Merkposten: NATO-Raketenschild wird aktiviert

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Dass die NATO bereits vor sechs Jahren beschlossenen hat, mit tatkräftiger US-Hilfe ein Raketenabwehrsystem in Europa zu installieren (oder auch: ein US-System als Angebot für den europäischen Teil der NATO anzunehmen), ist hierzulande schon fast in Vergessenheit geraten. (Dabei sind auch, siehe unten, deutsche Flugabwehrsysteme Teil als Teil dieses Systems zugesagt.) Der Raketenschild sollte sich nach der ursprünglichen Planung vor allem gegen die Bedrohung aus Staaten wie dem Iran richten, und diese Aussage gilt auch weiterhin, auch wenn der Nukleardeal mit dem Iran die Gefahr durch atomar bewaffnete Raketen aus dieser Region deutlich verringert hat.

Die Arbeiten daran sind über die Jahre weiter gegangen, und das Abwehrsystem wird am (morgigen) Donnerstag für Europa aktiviert:

The United States‘ European missile defense shield goes live on Thursday almost a decade after Washington proposed protecting NATO from Iranian rockets and despite Russian warnings that the West is threatening the peace in central Europe.
Amid high Russia-West tension, U.S. and NATO officials will declare operational the shield at a remote air base in Deveselu, Romania, after years of planning, billions of dollars in investment and failed attempts to assuage Russian concerns that the shield could be used against Moscow.

„We now have the capability to protect NATO in Europe,“ said Robert Bell, a NATO-based envoy of U.S. Defense Secretary Ash Carter. „The Iranians are increasing their capabilities and we have to be ahead of that. The system is not aimed against Russia,“ he told reporters, adding that the system will soon be handed over to NATO command.

berichtet Reuters.

In der Tat kommt die Aktivierung zu einem ungünstigen Zeitpunkt – bei dem Beschluss, diesen Schild aufzubauen, war von der Ukraine-Krise, der russischen Annektion der Krim und dem deutlich verschlechterten Verhältnis zwischen der NATO und Russland noch nicht die Rede.

Um so mehr bemühen sich die USA, russischen Vorwürfen entgegenzutreten, dieser Raketenschild richte sich in Wahrheit doch gegen Russland. Am vergangenen Dienstag nahm sich ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums ausführlich Zeit, Korrespondeten in Brüssel das System und die US-Sicht zu erläutern. Die Abschrift mit der sehr umfangreichen Erläuterung, auch der Geschichte vor und nach dem entsprechenden Beschluss des NATO-Gipfels in Lissabon 2010 ist hier nachzulesen; die Passage zu den russischen Befürchtungen:

Let me turn then to the fourth category, which is why this system should not be of concern to Russia strategically. I don’t think it is of concern to Russia, except in the most extreme sort of almost fantastic extrapolation of worst-case analysis years into the future.
What you have now are interceptors that are capable against a limited threat, only a small number of missiles and not too sophisticated in the missiles capabilities themselves, that is coming from a particular direction to the southeast.  The system is not oriented or situated and aimed at, if you will, Russia.  It’s too far away.  The interceptors would not be fast enough to catch Russian ICBMs that would be coming out of say Siberia or Central Russia, let alone have capability against Russian submarine-launched ballistic missiles that could be launched from areas in the Arctic.
So in terms of the technical capability of the system, the optimization of it, the orientation of it, the geographical layout of it, it simply could not pose a threat to Russia’s strategic nuclear forces, even in the unimaginable case, as the Russians often talk about, where you assume that the United States made a first nuclear strike.
So what I think is really of concern to the Russians is that in time, and by that I think we mean decades, the performance technologies of missile defense might reach some point that would bring this into some sort of zone of concern.  But that’s not been our experience to date.

Kurz gefasst: Das vergleichsweise bescheidene System ist darauf ausgelegt, einzelne Raketen aus unfreundlichen Staaten abzufangen, aber keineswegs in der Lage oder dafür gedacht, russische Interkontinentalraketen abzufangen.

Kritik an dem Raketenabwehrschild gibt es natürlich dennoch, auch im Westen, zum Beispiel von der Linkspartei:

„Die NATO treibt die Installation des umstrittenen Raketenabwehrsystems in Europa auf Druck der USA stetig voran. Dies lehnt DIE LINKE ab, da es – trotz aller Dementis seiner Befürworter – dazu dient, das strategische Gleichgewicht zwischen der NATO und Russland außer Kraft zu setzen. Auf diese Weise wird die Eskalationsgefahr in Europa massiv steigen“, erklärt Alexander S. Neu, Obmann im Verteidigungsausschuss, anlässlich der Tatsache, dass am 12. Mai die vorläufige Einsatzbereitschaft des landgestützten Teils des NATO-Raketenabwehrsystems in Rumänien erklärt werden und am 13. Mai der Bau einer Raketenabwehrstellung in Polen begonnen werden soll. Neu weiter:
„Auf dem NATO-Gipfel 2010 in Lissabon wurde beschlossen, das bis dahin in der Entwicklung befindliche US-Raketenabwehrsystem auf die NATO auszudehnen. Was auf den ersten Blick sinnvoll erscheinen mag, stellt bei genauerer Betrachtung einen enormen Risikozuwachs für die Sicherheit in Europa dar. Angeblich soll das Raketenabwehrsystem nur gegen Iran und nicht gegen Russland gerichtet sein. Mit dem Wegfall der iranischen Bedrohung nach dessen Nukleardeal mit dem Westen ist diese Begründung jedoch obsolet geworden. Dass dennoch an diesem Waffensystem festgehalten wird, untermauert die Befürchtungen: Von Anfang an ging es nur um die Neutralisierung des russischen Nuklearpotentials. Russland wird auf diese Provokation mit militärischen Gegenmaßnahmen reagieren bzw. ist bereits dabei.

Die Beurteilung, ob damit tatsächlich das russische Nuklearpotential neutralisiert werden könnte, maße ich mir nicht an, halte es allerdings nicht für besonders wahrscheinlich. Zumal auch der Nukleardeal mit dem Iran nicht grundsätzlich die Bedrohung durch iranische Raketen abgeschafft hat.

Deutschland ist, wie oben schon erwähnt, sehr punktuell bei dem System dabei: Als deutscher Beitrag sind Patriot-Flugabwehrsysteme zugesagt. Diesen Beitrag hatte der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière Anfang 2012 lobend hervorgehoben (hier im Audio bei einem Pressegespräch am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz 2012, ab minute 00:50):

de Maiziere MSC2012 Presser (2) 04feb2012 (mp3)

(Foto: Deutsche Patriot-Stellung in der Türkei im Januar 2013 – Screenshot aus einem NATO-Video; die Bundeswehr hat in ihrem Flickr-Account alle Fotos dieses Einsatzes gelöscht)