Dokumentation: von der Leyens Rede vor militärischen und zivilen Führern

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hatte am (gestrigen) Donnerstag rund 100 Generale, Admirale und zivile Führungskräfte der Bundeswehr in Berlin zusammengerufen: Vor dem Hintergrund des Falls Franco A., vor dem Hintergrund bekanntgewordener Skandale wie in Pfullendorf wollte die Ministerin thematisieren, wie es zu diesen Vorfällen kommen konnte und was getan werden kann, um so etwas künftig auszuschließen.

Einzelne Teile der Aussagen der Ministerin wurden inzwischen bekannt – zum Beispiel, dass sie den Teilnehmern ihr Bedauern ausdrückte, dass sie ihrer harten Kritik an der Truppe am vergangenen Wochenende nicht eine Würdigung der Leistungen der Soldaten vorangestellt habe.

Aber das ist nur ein Absatz dessen, was die Ministerin gesagt hat. Damit sich alle ein Bild machen können, hier der Redetext, wie ihn die Bundeswehr intern bekanntgemacht hat – ich denke, darüber sollten sich alle ihre Meinung bilden können.

Der Redetext im Wortlaut (der nicht deckungsgleich sein muss mit der tatsächlich gehaltenen Rede):

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

wenn wir über die Bundeswehr reden, reden wir über eine Viertelmillion Menschen. Menschen mit und ohne Uniform. Männer und Frauen fast jeden Alters. Sie dienen in den unterschiedlichsten Verwendungen – hier, in der Heimat, aber auch in vielen Teilen der Welt oder auf Hoher See.

Egal wo diese Männer und Frauen dienen oder arbeiten – es ist ein unverzichtbarer Dienst für unser Land. Dafür gebührt Ihnen Dank und Anerkennung.

Ich wünschte, ich hätte diese Sätze am Wochenende in dem 5 Minuten Interview über den Rechtsextremisten vorweg gesagt. Es tut mir leid, dass ich es nicht getan habe. Das bedaure ich.

Für ihre Leistungen verdienen die Soldatinnen und Soldaten auch das Vertrauen der Gesellschaft. Darum ist es verheerend, wenn dieses Vertrauen auch nur ins Wanken gerät. Hier genügen schon wenige Missstände und Vorfälle – so wie wir sie seit Wochen erleben müssen. Pfullendorf, Sondershausen und jetzt Illkirch sind die Stichworte dazu.

Ich möchte klar und deutlich betonen: Die übergroße Mehrheit der Angehörigen der Bundeswehr leistet tagtäglich ihren Dienst anständig und tadellos. Umso bitterer ist es, wenn eine Minderheit sich völlig inakzeptabel verhält. Dies muss mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln verfolgt und geahndet werden – gerade im Interesse all derer, die jeden Tag Vorbildliches leisten.

Zwar haben die Medien in den vergangenen Monaten ausführlich über die Vorkommnisse in der Bundeswehr berichtet. Doch ich will Ihnen nochmals in Erinnerung rufen, um was es geht. Denn die Verstöße, über die wir sprechen, sind meist Verstöße gegen die Grundsätze der Inneren Führung, gegen die Grundrechte, gegen die Pflicht zur Kameradschaft – bis hin zu Strafbeständen.

Zuerst Pfullendorf: Die Berichte sprechen von „Mobbing“, von „herabwürdigenden Praktiken in der Ausbildung“. Das klingt so neutral, wie Untersuchungsberichte eben klingen müssen. Doch was das für die Betroffenen wirklich bedeutet hat, zeigt die schonungslose Bestandaufnahme: „Abtasten des unbekleideten Genitalbereichs mit nicht behandschuhter Hand und anschließende Geruchsprobe“. Dann: „Öffnen der Gesäßbacken zur Inspizierung des Afters“. Und schließlich: „entwürdigende bildliche Darstellung der Ausbildungspraktiken als Unterrichtsmaterial“. Wie konnte es soweit kommen und solange gehen?

Nächstes Beispiel: Sondershausen. Ausbilder bezeichnen Kameraden als „Körperschrott bzw. genetischer Abfall“. Strafrunden bei 30 Grad Außentemperatur bis zum Zusammenbruch infolge Dehydrierung. Festgestellte Ausbildungsmängeln werden von Ausbildern glattgebügelt, wenn sie Alkohol als Ausgleich bekommen. Auch hier die Frage: Warum konnte es soweit kommen und so lange anhalten?

