Wehrpflicht in Schweden: Mythen und Wahrheit

In der aktuellen Debatte um eine (Wieder)Einführung der Wehrpflicht in Deutschland wird immer wieder das schwedische Modell als eine Möglichkeit genannt – auch wenn oft nicht klar ist, was damit genau gemeint ist. Das skandinavische Land hatte 2018 die Wehrpflicht für Männer und Frauen nach neun Jahren wieder eingeführt. Der Verteidigungsattaché der schwedischen Botschaft in Berlin, Kapitän z.S. Jonas Hård af Segerstad, war damit als Referatsleiter im Verteidigungsministerium befasst und erläutert in einem Gastbeitrag, was dieses schwedische Modell ist, wofür es gedacht ist – und wofür nicht.

Im letzten Jahr habe ich ein zunehmendes Interesse für die in 2018 wieder aktivierte Wehrpflicht in Schweden erkannt und verfolge als Attaché natürlich mit großem Interesse die deutsche Debatte, wie die Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr zu erreichen ist. Es gibt zwischen der deutschen und der schwedischen Verteidigungspolitik viele Parallelen, die fast gleichzeitige Aussetzung der Wehrpflicht ist nur ein Beispiel.

Schweden hat jedoch die Wehrpflicht wieder aktiviert. Warum? Wie funktioniert das schwedische Modell und welche Ähnlichkeiten und Unterschiede zur früheren deutschen Wehrpflicht gibt es? Als Attaché in Deutschland ist es nicht nur meine Aufgabe, Berichte über Deutschland nach Hause zu schreiben, sondern auch Information über Schweden hier zu verbreiten.

Für die Möglichkeit, einen Gastbeitrag zu schreiben bin ich deswegen sehr dankbar (und bitte als Nichtdeutscher schon vorweg für die sprachlichen Schwächen um Verständnis). Ich habe mich überdurchschnittlich viel mit dem Thema Personal im Kriegsfall beschäftigt, vor allem als Referatsleiter Organisation während der Reaktivierung der Wehrpflicht.

Hintergrund 1902-2018

Ein kurzer Blick in die Geschichte ist immer gut, und ist auch für die politischen Aspekte wichtig. Schweden führte im Jahr 1902 die Wehrpflicht ein. Das alte System, in dem Dörfer und Gemeinden für Hundertschaften und Pferde verantwortlich waren, war mit der Urbanisierung und der zunehmenden Technisierung der Kriegführung einfach überaltert. Die Einführung der Wehrpflicht lief fast parallel zur Demokratisierung der Gesellschaft und wurde zum Teil als Argument für das allgemeine Stimmrecht verwendet – Ein Mann, ein Gewehr, eine Stimme!, lautete ein Schlagwort damals. Dies ist auch ein Grund, warum die schwedische Wehrpflicht – anders als in Deutschland – eher von den linken Parteien hoch geschätzt ist.

Die Wehrpflicht wurde dann über Jahrzehnte als Rückgrat der schwedischen Verteidigung gesehen. Während des Kalten Krieges wurden fast die ganzen Jahrgänge einberufen. Fast 50.000 junge Männer pro Jahr haben die Grundausbildung gemacht, um die Verteidigungsfallstärke von 800.000 Soldaten (25 Prozent der männlichen Bevölkerung) aufrechtzuerhalten. Die Anzahl der Berufssoldaten betrug 17.000 Offiziere und Unteroffiziere, also nur ein geringer Teil der Armee.

Aber mit dem Ende des Kalten Krieges drehte sich die Politik in Schweden genau wie in Deutschland. Die Landesverteidigung wurde mit Auslandseinsätzen ersetzt, und für sie konnten und können wehrpflichtige Soldaten nicht eingesetzt werden. Das Gesetz ist in diesem Punkt eindeutig.

2009 wurde die Wehrpflicht deaktiviert. Das heißt, das Gesetz ist passiv geblieben, aber es wurde gleichzeitig geschlechtsneutral gemacht. Bei einer Reaktivierung sollte die Wehrpflicht sowohl Frauen als auch Männer umfassen. Davor war für Frauen der Wehrdienst freiwillig. Schweden wechselte in eine Berufsarmee mit ausschließlich angestellten Soldaten, die in Auslandseinsätze befohlen werden konnten. Dies bedeutete auch einen geringeren Bedarf, da die Grundausbildung „nur“ die Vorbereitung für die Verpflichtung als Mannschaftsoldat auf Zeit geworden ist. Etwa 3.500 pro Jahr wurde als Ziel gesetzt.

