Notfall-Reserve für Afghanistan? FDP gegen automatische Entscheidung des Ministeriums
Die Interpretation einer Aussage des Verteidigungsministeriums zur so genannten nationalen Rückfallposition für eine möglicherweise nötige Truppenaufstockung in Afghanistan hat am (heutigen) Dienstag zu ein wenig Verwirrung im politischen Berlin geführt. Es würden Vorbereitungen für den Fall getroffen, dass US-Präsident Donald Trump tatsächlich, wie er per Twitter angekündigt hatte, die Hälfte der rund 14.000 US-Soldaten aus Afghanistan abziehe, hatte eine Berliner Tageszeitung gemeldet (Link aus bekannten Gründen nicht). Die Bundeswehr stelle sich dann darauf ein, die US-Truppen zu ersetzen. (Die Ursprungsfassung dieser Meldung ist inzwischen verändert worden.)
Tatsächlich, und das ist wohl die Grundlage der Verwirrung, hatte das Verteidigungsministerium in der Antwort auf eine FDP-Anfrage auf die seit Jahren vorgehaltene Reserve der Bundeswehr verwiesen – rund 350 deutsche Soldaten stehen bereit, gegebenenfalls die Lücken zu füllen, die durch einen Ausstieg anderer Nationen im deutsch geführten Train-Advise-Assist Command North (TAAC-N) der NATO-geführten Resolute Support Mission entstehen könnten. Das wären zum Beispiel Mongolen oder Armenier, die die Sicherung des Camps Marmal in Masar-i-Scharif stellen. Oder Georgier, die als schnelle Eingreiftruppe (Quick Reaction Force, QRF) eingesetzt werden und in der Funktion auch die ersten Kräfte vor Ort beim Anschlag auf das deutsche Konsulat im November 2016 waren.
Die entsprechende Frage und die Antwort aus der Bundestagsdrucksache 19/8126:
9.Ist Deutschland in der Lage, Leistungen und Fähigkeiten, die von anderen Nationen zur Verfügung gestellt werden, bei einem möglichen Wegfall aus eigenen Mitteln zu kompensieren?
Wenn ja, welche, und wie?
Welche Konsequenzen hätten solche Kompensationen auf die Bundeswehr?
Wenn nein, welche Auswirkung hätte der Wegfall von Leistungen und Fähigkeiten auf die Auftragserfüllung, die Durchhaltefähigkeit und das Schutzniveau der eingesetzten Soldaten (bitte detailliert erläutern)?
Auf Basis des Bundestagsmandats Resolute Support (Bundestagsdrucksache 19/1094 vom 7. März 2018) hält die Bundeswehr Kräfte der nationalen Rückfallposition in Deutschland für den Fall bereit, einen Ausfall multinationaler Truppensteller im Norden auszugleichen oder falls eine Lageverschärfung den Einsatz von zusätzlichen Kräften erfordert.
Das ist keine neue Aussage. Bereits seit Jahren werden die Bundestagsabgeordneten in der wöchentlichen Lageunterrichtung des Ministeriums in ähnlicher Weise informiert:
Für den Einsatz in Afghanistan bei Resolute Support werden in Deutschland Fähigkeiten mit einer Reaktionszeit von 30 Tagen bereitgehalten, um bei Lageverschärfungen oder Wegfall von Leistungen multinationaler Truppensteller reagieren zu können (sogenannte nationale Rückfallposition, das Material ist bereits im Einsatzgebiet). Dies betrifft rund 350 Soldatinnen und Soldaten einschließlich des Personals des mobilen notfallchirurgischen Teams (Damage Control Surgery Unit / DCSU), das bis zu zehn Soldatinnen und Soldaten umfasst und mit einer Reaktionszeit von 14 Tagen bereitgehalten wird.
Eine solche Aufstockung ist damit keineswegs entgegen frühereren Plänen (wie es in der Zeitungsmeldung heißt), und schon die Zahl 350 zeigt, dass nicht daran gedacht wird, einen nach wie vor möglichen US-Truppenabzug auszugleichen: Da müsste dann von Tausenden Soldaten die Rede sein. Faktisch hat die Bundeswehr mit dieser nationalen Rückfallposition für einen Ausstieg von Sicherungskräften oder der QRF anderer Nationen vorgeplant, nicht aber für einenErsatz der USA – zumal nicht nur dem deutschen Verteidigungsministerium bewusst ist, dass die Bundeswehr etliche Fähigkeiten der US-Truppen schlicht nicht hat.
