Der Angriff auf die UN: Hilfe fremder Truppen unerwünscht
Wenn ich mir den zeitlichen Ablauf des tödlichen Angriffs auf den UN-Compound in Masar-i-Scharif ansehe, wie ihn das deutsche Verteidigungsministerium heute veröffentlicht hat, drängt sich eine Vermutung auf: Das Eingreifen der internationalen Truppen war den örtlichen Machthabern – Polizei und Gouverneur? – vollkommen unerwünscht.
Noch um 16.45 Ortszeit wurde das Regeionalkommando Nord durch den strellvertretenden Polizeichef der Provinz Balkh darüber informiert, dass afghanische Polizei vor Ort wäre (sic! Konjunktiv-Form im Original. T.W.) und die Lage unter Kontrolle sei, heisst es in der Bundeswehr-Darstellung. Und: Erst nach aktiver Beratung auf allen Führungsebenen, zuletzt durch den Kommandeur des Regionalkommandos Nord beim Provinzgouverneur Atta, konnten ISAF Kräfte eingesetzt werden.
Nun ist das natürlich die Darstellung einer beteiligten Seite, nämlich der ISAF – und dennoch ist offensichtlich: Ohne die Zustimmung der Afghanen gibt es von Seiten der internationalen Truppen noch nicht einmal dan ein aktives Eingreifen, wenn in der UN-Mission Menschen in Gefahr sind.
Ich will (und kann) das nicht bewerten. Aber die Frage nach der Motivation der afghanischen Entscheidungsträger muss erlaubt sein: Haben sie die Situation falsch eingeschätzt und geglaubt, alles unter Kontrolle zu halten? Oder spielte das keine Rolle, weil es gegen die Vereinten Nationen ging und damit um eine Organisation, die als Unterstützer der – im Norden nicht unbedingt angesehen – Regierung von Präsident Hamid Karzai betrachtet wird?
Die Asia Times hat dazu ein – zugegeben recht langes und ein wenig umständlich geschriebenes – Stück, in dem ein möglicher Grund dargestellt wird: Mit religiös motivierter Auseinandersetzung hat das danach gar nichts zu tun. Sondern mit tief greifenden ethnischen Konflikten zwischen den Pashtunen und den ethnischen Minderheiten, die aber im Norden Afghanistans die Mehrheit stellen.
Ich wüsste ja vor allem gern: hat der Angriff vom 1. April die politische Lage in Nordafghanistan verändert? Und damit langfristig auch die Sicherheitssituation?
Nachtrag: Diese Meldung von AP macht das ganze noch ein bisschen merkwürdiger: Afghan officials say ex-insurgents who had renounced Taliban suspected of shooting at UN HQ
Frage an die Experten:
Ist das hier geschilderte Verhalten der afghanischen Sicherheitskräfte als Ausprägung eines uns sehr archaisch anmutenden Ehrenkodex zu verstehen? Im Sinne von, wir sind stolze Krieger und brauchen keine (militärische) Hilfe der Ausländer bei einer einfachen Demonstration?
Oder wäre das eine zu enge Sichtweise?
Es wäre möglich – gerade die Polizeichefs demonstrieren gerne Stärke und Unabhängigkeit, gerade gegenüber Kabul.
@ Baruch
Genau so hört es sich auf den ersten „Blick“ an. Aber es ist deutlich komplizierter und ist nicht in wenigen Sätzen rüber zu bringen, wenn überhaupt zu verstehen wenn man es nicht selbst miterlebt hat.
Ausbildungsstand, Ausrüstung, Kompetenzstreitigkeiten untereinander und wenig/keine Erfahrungen mit Demos dieser Art machen den Anfang.
Aber schauen wir doch mal in Deutschland und Frankreich wie schnell Demos ausarbeten können, Autos brennen und Polizisten erschlagen werden… dann frage ich mich, wie man auf die Idee kommt solche hohen Ansprüche nach AFG zu übertragen?!
Es wird immer klarer, dass sich der Sturm im Wasserglas der Schlagzeilen langsam legt und nun keiner sagt, dass die Bundeswehr bzw. ISAF doch nicht mehr „die Bösen“ sind.
