Land hinter Panzerglas (3)

(Foto © Timo Vogt/randbild)

Der Fotograf Timo Vogt war in den vergangenen Jahren mehrfach mit der Bundeswehr in Afghanistan unterwegs. Im Oktober dieses Jahres erlebte er, wie sich die Übergabe der Verantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte am Hindukusch auswirkt. Seine – notwendigerweise subjektive – Sicht der jüngsten Reportagereise hat er für Augen geradeaus! aufgeschrieben: Ein Blick fast nur noch durch das Panzerglas der geschützten Fahrzeuge, eine Truppe, die mental schon im Abzug zu sein scheint.

Hier Teil 3. Teil 1; Teil 2; Teil 4

Die Tage vergehen… Die Allzweckwaffe zur Rechtfertigung und Entschuldigung ist die inflationär gebrauchte Floskel: „Leben in der Lage“. Will heißen: „Keine Ahnung was los ist, aber wir passen uns da ganz schnell und geschmeidig an“. Noch der größte organisatorische Unsinn oder die x-te Vertröstung wird entsprechend begründet. Schon nach wenigen Tagen hier ist klar, wenn ich das höre, kann ich mir ein Buch nehmen, denn es wird heute nichts mehr unternommen werden.

Als der Oberstleutnant der PRT-Führung der Form halber darüber informiert wurde, dass wir in wenigen Tagen zum OP North aufbrechen, mussten wir den gestern in Absprache mit MeS gebuchten Flug sofort wieder absagen. Man hätte schließlich eigene Presseverantwortliche vor Ort und es hätte erst genehmigt werden müssen. Warum auch ich nicht fliegen darf, wo dort doch eigene Presseverantwortliche seien, bleibt für mich unklar. So wird mein Eindruck bestärkt, dass manche hier die Wüstenstiefel nur zu tragen scheinen, damit sie besser auf der Bremse stehen können. Erstickt sich die Führung hier in selbst inszenierter Bürokratie? Man blockt wo es nur geht und meint nach elf Jahren Einsatz in Afghanistan noch immer, Journalisten seien zufrieden, wenn man sie durch die Camps führt, die schon lange zu öden deutschen Kasernen auf afghanischem Boden verkommen sind.

Von nun an soll die Pressabteilung jeden Schritt von mir raus aus dem PRT im Vorfeld beantragen und genehmigen lassen – von der Führung, von wem auch sonst. Faktisch ist das eine Stilllegung der Pressearbeit, denn zur Zeit, das haben wir zur Genüge selbst erfahren, lebt man hier von der Hand in den Mund. Selbst am Vorabend vieler Aktivitäten wissen die Betroffenen darüber oft noch nicht im Detail Bescheid. Wir müssten also hellseherische Fähigkeiten entwickeln, wollten wir dem so nachkommen.

An einem Morgen um 8:45 Uhr fuhr ein Zug Aufklärer raus, um für 24 Stunden von einer Höhe aus die Rückmarschroute für die Kräfte aus Faisabad zu überwachen. Obwohl wir vor zweiTagen schon mal bei ihnen waren, erfahren wir nur durch Zufall davon, weil wir sie auffahren sehen. Sie hätten zwei freie Plätze, die hatten sie vor zwei Tagen noch nicht. Da sie selbst erst recht kurzfristig davon in Kenntnis gesetzt wurden, hätten wir, so es denn bis zu uns vorgedrungen wäre, nicht ausreichend Zeit für Beantragung und Genehmigung gehabt. Wir winken ihnen nach, als die Kolonne zum Tor herausrollt.

Eine Ausfahrt mit den Aufklärern wäre durchaus spannend gewesen, doch wir waren ja mittlerweile eingetragen für einen 48-Stündigen Aufenthalt in DHQ in Chahar Dareh. Wir machen uns auf den Weg. Ich kenne das DHQ noch aus der Bauphase im letzten Jahr. Da momentan keine Aktivitäten außerhalb des DHQ geplant sind, dürfte es also nicht besonders fordernd werden. Der Wert für eine Berichterstattung ist noch nicht absehbar.

