NATO-Nuklearübung: Ungewöhnlicher öffentlicher Schlagabtausch

Die regelmäßige Nuklearübung Steadfast Noon ist eines der nicht ganz so geheimen Geheimnisse der NATO: Dass europäische Mitglieder der Allianz den Einsatz von US-Atomwaffen trainieren, lässt sich schon angesichts der Vielzahl von beteiligten Flugzeugen nicht wirklich der Öffentlichkeit entziehen. Das Auffällige an der diesjährigen Übung in Deutschland und den Niederlanden ist deshalb nicht, dass sie stattfand und dass sie bekannt wurde – sondern wie die NATO und Russland diesmal damit öffentlich umgegangen sind.

Die Informationen und Fotos der beteiligten Luftstreitkräfte bei Steadfast Noon gibt es seit Jahren immer wieder (hier Beispiele von 2014, 2015 und 2017): In Deutschland, aber auch in den Niederlanden und Belgien üben die deutsche Luftwaffe und Verbündete, wie die so genannte Nukleare Teilhabe praktisch umgesetzt werden könnte, bei der die US-Atombomben von deutschen und anderen Piloten ins Ziel gebracht werden sollen.

Erstmals allerdings gab es in diesem Jahr eine öffentliche Bestätigung dieser Übung durch die NATO selbst: Generalsekretär Jens Stoltenberg und der militärische Oberbefehlshaber, der US-General Tod Wolters, besuchten zusammen mit der niederländischen Verteidigungsministerin Ank Bijleveld die Basis Volkel in den Niederlanden. Dabei sprach das Bündnis ganz offen von der jährlichen Nuklearübung, allerdings ohne den Begriff Steadfast Noon zu gebrauchen:

Secretary General Jens Stoltenberg attended NATO’s annual nuclear exercise at Volkel airbase in the Netherlands on 16 October 2020 alongside Dutch Defence Minister Ank Bijleveld as well as NATO’s top military commander, General Tod Wolters.
“This exercise is an important test for the Alliance’s nuclear deterrent,” the Secretary General said. “It is a routine, defensive exercise. And it is not directed against any country. The purpose of NATO’s nuclear deterrent is not to provoke a conflict but to preserve peace, deter aggression and prevent coercion. In an increasingly uncertain world, our nuclear forces continue to play an important role in our collective defence,” he added.
This exercise is long-planned and is not linked to any current world events. With more than 50 aircraft from across the alliance taking part, the exercise is hosted by a different NATO country each year. This year, training flights are taking place over parts of western Europe and the North Sea. Aircraft involved in the exercise do not carry live bombs.

Ebenso ungewöhnlich wie diese öffentliche Mitteilung der NATO war in diesem Jahr die genauso öffentliche Reaktion Russlands. Auch wenn die Position weder neu noch überraschend ist – aber dass es so im wöchentlichen Briefing von Außenministeriumssprecherin Maria Zakharova auftauchte, war schon nicht ganz die Norm:

Media reports on NATO exercises in Germany in mid-October with a terrific title, Steadfast Noon, have come to our attention. Reportedly, these exercises involved the fine-tuning of skills for using nuclear weapons as part of the alliance’s “joint nuclear missions.” Fighter-bombers from a number of countries equipped to use American nuclear weapons that are deployed in Europe were involved in the exercises. Deployed US nuclear weapons will remain not only in Germany, but also in Belgium, Holland, Italy and Turkey. The Americans will upgrade their nuclear bombs, and European NATO members will upgrade the aircraft carrying these weapons.
Once again, we are compelled to point out that amidst the crisis in arms control, the unlimited buildup by certain states and their allies, as well as their alliances, of their military capabilities and, especially, the provocative training in carrying out nuclear missions harm international security, destabilise the international situation and could well lead to disastrous consequences.
By the way, the very NATO agencies that engage in countering a so-called Russian information threat could use their resources to tell the Europeans about these exercises in more detail, so that they understand what kind of exercises are taking place on their respective territories or their airspace. They could even show some pictures and infographics and also use computer graphics for the Europeans to get a better idea of what kind of strikes were being practiced on their territory, albeit in a test mode. Our NATO colleagues usually do this with regard to Russia, so this time they are welcome to do so with regard to themselves. Go ahead and show your people what kind of scenarios you are working on, because these are practical scenarios after all.
The US practice of exercises related to preparing and using nuclear weapons by the personnel of the armed forces of states that do not possess such weapons is an outright and flagrant violation of articles 1 and 2 of the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons (NPT), which significantly undermines its viability.
There can be only one solution to this problem, namely, to return all US nuclear weapons to US national territory, to eliminate the corresponding infrastructure which provides for rapid deployment of these weapons on the territories of other states, as well as a refusal to conduct exercises involving the preparation and use of nuclear weapons by personnel of the armed forces of the states that do not possess such weapons.

