Der Angriff auf die UN: Die Bundeswehr-Timeline

Nach dem tödlichen Angriff auf das UN-Gebäude in Masar-i-Scharif am 1. April hatte es zunächst – zumindest öffentlich – Unklarheiten über den Ablauf und die Informationen gegeben, was ISAF angeht. Das Bundesverteidigungsministerium hat dazu heute den zeitlichen Ablauf veröffentlicht, den ich hier zur Kenntnis und zur Dokumentation einstelle.

(Zunächst mal unkommentiert; ich war wegen der Vorstellung der PTBS-Studie – dazu in einem gesonderten Thread mehr – nicht auf der Bundespressekonferenz, auf der diese Timeline vorgestellt wurde.)

ISAF wurde zu keinem Zeitpunkt durch afghanische Sicherheitskräfte um Hilfe ersucht. Nach bisherigen Erkenntnissen galt dies auch für Hilfeersuchen der UN / UNAMA.

Um 13:40 Uhr (Ortszeit)  erhielt das PRT in Mazar-e Sharif (MES) die ersten Informationen über eine friedliche Demonstration in MES. Bis 16:30 Uhr ergibt das verfügbare Meldeaufkommen beim Regionalkommando Nord das Lagebild einer friedlichen Demonstration.

Bis 16:42 Uhr ändert sich dieses Lagebild hin zu einer gewalttätigen Demonstration, bei der es Tote gab.

Ab 16:52 Uhr wurden luftgestützte Aufklärungsmittel eingesetzt, gegen 19:00 Uhr erreichten erste ISAF-Kräfte (SWE) den UNAMA-Stützpunkt.

Ab 19:45 Uhr wurde eine Evakuierungsoperation zum Camp MARMAL durchgeführt, diese war um 22:44 Uhr abgeschlossen.

Die Bedrohungslage in MES wurde vor den Ereignissen als „mittel“ eingestuft.

Am vergangenen Wochenende kam es in verschiedenen afghanischen Städten zu Unruhen und Demonstrationen gegen die Verbrennung eines Korans in den USA unter anderem am 1. April 2011 in Mazar-e Sharif. Diese Demonstration begann ab ca. 14:00 Uhr friedlich und wurde durch die afghanische Polizei (ANP) abgeschirmt.

Die Sicherheitsverantwortung für Mazar-e Sharif liegt bei der afghanischen Polizei, die von der afghanischen Armee und von ISAF-Kräften unterstützt werden kann. Ein Unterstützungangebot des schwedischen PRT (ca. 2,5 km vom UNAMA Stützpunkt entfernt) im Vorfeld der Demonstration war von den afghanischen Sicherheitskräften abgelehnt worden. Durch die afghanischen Sicherheitskräfte wurde gegenüber COM RC(N) verdeutlicht, dass ein Eingreifen von ISAF Kräften kontraproduktiv und eskalierend auf die afghanischen Demonstranten wirken würde und sich daher afghanische Sicherheitskräfte sich dieser Aufgabe stellen müssten.

Ab 15:40 Uhr zogen etwa 500 gewaltbereite Demonstranten von der blauen Moschee zur örtlichen Liegenschaft der UNAMA, wo die Menschenmenge auf bis zu 3.000 Personen aufwuchs.
Die zunächst friedliche Demonstration eskalierte aus bisher noch unbekannten Gründen.

Ab 16:15 Uhr wurden Steine auf das Gebäude der UNAMA geworfen. Um 16:42 Uhr erhielt das Regionalkommando erstmals einen Hinweis über gewalttätige Auseinandersetzungen mit Todesfolge. Noch um 16:45 Uhr Ortszeit wurde das Regionalkommando Nord durch den stellvertretenden Polizeichef der Provinz Balkh darüber informiert, dass afghanische Polizei vor Ort wäre und die Lage unter Kontrolle sei.

Die afghanische Polizei und die Wachen des UNAMA-Stützpunktes waren jedoch, trotz Warnschüssen, nicht in der Lage, die Demonstranten aufzuhalten.