Ich wiederhole es gerne nochmal, wir haben so gut es ging gearbeitet und weder Risiko noch Verantwortung gescheut. Ich habe die Särge zur UN Maschine mit begleitet… und habe mir schon 100000 Mal überlegt, was hätte besser/anders laufen können damit die Menschen noch am leben wären.
@ Voodoo
Stimmt, das machen sie gerne. Das war allerdings hierbei kein Faktor… dieser Vorfall kommt allen (in KBL und MES) „ungelegen“ und alle sind sich einig, dass das keine tolle Leistung war.
Ah ok, danke für das Update und den Einblick.
Es ist allein die Sache der Polizei gegen Demonstranten vorzugehen und nicht die Sache des Militärs. Und schon garnicht die Sache von ausländischem Militär. Es werden dort schon 10 Jahre Polizisten von uns ausgebildet. Deren Versagen ist also auch unser Versagen. Aber das Militär kann man hierfür nicht verantwortlich machen. Für die „Verteilung von Kaffee und Kuchen“ an die Demonstranten ist allein die Polizei zuständig. Das Militär hätte nur in die Reihen der Zivilisten schießen können. Genau dies versucht die NATO derzeitig in Libyen zu verhindern.
@Stefan – Das Militär hätte nur in die Reihen der Zivilisten schießen können. Genau dies versucht die NATO derzeitig in Libyen zu verhindern.
Das hängt doch wohl stark davon ab auf welcher „Seite“ die Zivilisten stehen.
Der zuständige NATO Kommandeur hat gerade behauptet die Gaddafi Turppen „verstecken sich hinter Zivilisten“. Aber wo bitte sollen die Truppen den sein wenn nicht in Industrie- und Bevölkerungszentren. In der Wüste als Tonscheiben?
Erfahrungsgemäß läßt sich die NATO Ankündigung so übersetzen: „Ab jetzt töten wir auch Zivilisten, auch (oder gerade dann) wenn sie von Gaddafi Truppen gegen die Rebellen geschützt werden. Is dann ja nicht unsere Schuld ….
@jetflyer
Danke für die Einblicke!
@all
Habe die Bundeswehr-Timeline jetzt hier am Ende des Eintrags um das entsprechende Protokoll der Bundespressekonferenz mit weiteren Informationen ergänzt.
@b | 06. April 2011 – 20:28
Zitat: „Der zuständige NATO Kommandeur hat gerade behauptet die Gaddafi Turppen “verstecken sich hinter Zivilisten”. Aber wo bitte sollen die Truppen den sein wenn nicht in Industrie- und Bevölkerungszentren. In der Wüste als Tonscheiben?“
Und Winston Churchill und sein militärischer Stab hat sich im 2. Weltkrieg hinter der Bevölkerung von London versteckt. Und diese als menschliche Schutzschilde benutzt. Wenn er das Militär aus London gejagt hätte, dann hätten die Nazis London sicher nicht bombardiert. Dieser „böse“ Bube.
Daran sieht man, was das für eine dämliche Argumentation, mit diesen Schutzschilden, ist. Halt eine Argumentation für die Doofen unter uns.
@Jetflyer: Danke für den Beweis, dass man von der Front bloggen kann, ohne das OpSec auch nur theoretisch ein Thema ist, und Danke für den Dienst.
Was dieser Vorfall aber auch zeigt, ist die seltsame politische Erzählung dieses Einsatzes. Es ist eine komplexe Gemengelage aus Kampfeinsatz und Polizeiaktion, wobei letzteres das eigentlich Wichtige ist. Schaut man sich aber an, was Polizeiarbeit ausmacht, dann sieht man, wie falsch der Einsatz inzwischen ist. Effektive undneffiziente Polizei ist lokal, regional verwurzelt, deutsche Kontingente haben 4 Monate Stehzeit. Das ist ok, wenn sie im Sinne eines starken Arms punktuell eingesetzt werden, a la 100schaften oder SEK. Die Führung aber muss vor Ort verwurzelt oder committet sein. Kein deutscher Kommandeur wird das je sein, es sei denn, er ist Single und keine weiteren Karrierepläne.
Was wir, wenn wir erfolgreich sein wollen, dringend brauchen, ist die lokale Vernetzung. Unmöglich, dies mit dem aktuellen Mittel- und Kräfteansatz zu erreichen. Übergabe in Verantwortung ist im Übrigen nur die Chiffre für: wir bekommen es nicht hin, wir gehen heim.