Und jetzt Illkirch: Ein formal und juristisch ganz anders gelagerter Fall. Ein junger Oberleutnant gibt sich als Asylsuchender aus; lebt ein Doppelleben; wird mit einer illegal besorgten Waffe am Wiener Flughafen geschnappt. Es besteht der Verdacht auf einen geplanten Terroranschlag – die Bundesanwaltschaft ermittelt. Und Stück für Stück kommt heraus, dass er seit Jahren rechtsextremistisches Gedankengut pflegt. Wer einen Blick in seine erste Masterarbeit wirft, die er Ende 2013 an der französischen Akademie Saint Cyr als Austauschstudent einreichte, hat keinen Zweifel mehr an seiner völkischen, rassistischen und rechtsextremistischen Gesinnung. Da geht es um „die Schwächung des Volkes“ durch „Subversion“ in Form einer großen Verschwörung der Regierenden; um „die Durchmischung der Rassen“, den „infektiösen Charakter der Menschenrechte“ und, und, und. Der Wissenschaftler des ZMSBw in Potsdam, der damals hinzugezogen worden war, erstellte ein eindeutiges und glasklares Gutachten: „Bei dem Text handelt es sich nach Art und Inhalt nachweislich nicht um eine akademische Qualifikationsarbeit, sondern um einen radikalnationalistischen, rassistischen Appell, den der Verfasser mit einigem Aufwand auf eine pseudo-wissenschaftliche Art zu unterfüttern sucht.“ Und der damalige französische Schulkommandeur urteilte trocken: „Wenn es ein französischer Lehrgangsteilnehmer wäre, würden wir ihn ablösen“. Das war im Frühjahr 2014. Und trotzdem blieb der Offizier bis vor wenigen Tagen im Dienst. Wie konnte es dazu kommen?

Pfullendorf, Sondershausen, Illkirch – wie schon gesagt: alles Einzelfälle und nur bedingt miteinander vergleichbar. Sie müssen individuell untersucht und dann entsprechend disziplinar oder strafrechtlich verfolgt werden. Doch stellt man diese Einzelfälle in eine Reihe, so gibt es etwas Verbindendes: Es hat lange gedauert, gegärt, manche haben sich weggeguckt, schöngeredet und verharmlost. In allen diesen Fällen haben die Mechanismen, die wir haben, um Übergriffe und Verstöße gegen die Innere Führung zu verhindern oder zumindest frühzeitig aufzudecken, nicht gegriffen. Und es geht auch um Verantwortung und Aufgaben von Vorgesetzten. Wohlbemerkt: das betrifft nicht die Mehrheit der Vorgesetzten, aber das macht das Problem nicht kleiner.

Als Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt trage ich die Gesamtverantwortung für die Bundeswehr. Ich scheue diese Verantwortung nicht. Wir haben viel bewegt in den vergangenen drei Jahren: Agenda Attraktivität, Agenda Rüstung, die drei Trendwenden für eine Bundeswehr, die seit der Wiedervereinigung 25 Jahre lang Schrumpfungsprozesse mitgemacht hat. Wir haben diesen großen Tanker langsam, aber sicher wieder in die richtige Richtung gedreht. Wir sind dabei durch so manches Tal der Tränen gegangen. Und auch jetzt gehen wir wieder durch ein tiefes Tal der Tränen – und ich sage Ihnen, wir haben nicht einmal die Talsohle erreicht. Und wenn ich mir etwas zum Vorwurf mache, dann dass ich nicht viel früher viel tiefer gegraben habe, als mir die Einzelfälle der Reihe nach auf den Tisch kamen.

Doch wir müssen auch feststellen, dass nicht alle Meldewege so funktioniert haben, wie sie sollten. Dass nicht alle Mechanismen so griffen, wie sie hätten es tun müssen. Dass nicht alle Ebenen mit der Vehemenz ihre Aufgaben wahrgenommen haben, mit der sie hätten sich der Einzelfälle annehmen müssen.

Wir beginnen jetzt mit der Aufarbeitung und Diskussion. Ich möchte heute mit Ihnen über drei Stränge sprechen – und ich bin erst am Anfang meiner Überlegungen – das ist nicht vollständig, nicht abschließend.

1. Unsere Werte und Regeln:
Es braucht ein klares Koordinatensystem. Das haben wir: mit der Inneren Führung. Aber das muss auch bis in den letzten Winkel gelebt werden. Es muss zum Beispiel klar sein, was ist notwendige Härte in der militärischen Ausbildung – und ab wann beginnt Schikane? Die Dienstvorschrift zur Inneren Führung ist eindeutig: „[Die] Innere Führung stellt ein Höchstmaß an militärischer Leistungsfähigkeit sicher und garantiert zugleich ein Höchstmaß an Freiheit und Rechten für die Soldatinnen und Soldaten im Rahmen unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung.“ Klarer kann man den Gegensatz nicht beseitigen, den immer wieder einige Soldaten und Kommentatoren aufmachen wollen. Es gibt hier kein entweder „Höchstmaß an militärischer Leistungsfähigkeit“ oder „Freiheit und Rechte“. Sondern beides geht Hand in Hand.