Gegen 17:00 Uhr afghanischer Ortszeit wurde der UNAMA-Stützpunkt gestürmt und in Brand gesteckt. Sieben UNAMA-Mitarbeiter fanden dabei den Tod, weitere wurden verletzt. Nach Angaben des afghanischen Polizeichefs wurden drei Demonstranten getötet.

Die afghanischen Sicherheitskräfte um den UNAMA-Stützpunkt wurden daraufhin innerhalb der folgenden zwei Stunden durch weitere afghanische Sicherheitskräfte verstärkt, insbesondere durch Einsatz des Kommandokandaks des 209. ANA Corps.

Ab 16:52 Uhr wurden über dem UNAMA-Stützpunkt luftgestützte Aufklärungsmittel eingesetzt. Desweiteren wurde jeweils eine schnelle Eingreiftruppe („Quick Reaction Unit“) im schwedischen PRT und im Lager des Regionalkommando Nord (Camp MARMAL) bereitgehalten. Erst nach aktiver Beratung auf allen Führungsebenen, zuletzt durch den Kommandeur des Regionalkommandos Nord beim Provinzgouverneur Atta, konnten ISAF Kräfte eingesetzt werden.

Gegen 17:30 Uhr erhielt die Operationszentrale des Regionalkommandos Nord die ersten Informationen, dass sich in einem sogenannten „safehouse“, einem weiteren UNAMA Gebäude in der Stadt, bis zu weitere 16 internationale Mitarbeiter aufhalten würden. Daraufhin wurden nach kurzer Befehlsgebung die bereitgehaltenen ISAF Kräfte des PRT MeS und des Regionalkommandos Nord eingesetzt.

Gegen 19:00 Uhr erreichten die ersten ISAF-Kräfte, Teile des schwedischen PRT MES, den UNAMA-Stützpunkt. Ab 19:45 Uhr wurde eine Evakuierungsoperation zum Camp MARMAL durch afghanische Sicherheitskräfte und ISAF-Kräfte, unter anderem ein deutscher Sicherungszug, zur Evakuierung der 14 überlebenden und der sieben getöteten UNAMA-Mitarbeiter durchgeführt. Die verletzten UNAMA-Mitarbeiter wurden anschließend im Feldlazarett behandelt.

Gegen 20:00 Uhr hatte sich die Demonstration aufgelöst und die afghanischen Sicherheitskräfte hatten das UNAMA-Gebäude wieder in eigener Hand.

Zu keinem Zeitpunkt wurde ein Hilfeersuchen der afghanischen Sicherheitskräfte an das Regionalkommando Nord oder das schwedische PRT MES gestellt. Nach bisher vorliegenden Erkenntnissen gab es auch kein Hilfeersuchen der UNAMA an das Regionalkommando Nord. Die Ermittlungen dauern derzeit noch an.

Nachtrag: Zur Ergänzung aus dem Protokoll der Bundespressekonferenz von heute, mit Antworten von Stefan Paris, Sprecher BMVg, Regierungssprecher Steffen Seibert und AA-Sprecher Andreas Peschke:

FRAGE : Herr Paris, gibt es zu Masar-i-Scharif und dem Sturm auf das dortige UN-Büro einen neuen Stand? Gibt es gegenüber dem Stand vom Wochenbeginn mehr, was Sie uns mitteilen können? Ist insbesondere der Vorwurf gerechtfertigt, die Bundeswehr habe dabei möglicherweise eine Hilfeleistung nicht erbracht, die sie hätte erbringen können?

PARIS: Ich fange einmal mit dem Letzteren an: Das denke ich nicht. Dieser Vorwurf ist nicht gerechtfertigt. Wir haben natürlich auch noch einmal entsprechende Berichte angefordert, und ich nehme gerne die Gelegenheit wahr, Ihnen noch einmal das, was zum jetzigen Zeitpunkt vorliegt, als Erkenntnis der Geschehnisse vom vergangenen Freitag in Masar-i-Scharif darzustellen.