@jetflyer
Es gehören immer (mindestens) zwei zur Zusammenarbeit. Wenn die Dinge im vorliegenden Fall so lagen, wie Sie es geschildert haben (Stichwort mangelnde Akzeptanz des Militärs durch die VN) gibt es keinen Grund, sich Vorwürfe zu machen oder machen zu lassen. Es gibt keine 100%-Lösungen, nicht im Frieden (s. Japan) und schon gar nicht im Krieg. Sie und ihre Kameraden haben offensichtlich getan, was Ihnen möglich war und mehr kann niemand erwarten. Well done!
Allerdings sollten die VN jetzt einmal überdenken, ob deren Lageeinschätzung zutreffend war und ggfls. Konsequenzen ziehen.
@ sascha stoltenow
Grundsätzlich Zustimmung. Konsequenz hiesse dann: entweder ein anderer Mittel- und Kräfteansatz oder ein geordneter Rückzug. In jedem Fall aber das Eingeständnis, daß hier sowohl die politische als auch die militärische Führung jahrelang versagten, indem sie der Öffentlichkeit gegenüber keine aufrichtige Darstellung der Einsatzrealität betrieben und den Mittel- und Kräfteansatz an dieser geschönten „Wirklichkeit“ ausgerichtet haben.
Denkbare Gründe wären zum einen ein Nichterkennen der Realität durch die Verantwortlichen selbst (dann müßte man immerhin nicht von Lüge sprechen), zum anderen ein Verschweigen der Realität aus Furcht vor möglichen Folgen. Letzteres könnte ich als Bürger gerade noch akzeptieren, wenn der Einsatz gründlich durchdacht und ein klarer Auftrag folgerichtig umgesetzt wurde (aber dann müßte die Lage vor Ort doch eigentlich anders aussehen, oder?).
Also drängt sich mir (nicht zuletzt beim Lesen der Kommentare in diesem blog) mehr und mehr die Erkenntnis auf, daß (wieder einmal?) Truppe für die Verfolgung unklarer Ziele (im Sinne schwammiger Erwartungen [der Kölner sagt: et is noch immer jot jejange..]) „verheizt“ wurde.
Sollte sich dieser persönliche Eindruck bestätigen sind die innen- wie außenpolitischen Folgen für unser Land noch gar nicht abzusehen. Dann steht uns der eigentliche „Knall“ noch bevor, wenn der Abzug schon längst abgeschlossen ist (falls der Euro noch so lange stabil bleibt :-)).
Nach dem heute erschienen Artikel im SPIEGEL (15/2011) stellt sich für mich die Frage erneut, warum ISAF nicht frühzeitig eingegriffen hat???
Zitat aus dem SPIEGEL:
„Die Demonstration in Masar war angekündigt, die ISAF-Truppen waren gewarnt. In einem internen Bericht des Einsatzführungskommandos heißt es: „Gegen 16:15 Uhr afghanischer Ortszeit gingen beim unter deutscher Führung stehendem Gefechtsstand des Regionalkommandos Nord die ersten Meldungen ein, dass der UNO-Stützpunkt angegriffen“ werde. Doch erst über eine Stunde später, ab 17:30 Uhr, ließ Kneip eine Aufklärungsdrohne über das UNO-Gebäude fliegen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Mitarbeiter wahrscheinlich schon tot. Ein deutscher General in Berlin kritisiert seinen Kameraden: „So eine Drohne ist doch nur ein Alibi. Wenn die Vereinten Nationen Hilfe brauchen, schickt man einen Zug Soldaten hin, da fahre ich hin und schütze sie.“
@Jugendoffizier
„Nach dem heute erschienen Artikel im SPIEGEL (15/2011) stellt sich für mich die Frage erneut, warum ISAF nicht frühzeitig eingegriffen hat???“
Ich gehe davon aus, dass es bereits lange vor der eigentlichen Demonstration Absprachen über das Vorgehen gegeben hat, bei denen man sich darauf geeinigt hat, dass afghanische Sicherheitskräfte den sichtbaren Teil der Aufgaben übernehmen. Bei antiwestlichen Demonstrationen ISAF in die erste Reihe zu stellen ist vermutlich als kontraproduktiv wahrgenommen worden.