G36: Das BAAINBw-Protokoll

EFK_23apr2013_G36

Die Berichterstattung über das Bundeswehr-Sturmgewehr G36 am vergangenen Wochenende ist ja hier auf massives Interesse gestoßen. Und nach den relativ kurzen Meldungen von Spiegel und Bild am Sonntag blieben ein paar Fragen offen.

Für die Kenner deshalb hier zur Dokumentation (auszugsweise) das Ergebnisprotokoll der Sitzung im Bundesamt für Ausrüstung und Informationstechnik der Bundeswehr (BAAINBw) im August, aus dem beide Medien knapp zitiert haben:

TOP 1: Bisherige Erkenntnisse zum G36
Historie:
– TTF G36 von 1993;
– K-Standsurkunde von 1994;
– Nutzung G36 in der Truppe seit 1996;
– Abschlussbericht 2006;
– Untersuchungen bei WTD91 und WIWEB zu Wärmeverhalten seit 2011; Auslöser war ein G36 mit geschmolzenem Handschutz durch extreme Schussbelastung;
– Besprechung im BMVg zu Wärmeverhalten 2012; BMVg AIN sieht auf dieser Grundlage kein Erfordernis zur konstruktiven, technischen Änderung des G36;
– Erhöhte Aufmerksamkeit im politischen, journalistischen und staatsanwaltlichen Bereich;
– Umsetzung von Maßnahmen 2012/2013;
Wesentliche Kernaussagen:
– G36 entspricht den Technischen Lieferbedingungen;
– G36 entspricht gem. Abschlussbericht den Anforderungen;
– Keine offiziellen Meldungen zu mangelhaftem Treffverhalten aus dem Einsatz;
– Nur Aussagen zu unzureichender Wirkung im Ziel , die keine Differenzierung hinsichtlich Präzision der Waffe, Munitionswirkung, Umwelteinflüssen oder Schützenfehler im Gefechtsstress ermöglichen;
– Geändertes Schießverhalten im Einsatz (Niederhalten, dann Aufnahme des gezielten Feuerkampfes);
– Untersuchungen der WTD91 und des WIWEB belegen Streukreisaufweitung und Verlegung des Haltepunktes bei Temperaturänderungen (durch Erhitzen bei Verschuss oder durch äußere Temperatureinflüsse). Die Effekte sind reversibel, wenn die Waffe wieder abkühlt;
– Ermittelte Ursachen für die Phänomene:
o Der Gehäusekunststoff im Bereich der Rohraufnahme ändert mit zunehmender Temperatur seine Federsteifigkeit, insbesondere nach Überschreiten des Glasübergangs-punktes. Hierdurch ändert sich das Schwingungsverhalten des Rohres, was zur Streukreiserweiterung führt. Durch hygroskopische Eigenschaften des Kunststoffes kann in extrem feuchter Umgebung der Glasübergangspunkt bis zur Raumtemperatur sinken, so dass der Effekt der Streukreiserweiterung dann bereits ohne schussbedingte Rohrerwärmung auftreten kann. (Die Erkenntnisse zu möglichen Veränderungen des Kunststoffes bedingt durch Feuchtigkeit wurde durch das WIWEB im Rahmen der Werkstoffuntersuchungen ermittelt. Eine Verifizierung durch Beschuss wurde noch nicht durchgeführt.)
o Die unterschiedlichen Wärmeausdehnungskoeffizienten der verbauten Materialien (Kunststoff / Metall) bedingen bei Erwärmung eine Verlegung des Haltepunktes. Dieser Effekt ist nach Größe und Richtung vorhersehbar.
o Die in jeder Waffe individuelle Ausrichtung der im Gehäusekunststoff enthaltenen Glasfasern bewirken bei Erwärmung eine nicht vorhersehbare Haltepunktverlagerung, die den oben beschriebenen Effekt überlagert.
(…)
TOP 5: G36 in der Zukunft: Anpassung des Forderungskataloges
Feststellungen:
– Die gem. TTF geforderte Nutzungsdauer von 20 Jahren für das System Gewehr G36 läuft in Kürze aus. (Unabhängig davon kann jede Waffe bis zum Überschreiten ihrer individuellen Belastungsgrenze genutzt werden.)
– Basierend auf den Erkenntnissen aus der bisherigen Nutzung sind erkannte Fähigkeitslücken zu identifizieren und Forderungen an ein zukünftiges System Sturmgewehr zu formulieren. Dabei sind u.a. folgende Aspekte zu berücksichtigen:
o Möglichkeit zur durchgehenden Bekämpfung des Feindes auch bei intensiven Gefechtshandlungen
o Kompatibilität zur zukünftigen REACH-konformen Munition
o Kompatibilität zu bisherigen Schnittstellen
o Präzisionsforderungen analog zu NATO-Partnern; insbesondere nach geplanter Überarbeitung der Testvorschriften NATO AC/225 (Panel III) D/14 mit explizitem Test für Warmschießverhalten
o Neues Schießausbildungskonzept und geändertes Einsatzprofil