Es ist so, dass die Demonstration gegen 14 Uhr in Masar-i-Scharif begonnen hat und durch die afghanische Polizei begleitet worden ist. Die Demonstration war zu diesem Zeitpunkt durchaus als friedlich zu bezeichnen. Vielleicht ist es wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Sicherheitsverantwortung in der Stadt Masar-i-Scharif bei der afghanischen Polizei liegt, die von der afghanischen Armee oder auch von ISAF-Kräften unterstützt werden kann. Ein Unterstützungsangebot, das die Schweden das PRT, das unmittelbar in der Nähe der Stadt Masar-i-Scharif liegt den afghanischen Sicherheitskräften unterbreitet haben, diese Demonstration seitens des PRT zu begleiten, ist von den afghanischen Kräften nicht in Anspruch genommen worden. Vielmehr wurde durch die afghanischen Sicherheitskräfte gegenüber dem Commander des RC North, das ist Generalmajor Kneip deutlich gemacht, dass eine Begleitung durch ISAF-Kräfte eher kontraproduktiv sei und gegebenenfalls auch eskalierend auf die Demonstranten wirken würde. Daher hätten sich die afghanischen Sicherheitskräfte dieser Aufgabe selbst zu stellen – so waren die Auskünfte der afghanischen Seite gegenüber dem Commander des RC North.

Im weiteren Verlauf des Nachmittags, ca. ab 15.40 Uhr, zogen etwa 500 Demonstranten von der Blauen Moschee zur örtlichen Liegenschaft der UNAMA. Dort ist diese Menschenmenge auf ungefähr 3.000 Personen angewachsen. Dann eskalierte diese zunächst friedliche Demonstration aus bisher noch unbekannten Gründen. Ab 16.15 Uhr – alle Zeiten sind Ortszeitangaben – wurden auch Steine auf das Gebäude der UNAMA geworfen. Um 16.42 Uhr erhielt das Regionalkommando Nord erstmals einen Hinweis auf gewalttätige Auseinandersetzungen. Noch um 16.45 Uhr, also drei Minuten später, wurde das Regionalkommando Nord durch den stellvertretenden Polizeichef der Provinz Balkh darüber informiert, dass die afghanische Polizei vor Ort sei und die Lage, so die Darstellung des afghanischen Polizeichefs, unter Kontrolle sei. Wie jetzt ja bekannt ist, waren aber die afghanische Polizei und auch die bei der UNAMA eingesetzten Wachen nicht in der Lage, die Demonstranten aufzuhalten, sodass gegen 17 Uhr afghanischer Ortszeit der UNAMA-Stützpunkt gestürmt und in Brand gesteckt wurde. Sie wissen, dass sieben UNAMA-Mitarbeiter dabei den Tod gefunden haben.

In den darauf folgenden Stunden nach 17 Uhr wurden dann für ca. zwei Stunden die afghanischen Sicherheitskräfte an diesem UNAMA-Stützpunkt durch weitere afghanische Sicherheitskräfte verstärkt, insbesondere durch Soldaten der Afghan National Army.

Ab 16.52 Uhr hat das Regionalkommando Nord eine luftgestützte Aufklärung über den Bereich geflogen. Dazu wurde eine kleine Aufklärungsdrohne namens „Heron“ genutzt. Parallel dazu wurde die schnelle Eingreiftruppe die sogenannte „Quick Reaction Unit“ im schwedischen PRT wie auch im Lager des Regionalkommandos Nord, also in Camp Marmal, bereit gehalten.

Dann wurde, das möchte ich unterstreichen, denn es ist wichtig, sehr stark auf die afghanische Seite eingewirkt. Es haben Beratungen bis hin zum Kommandeur des Regionalkommandos mit Provinzgouverneur Atta stattgefunden, dass doch besser ISAF-Kräfte eingesetzt werden sollen. Das ist dann mit dem entsprechenden zeitlichen Vorlauf, den das nun einmal benötigt, geschehen, sodass diese Kräfte, wie berichtet, gegen 19 Uhr an dem UNAMA-Compound eingetroffen sind und in der Folge die entsprechenden Unterstützungsmaßnahmen Verbringen der Verletzten in das Camp Marmal, Bergen der Toten abgelaufen sind.