In der Tat hat allerdings die Oppositionspartei FDP aus dieser Antwort eine Konsequenz gezogen: Wenn eine solche Aufstockung notwendig werden sollte, müsse damit auch ein neues Mandat verbunden sein, forderte ihre verteidigungspolitische Sprecherin Marie-Agnes Strack-Zimmermann im Gespräch mit Augen geradeaus!. Eine Erhöhung der Truppenzahl, egal aus welchem Grund, könne nicht ohne Diskussion im Parlament erfolgen.
Die Obergrenze im derzeitigen Bundestagsmandat für den Afghanistan-Einsatz, das demnächst verlängert werden soll, liegt bei 1.300 Soldaten – aktuell sind es knapp 1.200, davon mehr als 900 in Masar-i-Scharif. Ein Einsatz der Reserve aus Deutschland würde also die mandatierte Obergrenze recht schnell überschreiten. Allerdings, auch das gehört dazu: Wie in praktisch jedem Mandat für einen Auslandseinsatz der Bundeswehr findet sich auch in diesem die Formulierung:
Für Phasen der Verlegung und Rückverlegung sowie im Rahmen von Kontingentwechseln und in Notsituationen darf die Personalobergrenze vorübergehend überschritten werden.
(Archivbild Februar 2018: Ein mongolischer und ein deutscher Soldat im Camp Marmal in Mazar-e Sharif/Afghanistan – Jana Neumann/Bundeswehr)
„Eine Erhöhung der Truppenzahl, egal aus welchem Grund, könne nicht ohne Diskussion im Parlament erfolgen….“
Langwierige Mandatsdiskussionen also auch bei Gefahr im Verzug?
Bzw. Im Zweifelsfall lässt man aus dem kommoden Berlin die eigenen Soldaten einfach Mal ohne sicherungstruppe zurück um sich politisch zu profilieren?
Mehr als Armutszeugnisse scheint die deutsche Politik bzgl. Verteidigungspolitischer Themen nicht mehr produzieren zu können
„… in Notsituationen darf die Personalobergrenze vorübergehend überschritten werden.“
Damit ist doch alles gesagt und keiner weiteren Meldung wert.
@asdf
„Alles gesagt“ ja, aber lediglich für Notfälle.
Ein Dauerhafte(r) U.S.-Abzug/- Reduzierung ist mitnichten als Notfall einstufbar.
Ein Notfall entspricht einer Situation, in der dringend Hilfe in begrenztem Zeitraum erfolgen muss.
Die ROE bei RSM sprechen dazu sicherlich eine klarere Sprache, mit der zwar Militär die Lage beurteilen kann, Politik jedoch wohl kaum leben können wird.
Die Angelegenheit offenbart einmal mehr das deutsche Dilemma mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz; es gehört in die Verfassung.
Bei NTM von 30 Tagen kann unterstellt werden, dass die Zeit im BT ausreichte.
Wer sich aber auskennt weiß, nach gefallenem Entschluss der strategischen Ebene wird sofort ein VorKdo in Marsch gesetzt, sofort < 3 Tage, auf ein BT-Placet für diese Voraustruppe darf nicht gewartet werden müssen!
Die derzeitige Strategie sieht es vor, die Truppen aus AFG abzuziehen, sobald und soweit es die Lage zulässt. Würde DEU die US Truppen ersetzen, wäre das ein anderer Einsatz und daher politisch wie rechtlich zustimmungspflichtig. Ein Notfall ist etwas anderes. Davon abgesehen bezieht sich die Antwort des BMVg ausdrücklich auf den nördlichen Raum und nicht auf das ganze Land. Die Notfall-Reserve ist eine taktische, vielleicht operative. Aber keinesfalls eine strategische Reserve.
@Sebastian Böhme
Exakt.
Ausschließlich taktRes, mit 350 Köpfen. Bei dieser Größenordnung, bei der zudem DCSU noch abzuziehen ist, bleibt max Btl (-) an Kampftruppe verfügbar, also etwa 2 vstkKp.
Allein der Raum TAAC-N erforderte unter Glaubwürdigkeitsbedingungen ganz andere Größenordnungen.
Für auch nur ansatzweise umzusetzende operative Vorstellungen fehlen
– „operative Mobilität“, geht nur luftmobil, und natürlich
– Luftunterstützung, die im unterstellten Szenar die U.S. Seite ja schon abgezogen hätte.
