht die Obergrenze der deutschen Truppen bei 5.350 Soldatinnen und Soldaten, von denen 350 als flexible Reserve vorgesehen sind. Die zusätzlichen Kosten – nicht etwa die Gesamtkosten, denn die Soldaten sind, wie es bei der Bundeswehr immer heißt, eh da… – für den Militäreinsatz werden für den Zeitraum 1. März 2011 bis 31. Januar 2012 mit 1.060,9 Millionen (eine Milliarde 60 Millionen) Euro beziffert.

Interessant ist natürlich das, was im vom Kabinett beschlossenen Mandatstext unter dem Zusatzpunkt Begründung steht. Darum wurde gefeilscht zwischen Verteidigungs- und Außenministerium, immer die SPD-Opposition im Auge: wie konkret sollte ein Beginn des deutschen Abzugs ab wann ins Mandat geschrieben werden? Zur Dokumentation deshalb in voller Länger diese Begründung, wie sie das Kabinett dem Parlament zur Billigung vorlegt (die gefetteten Passagen habe ich hervorgehoben):

Ziel der Staatengemeinschaft bleibt ein souveränes und hinreichend stabiles Afghanistan, das die in  seiner Verfassung verankerten Menschenrechte achtet, das sich wirtschaftlich und sozial entwickeln  kann und von dessen Boden keine Gefahr für die Region und die Staatengemeinschaft ausgeht.  Der   Deutsche   Bundestag   hat   am   26. Februar  2010  das  Mandat   dafür  erteilt,  das  deutsche Engagement im Rahmen der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe für Afghanistan  (International Security Assisstance Force, ISAF) auf Basis der im Rahmen der Afghanistan- Konferenz in London am 28. Januar 2010 vorgenommenen Neuausrichtung fortzusetzen.

Kernelement dieser unter dem Leitmotiv „Übergabe in Verantwortung“ stehenden neuen Strategie ist der Schutz der afghanischen Bevölkerung und der Aufbau leistungsfähiger afghanischer Sicherheitskräfte als Voraussetzung für eine schrittweise Übergabe der Sicherheitsverantwortung, einer dadurch möglichen Reduzierung der internationalen Militärpräsenz und der sich anschließenden langfristigen Partnerschaft der NATO mit Afghanistan im Rahmen der Krisennachsorge.  

Die afghanische Regierung will bis Ende 2014 schrittweise die Sicherheitsverantwortung für ihr Land übernehmen. Der hierzu bei der Kabul-Konferenz am 20. Juli 2010 beschlossene und im Rahmen des NATO-Gipfeltreffens in Lissabon am 20. November 2010 bekräftigte Inteqal-Prozess bildet hierfür den international und mit der afghanischen Regierung abgestimmten Rahmen.

Die Bundesregierung hat diese politische Neuausrichtung aktiv mitgestaltet und im Laufe des Jahres 2010 ihren militärischen Beitrag dem durch den Deutschen Bundestag erteilten Mandat angepasst. Dazu gehören insbesondere
• die Aufstellung zweier Ausbildungs- und Schutzbataillone zu Ausbildung und Partnering mit den Verbänden der afghanischen Armee,
• der Einsatz weiterer Soldatinnen und Soldaten bei der Ausbildung und Mentoring der afghanischen Sicherheitskräfte,
• die Verbesserung der Führungsfähigkeit des Stabes des in deutscher Verantwortung stehenden Regionalkommandos Nord,
• die Eingliederung weiterer internationaler Truppensteller in der Nordregion, insbesondere der USA.

Darüber hinaus ist es erforderlich, zusätzliche Kräfte in Deutschland bereitzuhalten, um angemessen auf Lageentwicklungen reagieren zu können. Diese umfassen Sanitätskräfte und zusätzliche Feldlagerbetriebs- und Pionierkräfte zum Aufbau und Betrieb vorgeschobener Operationsbasen sowie das Ende 2010 zu Gunsten zusätzlicher Ausbilder für die afghanischen Sicherheitskräfte zurückgeführte Personal der Aufklärungsflugzeuge vom Typ Tornado RECCE.  Grundvoraussetzung für die Nachhaltigkeit der neuen Strategie sind leistungsfähige afghanische Sicherheitskräfte. Ihre Ausbildung, Ausstattung und Finanzierung erfordert erhebliche afghanische und internationale Anstrengungen. Derzeit sind etwa 150.000 afghanische Soldaten und 113.000
Polizeikräfte aufgestellt. Bei der Londoner Konferenz im Januar 2010 vereinbarte die internationale Gemeinschaft mit der afghanischen Regierung den gemeinsamen Aufbau von insgesamt rund 306.000 afghanischen Sicherheitskräften (171.600 Soldaten und 134.000 Polizisten) bis Oktober 2011.

Die Bundesregierung wird die Ausbildung afghanischer Polizisten weiterhin mit einer hohen Anzahl deutscher Polizeiausbilder und Experten im bilateralenProjekt sowie bei der Europäischen Polizeimission (EUPOL AFG) begleiten. Die Trainingskapazitäten für afghanische Polizisten werden weiter ausgebaut und für eine Übergabe an das afghanische Innenministerium vorbereitet. Der Bau von polizeilicher Infrastruktur wird fortgesetzt. Das bilaterale Projektteam wird die  Ausbildung in ausgewählten Distrikten fortsetzen und darüber hinaus die Train-the-Trainer Ausbildung für die afghanische Polizei intensivieren. Hierzu soll das deutsche Polizeitrainingszentrum Kabul auf dem Gelände der Nationalen Polizeiakademie im Februar 2011 nach Fertigstellung in Betrieb genommen werden. In diesem Polizeitrainingszentrum werden ausschließlich Trainerausbildungen afghanischer Polizisten durchgeführt. Damit werden wir dem Ziel der schrittweisen Übergabe der Ausbildungsverantwortung in afghanische Hände auch 2011 ein gutes Stück näher kommen. Die Bundesrepublik wird weiterhin zur Finanzierung der Gehälter der afghanischen Polizei beitragen. Die sozialbegleitenden Maßnahmen, wie die Alphabetisierung der afghanischen Polizei, werden in der gesamten Nordregion weiter fortgesetzt.