Ab 20 Uhr hatte sich die Situation vor Ort beruhigt. Die Demonstration hatte sich aufgelöst. Die afghanischen Sicherheitskräfte hatten das UNAMA-Gebäude wieder unter ihrer eigenen Kontrolle. Es steht nach Recherchen, die angestrengt wurden, fest, dass zu keinem Zeitpunkt ein Hilfeersuchen der afghanischen Sicherheitskräfte an das Regionalkommando Nord und auch nicht an das schwedische PRT gerichtet worden sind.

In Bezug auf die Frage, ob es seitens der UNAMA solche Ersuchen gegeben hat, ist zu sagen, dass es diese nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen nicht gab. Sie wissen, dass das derzeit in Afghanistan zwischen ISAF und UNAMA untersucht wird und dass die Ermittlungen noch laufen.

Das ist das, was ich Ihnen vielleicht länglich, aber noch einmal im Zusammenhang dargestellt sagen kann.

ZUSATZFRAGE: Diese unglückliche Entwicklung im Zusammenhang mit dieser Demonstration basiert offenkundig wenigstens zum Teil auf einer falschen Lageeinschätzung der afghanischen Sicherheitskräfte. Ist das Anlass für das Regionalkommando Nord oder für die ISAF insgesamt, aus so einer Situation zu lernen, möglicherweise früher in Alarmbereitschaft zu sein und sich auch darüber hinwegzusetzen, dass die regionalen Sicherheitskräfte Hilfe ablehnen, aber offenkundig selber nicht in der Lage sind, die Situation zu bereinigen?

PARIS: Ich denke, dass ein solcher Vorfall auf jeden Fall, das ist nahezu schon zwingend, Anlass sein muss, im Nachgang darüber nachzudenken und insbesondere mit den afghanischen Sicherheitskräften zu beraten, wie man so etwas in Zukunft so gut wie möglich verhindern kann.

Ich glaube, man darf einen Punkt nicht vergessen: Nach solchen tragischen Ereignissen ist man immer ein Stück weit schlauer. Natürlich sagt man: Das hätte man alles erkennen müssen. Es war aber so, dass die Situation von der Sicherheitseinschätzung her in Masar-Stadt durchweg eine mittlere Situation gewesen ist. Die afghanischen Sicherheitskräfte dort sind gut aufgestellt. Dass sich diese Demonstration innerhalb so kürzester Zeit zu so einem solchen Gewaltakt hin entwickeln konnte, ist sicherlich im Nachhinein als überraschend anzusehen. Nichtsdestotrotz muss man diesen Vorgang natürlich aufarbeiten. Ich denke auch, dass das in Zukunft im Vorfeld ähnlicher Veranstaltungen seitens der afghanischen Sicherheitskräfte unter Beratung der ISAF sehr intensiv vorbereitet werden wird.

Wenn Sie zurückschauen, so fand im März das Newroz-Fest statt, wo eine unglaublich hohe Anzahl von Gästen in der Stadt zugegen war. Das Fest ist durch die afghanischen Sicherheitskräfte in Kooperation mit der ISAF sehr, sehr intensiv vorbereitet worden. Dort hat es keine Zwischenfälle gegeben. Dieser Zwischenfall ist mehr als bedauerlich, bietet aber natürlich auch noch einmal Anlass, dem nachzugehen und sich in Zukunft noch besser aufzustellen.

FRAGE: Herr Paris, waren unter diesen ISAF-Kräften, die am Ort eingetroffen sind und von denen Sie berichtet haben, schon deutsche Soldaten? Oder gilt weiter die Version, die auf der Homepage der Bundeswehr steht, dass deutsche Soldaten erst dabei waren, als es wenn ich das einmal so salopp formulieren darf „ans Aufräumen ging“?