– Optionen: Produktverbesserung G36 oder Beschaffung eines neuen Produktes. Die Beschränkung auf eine Produktverbesserung kann den Verfahrensweg um 1-2 Jahre beschleunigen, wenn eine Produktverbesserung zur Verfügung steht. Da eine solche nach Aussagen der Herstellerfirma erst entwickelt werden muss und somit risikobehaftet ist, ist die Option zur Ablösung durch ein neues Sturmgewehr in die Betrachtungen mit einzubeziehen. Der Zeit- und Kostenfaktor wird im Rahmen der technisch-wirtschaftlichen Bewertung durch den Projektleiter bei der Erarbeitung der CPM-Dokumente berücksichtigt.
– AHEntwg II 2 4 vertritt dazu folgende abweichende Position:
o Die Streukreisaufweitung inforge des Warmverhaltens ist nicht hinnehmbar. Im Einsatz ist es dem deutschen Infanteristen nicht sicher möglich, ein intensives Feuergefecht auf Kampfentfernungen über 100 m erfolgreich zu führen. Bis auf die Streukreisaufweitung und Verlegung des Haltepunktes bei Temperaturänderungen (durch Erhitzen bei Verschuss oder durch äußere Temperatureinflüsse) entspricht das G36 den Anforderungen und hat sich – u.a. als besonders zuverlässig – bewährt.
o Die konzeptionelle Ableitung einer Fähigkeitslücke ist daher schwierig.
o Vor Einführung eines neuen Sturmgewehrs wird die Kaliberfrage erneut zu diskutieren sein, einschließlich eines möglichen neuen NATO-standardisierten Kalibers.
o Das zeitliche Risiko und der finanzielle Aufwand (u.a. Projektelemente Ausbildung und Logistik) für die Einführung eines neuen Sturmgewehrs sind erheblich.
o Dabei bleibt unsicher, ob marktverfügbare Waffen in der Summe ihrer Eigenschaften tatsächlich besser als das G36 sind.
o Der Lösungsweg Produktverbesserung G36 ist nur realistisch, wenn ihn sowohl der öAG als auch der AN mit Nachdruck verfolgt.
o Bei einer lösungswegneutralen Initiative wird es daran mangeln und eine Produktverbesserung im Sinne einer self-fulfilling prophecy am Ende gar nicht mehr zur Auswahl stellen.
o Daher wird einer Initiative Produktverbesserung G36 gem. CPM 3.2.3.2. der Vorzug gegeben.
– Unabhängig vom Lösungsweg ist das System G36 bis zur vollständigen Umsetzung der Initiative weiter zu nutzen. In diesem Zeitraum ist das System G36 daher einsatzreif zu halten. Dies schließt Folgebeschaffungen sowie Modifikationen der Peripherie ausdrücklich ein.
Im IPT abgestimmte Entscheidung des PL:
– Fähigkeitslücke wird mit einer Initiative dem PlgABw vorgelegt. KdoHeer wird gebeten, die Federführung zur Erstellung der Initiative zu übernehmen.
– Die Initiative lässt – entsprechend der Mehrheitsmeinung im IPT – die Optionen der Produktverbesserung und der Beschaffung eines neuen Produktes offen. Beide Wege sind mit hoher Priorität parallel zu verfolgen um möglichst schnell eine Lösung/einen Lösungsweg festzulegen. Der Weg der Produktverbesserung und somit die Weiternutzung der vorhandenen Waffen im Grundbetrieb wird durch das Heer bevorzugt. Zeichnet sich jedoch ab, dass dies nicht oder nicht innerhalb eines akzeptablen Zeitrahmens (max. 1,5 Jahre Entwicklungszeit) möglich ist, muss umgehend die Rüstung eines neuen Produktes umgesetzt werden.
– Die Initiative ist unabhängig von den Projekten G36 Basis lang und G36 K Basis, da diese nur Anbauteile und Ergänzungssätze betreffen. Die Initiative wird daher durch diese Projekte weder obsolet, noch soll sie Anteile dieser Projekte enthalten. Sie darf durch die Projekte G36 Basis nicht verzögert werden.
– Im Rahmen der Materialverantwortung für die Einsatzreife sind bis zur Umsetzung der Initiative mit dem Hintergrund der zeitlichen Überbrückung Regenerationsmaßnahmen und Modifikationen der Peripherie für das Gewehr G36 und G36 K weiter durchzuführen.
– Die Beschaffungen G36A3 des Systems „Infanterist der Zukunft“ (IdZ) erfolgen weisungsgemäß.

Nachtrag: Heckler&Koch, der Hersteller des G36, reagiert mit einer dreiseitigen Stellungnahme auf Spiegel und BamS – und eher ein bisschen rotzig: Auch die aktuellen Medienberichte werden einer umfassenden rechtlichen Prüfung unterzogen.

Na denn, hier H&K zum Nachlesen: HK Stellungnahme_Sturmgewehr G36_ Seit fast 20 Jahren zuverlässig im Einsatz (2)

(Foto: Ehrenformation mit G36 bei der Kommandoübergabe des Einsatzführungskommandos am 23. April 2013)