Bewertung: minimalste Alibifunktion zur Beruhigung parlamentarischer Gemüter.
Die FDP – deren Haltung in Sachen Untersuchungsausschuß ich unterstütze, hat sich hier verrannt. Wenn wegen des Abzuges der US-Truppen ein Notfall eintritt, dann hat die Regierung keine Zeit für eine Parlamentsbeteiligung und darf selbstverständlich, die im Mandant vorgesehene Reserve eigenmächtig Verlegen. Selbst wenn es nicht im Mandat vorgesehen wäre, dann würde es durch Gefahr im Verzug gerechtfertigt.
@KPK: Sie haben nicht Recht. Der Abzug der US Truppen kann zu einen Notfall führen. Die deutschen Truppen sollen nur so lange in AFG sein, wie die US Truppen im Lande sind. Aber seit Trump ist es denkbar, daß die US Truppen so schnell abziehen oder einzelne Fähigkeiten abziehen, daß die BW Truppen oder anderen Nato-Truppen der Rückzug aus AFG abgeschnitten wird oder die Gefahr besteht, daß die Rückzugskonvois angegriffen werden oder eine Rückverlegung auf dem Landwege oder zum nächsten Flughafen nicht mehr möglich ist, weil die US Luftunterstützung fehlt und die Taliban die Wege blockieren.
Die deutschen Truppen in AFG sind überwiegend keine Kampftruppen. Also muß die BW die Möglichkeit haben, schnell Fallschirmjäger oder Panzergrenadiere nach AFG zu verlegen, um den Rückzug der BW aus AFG zu sichern oder ggf. die Rückzugswege freizukämpfen.
Deutschland, Frankreich und GB könnten die 14.000 US Soldaten und alle ihre Fähigkeiten ersetzen, aber warum sollten wir dies tun, wenn die US Truppen sich verpissen müssen?
Der Trump-Regierung müssen wir alles zu trauen, auch daß die einen Witz-Frieden mit der Taliban schließen, übereilt abziehen und die deutschen Soldaten sitzen plötzlich in AFG in der Falle, wie einst die Amerikaner und die Südvietnamesen in Saigon 1975!!
@Closius
Ggf habe ich mich unverständlich ausgedrückt. Klar bedeutete ein – kurzfristiger – U.S.-Abzug den Notfall, den absoluten.
Und sogar ein mit allen Truppenstellern abgesprochener wäre krass anspruchsvoll, es sei denn die Taliban werden einbezogen und um STILLHALTEN GEBETEN! Vorstellbar mit U.S. Kommandoführung, nein. Wünschenswert, nein. Denn dann kann das Land gleich übergeben werden.
PzGren sind nicht Mittel der Wahl, denn ohne SPz haben Sie nur Fähigkeiten unzureichend ausgebildeter Infanterie.
Es kommt nur Inf in Frage, dabei ist egal welche TrGtg.
Selbst bei im KdoH/deutscher Inf entsteht sicher heftiges Stirnrunzeln, denn rein abgesessen sollen die ja sicher nicht erforderlichenfalls marschieren und kämpfen sollen: Es fehlten im konkreten Fall im Einsatzraum die Boxer oder Mungo oder Wiesel oder BV206S oder Fuchs denn, ich unterstelle in 30 Tagen bekommen Lw /SALIS es nicht hin, für 350 Mann Großgerät zu verlegen.
Vorabstationiert ist nichts, oder täusche ich mich?
@ Klaus-Peter Kaikowsky | 12. März 2019 – 20:57
Ein wesentlicher Teil der Ausrüstung der Notfall-Reserve befindet sich in AFG, ausweislich der von T.W. zitierten Passage.
Es ist davon abgesehen kein großes Geheimnis, dass alle DEU TrpTle im „richtigen Art. 5 Fall“ unverzüglich aus den „Expeditionseinsätzen“ abgezogen würden. Wie detailliert entsprechende Planspiele sind, ist natürlich fraglich, weil VS. Man darf aber davon ausgehen, dass nur wesentliche Waffen(systeme) und sonstige Ausrüstung rückgeführt würde.