Zweitens. Sie haben geschildet, dass ISAF-Kräfte die afghanischen Sicherheitskräfte gedrängt haben, ISAF-Kräfte dazu zu holen. War das zwingende Voraussetzung? Oder hätten ISAF-Kräfte nicht auch von sich aus eingreifen können?

PARIS: Zur letzten Frage: Das ist das, was ich eben mit der Formulierung meinte, dass man hinterher sagt: Das hätte man anders lösen können. Aber hinterher ist man, wie gesagt, immer ein Stück weit schlauer. Ich hatte Ihnen bewusst geschildert und so ist es auch gewesen , dass es bereits im Vorfeld seitens des schwedischen PRT gegenüber den afghanischen Polizeikräften die Frage, das Angebot gab: Möchtet ihr bei dieser Demonstration Unterstützung haben? Das ist nicht in Anspruch genommen worden. Insofern verdeutlicht das natürlich auch, dass die Afghanen, so ist es gewollt, und so wird es gesehen, diese Sicherheitsverantwortung in der Stadt tragen. Das tun sie auch.

Die ISAF-Kräfte sind natürlich auch ein Stück weit darauf angewiesen, dass dieses Petitum der afghanischen Sicherheitskräfte –  salopp gesagt: Das schaffen wir alleine – erst einmal so umgesetzt wird. Ich denke, es wäre kein gutes Signal, wenn man sagen würde: Das ist uns egal: Über das Angebot setzen wir jetzt trotzdem hinweg. Das wäre für den weiteren Prozess im Land sicherlich nicht förderlich.

Ich denke, es ist auch verständlich, dass dann, wenn es zu einer Lageverdichtung kommt – letztendlich sind die ISAF-Kräfte maßgeblich darauf angewiesen, ihre eigenen Lageerkenntnisse zu erheben; Stichwort Einsetzen einer Drohne – im Vorfeld eines Einsatzes mit den afghanischen Stellen gesprochen wird. Letztlich hat dies auf höchster Ebene zwischen Generalmajor Kneip und Provinzgouverneur Mohammed Atta stattgefunden, und im Ergebnis wurde gesagt: Ja, bitte unterstützen. Unterstützung natürlich auch im Nachgang zu diesen schrecklichen Vorkommnissen gegen 17 Uhr. Ich denke, dass das gegenüber den afghanischen Kräften und auch hinsichtlich der Situation vertretbar war, die sich letztlich erst sehr klar innerhalb dieses kurzen zeitlichen Ablaufs darstellte, als durch die Überwachung eines Drohnen-Flugzeugs die Lage von den ISAF-Kräften noch besser eingeschätzt werden konnte.

Zur ersten Frage, die Sie gestellt haben: Es ist so das hatte ich vorgetragen , dass die bereitgehaltenen ISAF-Kräfte des PRT Masar-i-Scharif und auch des Regionalkommandos Nord eingesetzt worden sind. Die Antwort, ob die Kräfte im Regionalkommando Nord tatsächlich deutsche Kräfte waren, reiche ich gerne nach. Das kann ich nicht sagen.

FRAGE: Herr Paris, was gab es auf diesen Überwachungsbildern zu sehen, was dann zu der Neueinschätzung der Lage seitens des PRT geführt hat?

PARIS: Ich habe diese Drohnen-Bilder selbst nicht gesehen. Aber Drohnen können anschaulich machen, in welchen Bereichen von Städten, Ortschaften oder Geländeansammlungen Personen vorhanden sind und in welchem Maß es Ansammlungen von Personen gibt. Das hat Anlass gegeben, ein eigenes Bild der Lage zu erstellen. Für jede Operation, die in Afghanistan durchgeführt wird sei es eine solche Maßnahme, die am vergangenen Freitag durchgeführt wurde, sei es jedwede andere Situation , gilt, dass die eigene Lageeinschätzung immer dem Einsatz vorausgehen muss.

