Westerwelle: Eine Provinz in Nordafghanistan 2011 übergeben
Bundesaußenminister Guido Westerwelle hat sich heute in einem umfangreichen Deutschlandfunk-Interview (mit dem Kollegen Wolfgang Labuhn) auch zur weiteren Entwicklung in Afghanistan geäußert – zum möglichen deutschen Truppenreduzierungen ebenso wie zur Übergabe der Sicherheitsverantwortung in afghanischen Provinzen an die Regierung Afghanistans. Textauszug:
Labuhn: In Lissabon wollen die Staats- beziehungsweise Regierungschefs der NATO auch über den Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan beraten, das heißt, konkret über die Frage, ab wann die Sicherheitsverantwortung dort in afghanische Hände gelegt werden kann. Wie lautet Ihre Prognose?
Westerwelle: Wir werden in Lissabon den Prozess der Übergabe der Verantwortung einleiten und damit uns ja auch eine Abzugsperspektive erarbeiten. In Lissabon geht es darum, dass auch klar gemacht wird: Die Übergabe der Verantwortung beginnt im nächsten Jahr regional. Dann sind wir hoffentlich in der Lage, im Jahr 2012 – so ist es unser Plan – zum ersten Mal auch unsere eigenen Truppenkontingente zurückzuführen. Und dann ist es beabsichtigt, im Jahr 2014 die Sicherheitsverantwortung vollständig an die afghanische Regierung zu übertragen. Und damit hätten wir genau die Abzugsperspektive, die ich mir auch als Außenminister für diese Legislaturperiode vorgenommen habe.
Labuhn: Betrifft diese Abzugsperspektive auch schon den Norden Afghanistans, für den Deutschland zuständig ist?
Westerwelle: Ich arbeite daran und versuche das natürlich auch politisch voranzutreiben, dass bei den Provinzen, die im nächsten Jahr zunächst in der regionalen Verantwortung an die afghanischen Stellen übertragen werden, auch sicherlich eine Provinz aus dem Norden dabei sein wird. Aber das jetzt schon namentlich festzumachen, das wäre natürlich nicht klug, denn das würde ja nur zu entsprechenden Gegenreaktionen und Störmanövern, kriegerischen Akten in den entsprechenden Regionen führen. Und das muss natürlich verhindert werden.
Daraus lernen wir:
1. im kommenden Jahr keine Verringerung der Bundeswehrstärke in Afghanistan (nicht ganz so überraschend)
2. vermutlich die Übergabe einer Provinz im RC North im kommenden Jahr.
Über das zweite darf man, ungeachtet der Warnung des Außenministers, ja mal vorsichtig spekulieren:
Die Provinzen im afghanischen Norden unter dem ISAF-Kommando Nord: Faryab, Sar-e Pol, Jowzan, Balkh, Samangan, Kundus, Takhar, Baghlan, Badakshan (Karte: ISAF)
Die Provinzen Kundus und Baghlan kommen angesichts der Sicherheitslage offensichtlich kaum für eine Übergabe im kommenden Jahr infrage. Ähnliches gilt für die Provinz Takhar, die als Verbindungsraum zwischen der tadschikischen Grenze und den Provinzen Kundus und Baghlan von Interesse für ISAF ist.
Badakshan? Da liegt die Versuchung nahe, weil eine Übergabe dieser Provinz mit der (weiteren) Reduzierung des PRT Faisabad verbunden werden könnte. Die Sicherheitslage in der Provinz ist allerdings nicht unproblematisch – fast noch mehr wegen der Schmuggel- und Nachschubrouten nach Tadschikistan als wegen der Aktionen von Aufständischen.
Sar-e Pul? Die Provinz klingt ruhig. Aber es gibt da auch Warnungen.
Faryab (mit dem skandinavischen PRT Menymane) ist lange nicht ruhig, allein schon wegen der Nachbarschaft zur Provinz Badghis im West-Sektor.
Jowzan, Samangan? Aus diesen Provinzen hört man so gut wie gar nichts. Muss allerdings nichts bedeuten.
Balkh? Diese Provinz hat einen starken Gouverneur, der sie (und die Provinzhauptstadt Masar-i-Scharif) offensichtlich im Griff hat. Zugleich ist Masar-i-Scharif der Ort mit der höchsten Konzentration von ISAF-Truppen im Norden. Da würde sich doch das Beispiel Kabul anbieten: Formale Übergabe an die Afghanen, aber genügend Soldaten präsent zu haben, um dem auch Nachdruck zu verleihen…
Das alles sind nur Überlegungen. Weitergehende Gedanken dazu willkommen.
(Nachtrag, eine Meldung, die ich gerade sehe: In Chaghcharan, einem vollkommen abgelegenen Ort im RC West, gab es einen IED-Angriff auf das dortige PRT. ISAF hat diese Gegend noch nicht mal als area of interest klassifiziert – wenn es dort einen Anschlag gibt, zeigt das, wie schnell die Lage umschlagen kann.)
Ich habe nie verstanden warum sich die innenpolitische „Abteilung Attacke“ Westerwelle außenpolitisch in einen Friede-Freude-Eierkuchen Schönwetterpolitiker verwandelt.
Was ist denn an der Aussage „Schönwetter“? Wir wollen doch raus aus Afghanistan, irgendwann müssen irgendwo mit irgenwelchen Kriterien beginnen. Zudem werden somit Kräfte frei, die man in vielleicht in wichtigeren Provinzen braucht. Ob die Rechnung aufgeht, sei dahingestellt. Utopischen Pazifismus erkenne ich in dieser Politik allerdings nicht.
Unbedingt eine Provinz übergeben zu wollen hat schon was von Schönwetterpolitik.
Wenn ich außerdem an das Hickhack zwischen Westerwell und Guttenberg bei der letzten Kontingent-Debatte denke..
Es war im Prinzip Westerwelle, der eine größere Aufstockung verhinderte.
Der „new realism“ unserer angelsächsischen Verbündeten deutet ja wohl auf die alte „Vietnamisierungs-Strategie“ mit der der Abzug der USA aus Vietnam vorbereitet wurde: Kriegführung nur noch mit heimischen Kräften, die von US-Ausbildern und – Beratern unterstützt werden. Es geht jetzt wohl wieder in die gleiche Richtung
http://www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-11751888
Von daher hat Westerwelle seine Lektion doch brav gelernt und eher ein Zuckerchen als diese Kritik verdient.
Irgendwie wirkt das Vorhaben surreal.
Ich tippe auf Badakshan, da sie auch von den Taliban nicht erobert wurde.