Der mit der Summe dieser Maßnahmen mögliche Beginn der Übergabe in Verantwortung ist nicht gleichzusetzen mit dem Abzug der internationalen Sicherheitskräfte, er erlaubt allenfalls deren allmähliche Verringerung in bestimmten Bereichen. Transition ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein Prozess. Erst wenn die afghanischen Kräfte die Sicherheitslage tatsächlich beherrschen können, wird abhängig vom Erfolg der Übergabe eine Reduzierung der internationalen Präsenz möglich. Diese „Übergabedividende“ soll zunächst in die Vorbereitung noch nicht übergabereifer Gebiete im Verantwortungsbereich der jeweiligen Führungsnationen reinvestiert werden, um damit die Lageentwicklung dort zielgerichtet zu beeinflussen.

Die Bundesregierung ist zuversichtlich, im Zuge der Übergabe der Sicherheitsverantwortung die Präsenz der Bundeswehr ab Ende 2011 reduzieren zu können und wird dabei jeden sicherheitspolitisch vertretbaren Spielraum für eine frühestmögliche Reduzierung nutzen, soweit die Lage dies erlaubt und ohne dadurch unsere Truppen oder die Nachhaltigkeit des Übergabeprozesses zu gefährden.

Afghanistan bleibt für die Staatengemeinschaft auch über die schrittweise Übergabe der Sicherheitsverantwortung hinaus eine langfristige Aufgabe. Nicht nur die Ausbildung und Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte wird fortgesetzt werden müssen. Insbesondere die zivile Aufbauhilfe in den Bereichen Regierungsführung und Entwicklung wird weiter an Bedeutung gewinnen. Denn nur wenn sich Afghanistan wirtschaftlich und sozial entwickelt und über einen funktionstüchtigen, rechenschaftspflichtigen und die Menschenrechte achtenden Staat verfügt, lässt sich Stabilität langfristig sichern. Eine dauerhafte regionale Stabilisierung erfordert darüber hinaus eine konstruktive Einbindung der Nachbarstaaten und aller in der Region einflussreichen Akteure.

Die Bundesregierung beabsichtigt daher, die 2010 beschlossene Erhöhung der Mittel für Wiederaufbau und Entwicklung in Afghanistan auf jährlich bis zu 430 Mio. Euro bis zum Jahr 2013 unverändert beizubehalten. Dabei ist vorgesehen, das Engagement in den Schwerpunktsektoren der deutsch-afghanischen Entwicklungszusammenarbeit – nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, Energieversorgung, Trinkwasserversorgung, Grund- und Berufsbildung sowie Regierungsführung – im Jahr 2011 fortzuführen und weiter zu intensivieren. Der regionale Schwerpunkt der deutsch- afghanischenEntwicklungszusammenarbeit liegt im Bereich des ISAF Regionalkommandos Nord. Zwei im Jahr 2010 neu geschaffene Instrumente – der Regionale Kapazitätsentwicklungsfonds und der Regionale Infrastrukturentwicklungsfonds – leisten dort gezielte Beiträge, die afghanischen Regierungsstrukturen auf Provinz- und lokaler Ebene zu stärken und als Entwicklungsakteure sichtbar werden zu lassen. Gleichzeitig unterstützt die Bundesregierung die Umsetzung der Reformen, die auf den Konferenzen von London und Kabul vereinbart wurden, über Beratungsleistungen und gezielte Reformanreize, unter anderem über den Afghanistan Wiederaufbau Treuhandfonds (Afghanistan Reconstruction Trust Fund – ARTF). Um Beiträge deutscher Nichtregierungsorganisationen (NRO) zum deutschen Gesamtengagement in Nord-
Afghanistan weiter zu fördern, beabsichtigt die Bundesregierung ihre NRO-Fazilität Afghanistan auch im Jahr 2011 fortzuführen.

Der Weg zu einem stabilen und sicheren Afghanistan erfordert letztlich eine „politische Lösung“, einen Prozess der Verständigung und des politischen Ausgleichs mit der Insurgenz. Die afghanische Regierung hat 2010 erste Schritte in Richtung einer politischen Konfliktbewältigung eingeleitet. Damit ist ein Prozess in Gang gekommen, der möglicherweise entscheidender Teil der politischen Lösung sein wird.

Insgesamt wird sich das internationale Engagement in Afghanistan in den Jahren 2011-2014 entscheidend verändern. Dies wird u.a. auch Thema der „Bonn II“-Konferenz Ende 2011 sein, deren Ausrichtung die Bundesregierung auf Wunsch der afghanischen Regierung zugesagt hat. Das internationale Engagement wird auch Thema der Debatten im Rahmen der deutschen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen 2011/2012 sein.

Eine umfassende Darstellung und Bewertung des deutschen Engagements im Rahmen des Vernetzten Ansatzes findet sich im Fortschrittsbericht, den die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag im Dezember 2010 vorgelegt hat.