Rund 100 Soldaten gehen hier im DHQ jeweils in eine sogenannte „Raumverantwortung“. Bis zu 17 Tage kann so ein Aufenthalt schon mal dauern. Alle paar Tage findet eine „Route Clearance Package“ (RCP) statt. Ein Zug der US-Army sucht dann die Hauptstraßen nach Sprengfallen (IED) ab, die Deutschen sichern nach allen Seiten. Ansonsten besteht die Hauptaufgabe darin, im DHQ den „Turm zu besetzen“, den Wachturm. Die Raumverantwortung besteht demnach im Wesentlichen aus einer gelegentlichen Unterstützungsleistung für die Amerikaner und darin, sich selbst zu bewachen. Es sind lange, manchmal sehr lange Tage im DHQ, das insofern eine Abwechslung zur Kaserne Kunduz bietet, da man hier nicht mit Reizüberflutung und Freizeitangeboten durch den Tag kommt. Es werden Gesellschaftsspiele gemacht, gelesen, DVD´s geschaut und der gemeine Soldat hat mal Zeit, sich auf sich selbst zu besinnen.

Und dann passiert überraschend doch noch etwas: Eine RCP wird angesetzt. Der Hauptmann im DHQ war so freundlich, mich auf den RCP-Zug der Amerikaner zu bringen. Ob eine Mitfahrt bei den sichernden Deutschen möglich gewesen wäre, blieb bis zuletzt offiziell ungeklärt. Allerdings ließ dieser Hauptmann durchblicken, dass er gewillt war im Rahmen seiner Kompetenz mir eine Mitfahrt möglich zu machen, hätten die US-Amerikaner ausgeschlagen. Ein Lichtblick, ist es doch üblich geworden in Afghanistan, Entscheidungen nicht mehr selbst zu verantworten, sondern sie dem nächst höheren Dienstgrad zu überlassen – mit den entsprechend längeren Entscheidungszeiten.

Es beginnt zu rollen! Vorneweg der Husky, eine Art in die Länge gezogener gepanzerter Traktor mit einem rund 4×2 Meter großen Technik-Panel am Frontlader. Mit diesem Scanner können Anomalien und Metall im Boden aufgespürt werden. Jammer legen alle Funknetze in der Umgebung lahm, damit Funk-Fernzündungen ausgeschlossen sind. Mit etwas Abstand folgen die Fahrzeuge der US-Army, dessen Lieutenant mich gleich ins erste Vehikel nach dem Husky gesetzt hat, dann die Kolonne der Bundeswehr. Die Umgebung wird zudem durch Schützenpanzer gesichert. Zwei Apache-Kampfhubschrauber sind in der Luft und eine Drohne schnurrt sicherlich auch noch unsichtbar am Himmel. Es dürften rund 110 Soldaten auf 25 Fahrzeugen unterwegs sein, die Feuerkraft ist gewaltig. Nawabad, ein Städtchen in der Ebene der Provinz Chahar Dareh ist nach allen Seiten abgesichert.

Es ist nicht lange her, dass die Bundeswehr diese Region unter Verlusten den aufständischen Gruppen abnahm. Ende 2011 ging das Ausbildungs- und Schutzbataillon mit der ANA tagelang Patrouillen durch Nawabad und Umgebung. „Raumverantwortung“ hieß in jenen Tagen, den Raum zu nehmen und Präsenz zu zeigen. Die Soldaten sprachen mit den Einwohnern, versuchten Vertrauen zu schaffen. Versprechungen wurden gemacht und hier und da fiel ein Schuß. Combat Outposts (COP) sollten her, damit die Afghanen irgendwann von dort ausgehend die Sicherheit selbst regeln. Jedenfalls gingen die Anschläge zurück, auch wenn nie richtig Ruhe einkehrte. Wenn Einheiten 14 Tage zur Raumverantwortung draußen waren, wurden Operationen durchgeführt, Nachtpatrouillen zu Fuß und Aufgesessen. Mehrmals am Tag und in der Nacht war man unterwegs, campte draußen vor den Toren der Stadt. Man war präsent und man versuchte, soweit das Schwerstbewaffnete eben können, auf die Bevölkerung zuzugehen, die ihrerseits zögerlich auf die Soldaten zukamen. Am Marktplatz im Zentrum neben der Schule alberte man mit den Kindern rum. Sie kamen, um von den Soldaten Stifte und Schreibblöcke geschenkt zu bekommen. Kurz, ein Wille war auf Seiten der Armee erkennbar.

Ein Jahr später rollt die Truppe nur noch nach langer Vorbereitung und gepanzert rein nach Nawabad, um IED´s zu suchen. Mehr nicht. Damit wolle man die afghanische Armee und Polizei unterstützen, damit sie in Nawabad ihren Job etwas sicherer machen könnten. Ja, die Zeiten haben sich geändert.