ZUSATZFRAGE: Geht die Bundeswehr davon aus, dass das eine konzertierte Aktion gewesen ist? Der Anwuchs von 500 auf 3.000 Demonstranten innerhalb kürzester Zeit spricht nicht unbedingt für eine spontane Geschichte.

PARIS: Diese Wertung möchte ich nicht vornehmen. Ich denke, das bedarf der Nachbereitung. Es wäre verfrüht, dazu jetzt eine Stellungnahme abzugeben.

FRAGE: Herr Paris, Sie haben gesagt, dass so ein Ereignis immer Anlass bietet, Konsequenzen zu ziehen. Sie haben sich zu konkreten operativen Überlegungen bei der Abstimmung zwischen ISAF und afghanischen Sicherheitskräften geäußert. Ist das Anlass für den Minister, die Abzugsperspektive zu überdenken?

PARIS: Nein, das ist nicht Anlass, darüber nachzudenken, wie die Frage der Sicherheitsübergabe in Verantwortung weiter gehen soll. Es ist Anlass, darüber nachzudenken, wie noch intensiver im Vorfeld solcher Ereignisse demonstrative Akte oder sonstige Ereignisse die Abstimmung und auch die insbesondere Beratung mit den afghanischen Sicherheitskräfte stattfinden wird. Das ist ein sehr bedauerliches Ereignis; das kann ich nur noch einmal unterstreichen.

Wenn Sie sehen, dass der afghanische Präsident die Stadt Masar-i-Scharif für diesen „transition process“ als einen der ersten Orte in Afghanistan genannt hat, ist das etwas, was man im Nachhinein gesehen für die Zukunft nur verbessern kann. Das gilt in Sonderheit auch für die afghanischen Sicherheitskräfte. Insofern ist das für uns kein Anlass, davon abzurücken was (auch immer) in den kommenden Monaten auch passieren wird; vorbehaltlich das haben wir immer dazu gesagt der allgemeinen Lagenentwicklung im Land. Das ist ganz klar.

FRAGE: Herr Paris, Herr Seibert, es gibt Berichte, dass der afghanische Präsident durch öffentliche Auftritte dazu beigetragen hat, diese Koran-Verbrennung in Florida in Afghanistan publik zu machen. Sieht die Bundesregierung da irgendeinen Zusammenhang? Ist das nach Einschätzung der Bundesregierung eskalierend gewesen? Hat man sich in dieser Hinsicht mit der afghanischen Regierung ins Benehmen gesetzt?

STS SEIBERT: Zunächst einmal zeigt dieser wirklich in allen Details entsetzliche Vorfall, dass wir es in Afghanistan immer noch teilweise mit Kräften zu tun haben, die bereit sind, Menschen, die aus ihrer Sicht Ungläubige sind, kaltblütig zu ermorden. Die UN-Mitarbeiter, die dort gestorben sind, sind gestorben, um Afghanistan und die Afghanen in ein besseres Leben zu führen und sie vor genau solchen Menschen zu beschützen. Ich denke, das zeigt dieser Vorfall.

Ich kann keine wirklichen Vermutungen darüber anstellen, was die Motivation dieser Mörder war, es sind Mörder, welche genaue Geisteslage und welche Informationsketten zu diesen Morden geführt haben. Darüber will ich hier nicht spekulieren. Natürlich ist das etwas, was bei allen Regierungskontakten mit der Regierung in Kabul angesprochen werden wird. Ich kann Ihnen nicht genau sagen, welche Kontakte es seit diesen fürchterlichen Ereignissen in Masar-i-Scharif gab. Vielleicht können die Kollegen hier auf der Sprecherbank etwas dazu sagen. Ich kann es nicht sagen.

PARIS: Ich kann nur ergänzen, dass letztendlich vor dem Hintergrund dessen, was ich vorgetragen habe, diese Kontakte in den Verantwortungsbereichen gesucht und gepflegt worden sind, wo Kräfte der Bundeswehr im ISAF-Mandat stehen. Das ist dort besprochen worden. Ob das auf höherer Ebene stattgefunden hat, entzieht sich meiner Kenntnis.