Zwischen 2010 und 2017 kamen deswegen nur Freiwillige in die Streitkräfte. Im Jahr 2017 entschied das Parlament, die Wehrpflicht zu reaktivieren. Diese Entscheidung beruht auf mehreren Gründen:

• Die Landesverteidigung kommt nach der russischen Aggression wieder.
• Die Landesverteidigung braucht eine deutlich größere Masse von Soldaten für den Kriegsfall.
• Das Ziel von 3.500 ist mit Freiwilligen nur ein Jahr erreicht, und wäre für die neue Lage nicht genug. Im Durchschnitt kamen nur 2.200 Freiwillige pro Jahr.
• Die Befürworter – die linken Parteien – hatte die Mehrheit im Parlament und haben die Möglichkeit nicht verpasst, eine von Ereignissen überrannte Entscheidung der Opposition umzuwerfen.

Zwischen 2010 und 2017 nur Freiwillige, ab 2018 Pflicht. Ziel ab 2025 ist 8.000 pro Jahr.

Wie funktioniert denn die schwedische Wehrpflicht?

Die Wehrpflicht ist in Schweden eine von drei Totalverteidigungspflichten. Außer der Wehrpflicht gibt es auch die Zivilpflicht und die allgemeine Dienstpflicht. Hier ist kein Platz um sie tiefer zu thematisieren, es reicht zu sagen dass die zwei letzten für die zivilen Teile der Totalverteidigung bestimmt sind. Die Wehrpflicht ist natürlich ausschließlich für die Streitkräfte da.

Ein Unterschied zwischen Deutschland und Schweden ist die Sicht auf Wehrgerechtigkeit. Wir haben sie nicht. In Schweden wird der Bedarf an Wehrpflichtige von der Größe der Streitkräfte im Kriegsfall bestimmt, und davon leitet sich die Anzahl für die Grundausbildung pro Jahr ab. In Schweden werden so viele einberufen, wie es dieser Anzahl entspricht. Es wäre gegen das Gesetz, alle 100.000 in einem Jahrgang einzuberufen, wenn für die Mehrheit keine Kriegsfallsbeorderung folgen würde.

Die Zielgröße der schwedischen Streitkräfte liegt um 116.000 im Kriegsfall. Von denen sind zirka 46.000 Wehrpflichtige vorgesehen.

Ziel und Hauptzweck des Wehrpflichtsystems ist es also, diese 46.000 auszubilden. Die Systematik dahinter ist recht einfach. Nach der Grundausbildung folgt eine Beorderung in z.B. eine Brigade. Diese erste Beorderung dauert sechs bis acht Jahre, und beinhält eine oder zwei Wehrübungen, die auch Teile der Wehrpflicht sind – keine freiwillige Teilnahme. Nach der ersten Beorderung können eine zweite folgen, normalerweise in die territorialen Einheiten, in Einheiten die hinter der Front ihre Aufgaben haben oder in die Reserve, wo schwedische Wehrpflichtige bis zum 47. Lebensjahr bleiben können. Ein Achtel jeder Brigade wird also jährlich von neuausgebildeten Wehrpflichtigen ersetzt.

Ab 2025 ist das Ziel, 8.000 Wehrpflichtige pro Jahr in die Grundausbildung einzuberufen. Die Anzahl wird in Schweden vom Oberbefehlshaber (Chief of Defence, CHOD) entschieden. Mit einer Stehzeit von acht Jahren bedeutet dies eine theoretische Anzahl von 64.000 für den Kriegsfall. Diese Anzahl wird sogar mit der zweiten Beorderung höher. Aus den 8.000 muss jedoch mit ungefähr 500 Ausfällen während der Grundausbildung gerechnet werden. Von den 8.000 werden auch viele von den Offiziersanwärtern rekrutiert und so bleiben ungefähr 7.000, die jedes Jahr in die Streitkräfte beordert werden können. Die Zahlen sind auch für eine Ersatzreserve ausreichend.

Wie werden die Wehrpflichtigen ausgewählt?

In jedem Jahrgang stehen wie erwähnt 100.000 junge Frauen und Männer zur Verfügung. Dem Gesetz nach sind alle verpflichtet, sich prüfen zu lassen. Alle 18-jährigen schwedischen Staatsbürger bekommen deswegen einen Fragebogen, mit 40 Fragen zur Gesundheit, zum körperlichen Zustand, zur Schule, zur Persönlichkeit und zu eventuellen Straftaten. Der Bogen schließt mit ein paar Fragen zur Motivation ab: wie ist die persönliche Einstellung zur Grundausbildung?