8:55 Uhr. Im quälend langsamen Schritttempo zieht die Kolonne aus gehärtetem Stahl Fahrzeug für Fahrzeug in den Ort ein. Hubschrauber knattern über uns. Kurz hinter dem Marktplatz: Ein schnelles lautes „Pock“. Hektische Blicke auf den Monitor der Überwachungskamera und durch die kleinen Sichtfenster nach draußen. Die Amerikaner legen los: „Blow, boah, blast“! Es ist über den Bordfunk nicht wirklich zu verstehen, was sie gerade ausrufen. Ist auch egal, es folgt das allgemeinverständliche und obligatorische „Fuck“, das in rascher Folge alle einmal aurufen.

Aus der grauen Wolke vor uns erscheint das Heck des Huskys-Mobils wieder im Bild. Langsam setzt der Fahrer zurück. Es vergehen ein bis zwei Minuten, der Staub legt sich und gibt das Bild frei auf die Hauptstraße. Ein Loch, über einen Meter tief und zwei Meter breit, klafft im Schotter. Eine verschleierte Frau huscht hastig mit ihren zwei Kindern an den Händen über die Straße. Wie ein ausgefalteter Fächer liegen hunderte kleine hellblaue Stückchen auf der Straße verteilt: Der Husky ist um sein Elektronik-Suchpanel erleichtert worden. Ich dachte, es sei Metall ummantelt, doch es ist nur Fieberglas und feinster Styropor, der die Elektronik hält. Zwei, drei, vier Amerikaner steigen aus, sweepen die Anschlagsstelle mit Metalldetektoren, die man vom Minensuchen kennt. Ein Kabel führt in einen der landestypischen Lehmcompounds neben der Straße, sie entdecken ein Batteriepack, stoßen die Tür auf und sehen einen Mann durch die Hintertür entschwinden. Sie entscheiden ihm nicht zu folgen. Es sollte sich als weise herausstellen. Die IED auf der Straße hatte rund 20 bis 25 Kilogramm Sprengstoff und war offenbar als Anfütterung gedacht. Im Compound warteten noch mal 70 bis 80 Kilogramm darauf, dass Soldaten dem Mann mit dem Auslöseknopf nachsetzen. Später erst entdecken afghanische Kräfte (!) die zweite große IED und die amerikanischen EOD´ler (Explosive Ordnance Disposal) sprengen sie.
Stunden des Wartens vergehen. Schließlich macht die Kavallerie kehrt und rollt langsam auf der bereits auf dem Hinweg gesweepten Strecke zurück ins DHQ. Es ist wirklich leicht geworden, die ISAF in Schach zu halten.

Der Hauptmann der deutschen Kräfte geht zunächst noch davon aus, dass man in den nächsten Tagen weiter RCP´s durchführen würde, „bis die Strecke frei ist“. Doch schon kurz darauf wird klar, dass die neu ins DHQ zur Raumverantwortung verlegende Einheite in absehbarer Zeit, was wohl soviel wie vier bis sieben Tage heißt, nicht mit dem RCP arbeiten wird. Da aber noch mindestens drei IEDs in Nawabad identifiziert sind, im Militärjargon „aufgeklärt“, bedeutet diese Nachricht, die Afghanen sind nun am Zug oder auf sich allein gestellt, je nach Perspektive. Wahrscheinlich werden sie wohl darüber rollen mit ihren ungepanzerten Pickups und in die Luft gejagt werden. Gewissermaßen afghanische Route Clearance, wenn die US-Army keine Zeit für sie hat und sich die Deutschen einigeln hinter dicken Mauern aus Hesco-Bags.

Übrigens, die Bundeswehr hatte bei diesem RCP 93 Soldaten im „Raum“. Vom Dingo bis zum Schützenpanzer war alles da, was fahren und schießen konnte. Eine Meldung dazu wird man dazu aber nicht finden. Es wurde nämlich keine erstellt. Die IED ist schließlich unter einem US-Fahrzeug explodiert. Und dass es eine deutsch-amerikanische RCP war, lässt man wohl zwecks guter Nachrichten aus Afghanistan unter den Tisch fallen.

Teil 4 folgt am 28. November.

Timo Vogt ist freier Fotojournalist und beschäftigt sich überwiegend mit Konfliktthemen. In den letzten Jahren hat er unruhige Regionen im Kaukasus, dem Nahen und Mittleren Osten bereist. Zuletzt war er im syrischen Bürgerkrieg unterwegs. In Afghanistan hat er die Bundeswehr seit 2010 drei Mal begleitet. Auf seiner aktuellen Reise an den Hindukusch hat er für Augen geradeaus! zum Stift gegriffen.
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