Im Übrigen ist anzunehmen, dass die Truppe vor Ort sich zur zeitlich begrenzten Verteidigung einrichten würde, die Notfall-Reserve den Marschbefehl erhält, und wenn dann immer noch keine Überlegenheit hergestellt werden kann, auch nicht mit Hilfe von Fähigkeiten, die Verbündete noch vor Ort haben, ja die Truppe nicht einmal mehr ausweichen kann und man eingekesselt und aufgerieben wird oder einen Ausbruch versucht, dann liegt unverzüglich ein neues Mandat auf dem Tisch. Denn keine Fraktion im Bundestag, nicht einmal Die Linke, würde es sich politisch erlauben, Rettungsmaßnahmen zu unterlassen, wenn DEU Soldaten sterben. Und dann ist die DSK mit ihren Verbänden nicht mehr weit. Sollten dabei Waffensysteme in die Hände des Feindes geraten, kann man diese später immer noch aus der Luft zerstören.
Ich glaube jedoch nicht, dass die Taliban so dümmlich wären und direkt NATO Truppen mit Masse angreifen würden.
@Sebastian Böhme | 12. März 2019 – 23:10
Liest sich gut und treffend in taktischer wie operativer Ableitung.
„Ein wesentlicher Teil der Ausrüstung der Notfall-Reserve befindet sich in AFG“
Fragen, sicher eingestufte Antworten, dennoch
– wesentlich heißt?
– was konkret an Kampffahrzeugen?
Bei z.B. Großgerät müsste zugehörige Truppe ge-earmarked sein. Denn, nicht jeder InfVbd kann jeden Fz-Typ nutzen.
@Sebastian Böhme
Was ich mich schon gefragt habe: in wie weit können denn die Feldlager unter Feinddruck geräumt (ich sage nicht: evakuiert) werden?
Ein neues Mandat ist das eine, Effektoren vor Ort das andere. Selbstverteidigung ist ja jetzt schon durch die ROE gedeckt.
Möglicherweise vollzieht sich eine Beendigung der U.S. Truppenstationierung früher als bislang erwartet.
https://www.militarytimes.com/flashpoints/2019/03/13/longest-us-taliban-peace-talks-see-progress-but-agreement-on-withdrawal-timeline-remains-elusive/
Jedenfalls resultieren die neuesten Gespräche mit den Taliban in Qatar/Doha in
https://www.militarytimes.com/flashpoints/2019/01/30/us-reports-agreements-in-principle-with-taliban/ mit
Entwürfen von Abkommen zwischen den Kämpfern und der US-Regierung über einen „Rückzugsterminplan“.
In den 13-tägigen Gesprächen war die Govenment of the Islamic Republic of Afghanistan (GIRoA) bislang nicht beteiligt, sodass die Ergebnisse mit Kabul noch abzustimmen sind. Herausforderung: „… the insurgents commit to guaranteeing that Afghan territory is not used as a .“
Ob parallel die RSM – Verbündeten informiert sind/werden ist nicht bekannt.
Pardon, es fehlt oben ein Teil im vorletzten Absatz
„… the insurgents commit to guaranteeing that Afghan territory is not used as a .“
Da muss großes Vertrauen gezeigt und gehofft werden, dass alle Stämme den Doha-Absprachen nachkommen wollen.
@Klaus-Peter Kaikowsky | 12. März 2019 – 23:26
@Thomas Melber | 12. März 2019 – 23:36
Dazu müsste ich im Kaffeesatz lesen. Mir wäre aber ohnehin nicht wohl, wenn man hier konkrete Details bespricht und dem Feind bei der Lagefeststellung hilft.
WOW!
Für den ungedienten Aussenstehenden erinnert Eure Diskussion doch sehr an https://en.wikipedia.org/wiki/Fall_of_Saigon
Nicht, dass ich deswegen traurig wäre (der Russe brauchte 10 Jahre, seine Niederlage einzugestehen – „wir“ sind jetzt wie lange dort?).
Ich hoffe aber *inständig*, wir beenden den Wahnsinn baldmöglichst und wir können „unsere Leute“ unbeschadet abziehen – inkl. unserer lokalen Supporter!
Der AFG-Krieg ist nicht gewinnbar. Nicht für Russland und schon gar nicht für Deutschland.
Wenn die USA die Hälfte ihrer Kräfte abziehen – hat die Bundeswehr nicht erhebliche Probleme zu befürchten hinsichtlich möglicher fliegerischer/ logistischer/nachrichtendienstlicher Unterstützung? Schon bisher erschien die Bundeswehr im Notfall stark auf die Hilfe der Verbündeten angewiesen.