Zusammengenommen ergeben diese Antworten ein erstes Bild davon, wer sowohl physisch und psychisch geeignet für die Grundausbildung sein könnte und wie die Motivation aussieht. Diese Befragung liegt der Auswahl zur zweitägigen Musterung zugrunde, der sich 30.000 Männer und Frauen unterziehen müssen. Von diesen werden schließlich die 8.000 für die Grundausbildung ausgewählt.

Die Befragungen werden allerdings nicht nur für die Auswahl zur Grundausbildung benutzt. Sie können auch später als Unterlagen für andere Aufgaben in der Totalverteidigung benutzt werden.
Die wichtigsten und vielleicht auch interessantesten Aspekte der Auswahl im Pflichtsystem sind:

• die Anzahl für die Grundausbildung steigt deutlich. Keine Überraschung.
• Der Anteil der Grundausgebildeten, die sich nach der Grundausbildung weiter verpflichten, sinkt mit dem Pflichtsystem.
• Die persönlichen Leistungsprofile denen, die im Pflichtsystem ausgewählt werden, sind besser als die bei den Freiwilligen.
• Ein höherer Anteil der Einberufenen erfüllen die formalen Forderungen für die Offiziersausbildung als vorher die Freiwilligen.
• Die Dienstposten mit den höchsten Anforderungen sind die meist nachgefragten.
• Unter den Männern sind die mit den besten persönlichen Eigenschaften gleichzeitig die, die für die Grundausbildung hochmotiviert sind. Unter den Frauen ist diese Kovarianz geringer vorhanden. Das Pflichtsystem begünstigt insofern die Männer.
• Junge Männer schätzen sich selbst höher ein als die Musterung sie später einstuft. Bei Frauen verhält es sich umgekehrt. Die Bewertung der Fragebogen ist mittlerweile dafür angepasst, um gut geeignete Frauen nicht zu übersehen.

Die ersten Schlüsse daraus, sind dass das Pflichtsystem seinen übergeordneten Zweck erfüllt: die Kriegsfallsorganisation zu bemannen. Um junge Männer und Frauen zu gewinnen, die sich als Mannschaftsoldaten nach der Grundausbildung weiter verpflichten, ist es weniger geeignet. (s. Tabelle)

Der Anteil von Verpflichtungen nach der Grundausbildung sinkt 2018, nach der Zeit mit Freiwilligen

Der Unterschied der Freiwilligkeit gegenüber scheint zu sein, dass die ausgewählten Wehrpflichtigen nicht nur eine Auswahl, sondern eher eine Auslese sind, die gerne ein herausfordernderes Jahr in den Streitkräften machen, aber andere Ziele im Leben haben als sechs Jahre als MG-Schütze zu sein. Jägerzug oder Jurastudium?

Für die Rekrutierung zum Offizierslaufbahn ist das System jedoch klug, da es die dafür richtigen auswählt und ihnen einen Einblick in die Streitkräfte gibt, den sie sonst nie bekommen hätten. Dies sorgt auch für eine wichtige Verwurzelung in der Gesellschaft, da es zunehmend Bürger aller Schichten gibt, die die Wehrpflicht absolviert haben – und sei es nur ein kleiner Anteil.

Es ist mit 6.000 oder 8.000 pro Jahr noch einfach, gut Geeignete, die gleichzeitig motiviert sind, für die Grundausbildung zu finden. Die Frage ist, wie es mit einer Erhöhung auf 10.000 oder 15.000 aussehen würde. Der guten Stellung der schwedischen Streitkräfte nach, sehe ich dies positiv an, aber es ist ein Faktor, mit dem wir rechnen müssen.

Eine andere Schlussfolgerung ist, was die Wehrpflicht für das schwedische Engagement in der NATO bedeuten wird. Wir haben die Wehrpflicht 2017 mit der bündnisfreien Landesverteidigung im Blick reaktiviert. Der Bedarf damals war „Masse nach der Mobilmachung“, aber weniger Einheiten, die schon im Normalfall aktiv sind. Der Einsatz von Wehrpflichtigen in der Abschreckung an der Ostflanke ist nämlich nicht möglich. Hier können nur stehenden Einheiten mit angestellten Soldaten eingesetzt werden.

Wenn ich als Außensteher einen Rat an die Bundeswehr geben darf: stellt fest welche Probleme eine Reaktivierung lösen soll! Die Wehrpflicht ist kein Allheilmittel, die alle Sorgen aus der Welt schafft.

(Archivbild 2016: Soldaten der schwedischen Heimwehr (Hemvärnet) bei einer Übung – Bezav Mahmod/Försvarsmakten)