PESCHKE: Ich kann ergänzen, dass der Beauftragte der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan, Herr Steiner, die ganze Zeit über unaufhörlich und kontinuierlich hinsichtlich dieses Vorfalls mit der afghanischen Seite im Kontakt gestanden hat. Er hat bei diesen Kontakten die klare Haltung der Bundesregierung gegenüber dem Ausgangsereignis deutlich gemacht, nämlich die Koranverbrennung durch einen Pastor in den USA. Er hat der afghanischen Seite gegenüber deutlich gemacht, dass unsere Haltung zu diesem Ereignis genauso klar ist, wie zum Beispiel die Haltung der Vereinigten Staaten von Amerika, die in der Rede von Präsident Obama ausgedrückt wurde, nämlich dass wir die Schändung religiöser Symbole klar verurteilen.

FRAGE: Um es besser zu verstehen: Herr Paris, Sie haben ausgeführt, dass ein Einsatz der internationalen Schutztruppe sozusagen über die die Köpfe der Regionalprovinzchefs hinweg politische Folgen hätte und dass man eigentlich das Prinzip Eigenverantwortung stutzen möchte. Das leuchtet mir auch ein. Ganz faktisch: Hätte diese Möglichkeit bestanden? Hätte Herr Kneip auch aufgrund der Drohnen-Aufklärung anders entscheiden und den Einsatz befehlen können? Wenn ja, belegt dann so ein Fall nicht, dass man letztendlich Menschenleben aufs Spiel setzt, um diesem Prinzip Eigenverantwortung mehr Raum zu geben?

PARIS: Letzteres weise ich zurück, dass man irgendwo mit Menschenleben spielt, um zu erreichen, dass die Eigenverantwortung auch funktioniert.

Der andere Aspekt ist immer die Frage nach dem „hätte“. Hätte man nicht besser (anders entschieden)? Ich habe Ihnen vorhin ganz bewusst den zeitlichen Ablauf vorgetragen. Ich habe Ihnen dargestellt, dass es im Vorfeld ein Angebot der Unterstützung gab. Ich habe Ihnen dargestellt, dass seitens der afghanischen Sicherheitskräfte noch um 16.45 Uhr immerhin vom stellvertretenden Polizeichef gesagt wurde: Wir haben alles im Griff. Es ist nichts.

Unmittelbar danach ist zu eigenen Aufklärungszwecken eine Drohne eingesetzt worden, um zu schauen, was eigentlich wirklich los ist. Im Nachgang dazu ist entschieden worden: Wir halten unsere Kräfte bereit. Wir schicken unsere Kräfte dorthin, und zwar unter der Maßgabe, dass man sich vorher mit der afghanischen Seite darüber abstimmt. Es ist auch klug, sich darüber abzustimmen. Mir liegt es jetzt fern, diese hypothetische Frage zu beantworten, ob das nicht alles irgendwie hätte anders sein können. Ich habe Ihnen nach bestem Wissen dargestellt, wie es sich zugetragen hat. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass es sich um ein ziemlich kleines Zeitfenster gehandelt hat, in dem diese Ereignisse vor Ort eskaliert sind.

ZUSATZFRAGE: Ich stelle die Frage gerne noch einmal im Indikativ und nicht im Konjunktiv. Es ist eine rein formale Frage gewesen, die ich gestellt habe. Hat Herr Kneip die Möglichkeit, diese Einschätzung des Provinzchefs im Zweifel zu toppen? Ja oder Nein?

PARIS: Ja.

FRAGE: Zum Zeitablauf: Sie sagen, dass gegen 17 Uhr der Compound in Brand gesetzt worden sei. Liegen Informationen vor, wann es genau zur Tötung der Mitarbeiter gekommen ist?

PARIS: Nein. Ich habe nur die Information, dass es gegen 17 Uhr zu dieser Stürmung und Inbrandsetzung des Gebäudes gekommen ist. Wann es genau an den Morden an den Personen gekommen ist, kann ich Ihnen nicht sagen.