Und dann gab’s noch eine weitere russische Reaktion: Am (gestrigen) Freitag wurde der deutsche Verteidigungsattaché in Moskau ins russische Verteidigungsministerium eingeladen. Auch das machte die russische Regierung öffentlich:

On October 23, the Defence Attaché at the Embassy of the Federal Republic of Germany in Moscow was invited to the Ministry of Defense of the Russian Federation. The German military representative was informed about the position of the Russian Defence Ministry on the participation of the German side in NATO military exercises «STEADFAST NOON» and «RESILIENT GUARD» where the use of American tactical nuclear weapon was practiced.
The Defence Attaché was told that involving personnel and dual-purpose aviation of non-nuclear NATO-States as the Federal Republic of Germany in practicing the scenarios of using nuclear weapon is a flagrant violation of the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons.
Such actions lead to lowering the threshold for use of nuclear weapons, incite tensions through Russia-NATO line of contacts, and adversely affect the level of trust in Europe.

Da fällt dann noch eine Merkwürdigkeit auf: Die Luftverteidigungsübung Resilient Guard, über die die Luftwaffe – im Gegensatz zu Steadtfast Noon – ausführlich öffentlich informierte, hatte sicherlich einen zeitlichen, räumlichen und inhaltlichen Zusammenhang zur Nuklearübung. Aber sie war eine deutsche Übung, bei der die Abwehr von Bedrohungen aus der Luft trainiert wurde – nicht der Einsatz von Atomwaffen. Dass das russische Verteidigungsministerium seine Kritik an nuklearen Übungen auf eine solche Flugabwehrübung ausweitet, ist ein bisschen irritierend. Und stellt die Argumentationslinie, Deutschland verstoße mit der Nuklearen Teilhabe gegen den Atomsperrvertrag, schon wieder infrage.

Vor diesem Hintergrund wird dann verständlicher, warum die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer in ihrer Rede zur Entgegennahme des Medienpreises der Steuben-Schurz-Gesellschaft am Freitagabend ganz gezielt einen Schwerpunkt bei der Nuklearen Teilhabe setzte:

Deutschland sollte sich sehr entschlossen zur Fortsetzung seiner nuklearen Teilhabe innerhalb der NATO bekennen und die Mittel dafür bewilligen.
Ich habe dazu im April einen Vorschlag für die Tornado-Nachfolge vorgelegt.
Nukleare Teilhabe ist kein Selbstzweck, sie hat ein politisches Ziel.
Solange es Staaten mit Atomwaffen gibt, die unsere Wertegemeinschaft aktiv herausfordern, brauchen wir eine starke Verhandlungsposition. Die Nukleare Teilhabe dient diesem Zweck, heute wie damals.
Die Bedrohung, der wir ausgesetzt sind, wird in Deutschland leider nicht ausreichend wahrgenommen: Russland hat nur einige hundert Kilometer vor unseren Grenzen Marschflugkörper und moderne Raketen stationiert, die ohne große Vorwarnzeit Deutschland erreichen können. Das geschah gegen geltende Rüstungskontrollverträge und im Geheimen. Das nukleare Bedrohungspotential Russlands hat sich drastisch erhöht!
Selbstverständlich wissen wir nur zu gut darum, dass es bei Europas Sicherheit nicht nur um nukleare Bedrohungen geht. Wir verlieren die konventionellen Gefährdungen nicht aus dem Auge und wir stellen uns so auf, dass wir ihnen effektiv begegnen können.
Aber ich betone die nukleare Teilhabe hier besonders, weil sie so zentral und symbolträchtig ist, weil sie bei uns manchmal in den Bereich des Unaussprechlichen abzugleiten droht. Und auch, weil wir uns bei diesem Thema als Deutsche einen besonderen Ruck geben müssen.
Lassen Sie mich daher sehr deutlich sein: es geht bei der nuklearen Teilhabe um Abschreckung und Mitsprache, Glaubwürdigkeit und Verantwortung im Bündnis, auch um ein Signal unserer Bereitschaft zu Bündnisverteidigung und Lastenteilung.
Dabei ist es ja vor allem der politische Wert der nuklearen Teilhabe, der von so großer Bedeutung ist. Wir zeigen damit, dass wir den Ernst der strategischen Lage erkannt haben und bereit sind, das Richtige zu tun.
Ich habe mich in den vergangenen Monaten intensiv dafür eingesetzt, und ich kann Ihnen sagen, dass das weiß Gott nicht populär ist. Aber es muss sein. Setzen wir hier als Amerikas Kernverbündeter so schnell es geht ein deutliches Zeichen.

Alle diese Positionen sind, wie gesagt, nicht unbedingt neu und auch nicht besonders überraschend. Dass sie jetzt so vehement öffentlich vorgebracht werden, das scheint eine neue Entwicklung.

(Foto 16. Oktober: NATO Secretary General Jens Stoltenberg attends NATO’s annual nuclear exercise at Volkel airbase in the Netherlands alongside Dutch Defence Minister Ank Bijleveld – Medienzentrum der NL Streitkräfte via NATO)