Was ist Meinungsvielfalt in der Bundeswehr – und wann verlässt jemand die freiheitlich-demokratische Grundordnung? Wenn es in der Masterarbeit des Soldaten A. heißt, Zuwanderung führe zum genetischen Genozid der westlichen Völker, dann muss allen glasklar sein, dass das NS-Gedankengut ist.

Auch bei der Tradition sind die Linien eigentlich klar: Die Wehrmacht ist nicht traditionsstiftend. Das ist nichts Neues. Das ist für die Bundeswehr Selbstverständlichkeit. Im Traditionserlass von 1982 steht unzweideutig: „Ein Unrechtsregime wie das Dritte Reich, kann Tradition nicht begründen.“ Warum hängen dann im Aufenthaltsraum in Illkirch, der seit 2010 besteht – Wehrmachtsdevotionalien – vom Propagandabild bis zum Helm?

Wir haben 60 Jahre Bundeswehr!! Darauf können wir zu Recht stolz sein. Das ist eine besondere Geschichte, aus der sich unser Selbstverständnis speist. Nicht umsonst haben wir das im Weißbuch so klar herausgearbeitet. Das heißt: es gibt kein Vakuum im Traditionsverständnis.

Ich habe immer wieder bei Pfullendorf gehört: es sind keine weiteren Schritte nötig, wir haben ja die innere Führung. Ja, aber sie muss jeden Tag mit Leben gefüllt werden. Das tut die übergroße Mehrheit – aber wir dürfen auch nicht so tun, als sei keinerlei Problem da, und wer problematisiert oder sich wehrt, der bricht ein Tabu.

Soweit Gedanken zu unseren Werten und Regeln. Nun erste kursorische Gedanken zum Gerüst: ist die Wehrdisziplinarordnung in sich schlüssig? Gibt es Bruchstellen? Gegenwärtig haben Disziplinarvorgesetze ihre Rechtsberater, die bei Ermittlungen wechseln in die Rolle des Disziplinaranwaltes….(….)

In vielen Fällen läuft es gut. Dennoch müssen wir uns fragen, ob wir Menschen nicht überfordern in Doppelrolle aus dem Nähe- und Vertrauensverhältnis gegenüber Disziplinarvorgesetzen?

Wir müssen uns fragen, ob alle nach einheitlichen Maßstäben urteilen und wer das kontrolliert? Wir müssen uns fragen, wo die Supervision ist, wenn nicht adäquat gehandelt wird?

Ich habe heute eine Arbeitsgruppe eingesetzt, mit dem Ziel der kritischen Durchleuchtung der Wehrdisziplinarordnung.

Zweiter Punkt: wenn der Disziplinaranwalt empfiehlt, einzustellen – dann gibt es keine Meldepflicht. Ist es hier nicht besser, ein Mehr-Augen-Prinzip einzuführen, wenn die Absicht besteht, das Verfahren einzustellen?

Wir werden jetzt als untergesetzliche Maßnahme für bestimmte Fallgruppen das Mehr-Augen-Prinzip einführen.

3. Setzen wir in der Ausbildung die richtigen Schwerpunkte?

Räumen wir der Vermittlung eines Wertekanons und einer soliden Haltung
im Alltag genug Zeit ein bei der Erziehung, Ausbildung und Fortbildung zukünftiger Generationen von Vorgesetzten? Überfordern wir viele der noch sehr jungen Vorgesetzten? Überfrachten wir sie mit administrativen Aufgaben – und nehmen ihnen die Zeit, die sie eigentlich als Menschenführer benötigen? Oder liegen die Defizite in Melde- und Untersuchungssystemen? Reden wir genügend mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über Ebenen hinweg, kennen wir deren Belastung, Sorgen und Nöte? Schauen wir „richtig“ hin und achten wir genug aufeinander?

Lassen wir uns beraten und schätzen wir tatsächlich konstruktiv kritische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Erklären wir in ausreichendem Maße unsere Absicht, geben wir klare Ziele vor und überlassen das „WIE“ den Ausführenden? Führen wir von vorne? Gestehen wir eigene Fehler ein?

Viele Fragen. Es wird dauern, sie zu beantworten. In dieser Woche ist erst der Anfang.

Es wird jetzt viel hochkommen. Das ist gut, weil es sein muss. Es ist keine Schande, wenn die Dinge hochkommen – es ist eine einmalige Chance, uns die Defizite bewusst zu machen. Wir wollen auch denen Recht verschaffen, denen Recht verwehrt wurde.

Und der Fall A. ist mit Sicherheit noch nicht zu Ende mit seiner Festnahme. Er ist kein ‚lonely wolf‘.

Jetzt wollen wir diskutieren. Wir nehmen uns die Zeit.

(Foto: von der Leyen mit Generalinspekteur Volker Wieker, r., und Heeresinspekteur Jörg Vollmer am 3. Mai 2017 in Illkirch beim Jägerbataillon 291)