Wehrpflicht in Finnland: Verteidigung als Aufgabe der ganzen Gesellschaft
Das neue NATO-Mitglied Finnland hat auch in Zeiten der Neutralität immer an der Wehrpflicht festgehalten. Das finnische System wurde hierzulande zwar zur Kenntnis, aber eben als Besonderheit eines Landes mit geringer Bevölkerungsdichte an der Grenze zu Russland wahrgenommen. Mit der neuen Debatte über eine Rückkehr der Wehrpflicht in Deutschland ist das Interesse an den Modellen der skandinavischen Nachbarn gestiegen. Kapitän z.S. Misa Kangaste, Verteidigungsattaché an der Botschaft in Berlin, erläutert in seinem Gastbeitrag die Details des finnischen Systems.
Seit Finnlands Antrag auf die NATO-Mitgliedschaft haben wir in der Militärabteilung der Botschaft von Finnland viele Anfragen z.B. des Reservistenverbandes und der Bundeswehr zum Thema finnisches Wehrpflicht- und Reservesystem erhalten. Wir möchten daher auch in diesem Forum unsere Erkenntnisse und Erfahrungen teilen. Mit Interesse haben wir die Debatte in Deutschland über die Wiedereinführung der Wehrpflicht oder die Einführung einer Dienstpflicht verfolgt. Für uns ist eine der wichtigsten Lehren aus dem Krieg in der Ukraine, dass die Verteidigung des Landes eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft ist und dafür ausreichend Personal benötigt wird.
Glaubwürdige Verteidigung
Aus militärischer Sicht basiert die Sicherheit Finnlands auf der nationalen Verteidigungsfähigkeit (Artikel 3 des Nordatlantikvertrages), der Gesamtverteidigung, der kollektiven Verteidigung der NATO, der Mitgliedschaft in der Europäischen Union und der multilateralen Verteidigungszusammenarbeit. Diese fünf Elemente stehen in Wechselwirkung zueinander und müssen alle rechtzeitig vorangebracht werden. Aufgrund unserer Geschichte und geostrategischen Lage haben wir uns langfristig um unsere Verteidigung gekümmert. In diesem Zusammenhang sind die folgenden Faktoren traditionell von großer Bedeutung: die allgemeine Wehrpflicht, eine gut ausgebildete Reserve und ein starker Wille zur Verteidigung des gesamten Landes.
Durch die allgemeine Wehrpflicht verfügt Finnland über eine gut ausgebildete Reserve von 900.000 Personen sowie eine aktive Truppenstärke in der Krisenzeit von 280.000 Personen. Die Truppen sind modern ausgestattet. Wir haben eine der stärksten Artillerien in Europa und eine leistungsstarke Luftwaffe und Marine. Die Beschaffung von 64 F-35-Kampfflugzeugen und vier hochmodernen Korvetten für die arktische Marine sind wichtige Beispiele für die aktuelle Entwicklung der finnischen Fähigkeiten. Die Reservisten werden in allen Bereichen der Verteidigungskräfte eingesetzt und machen 96 Prozent der gesamten Kriegsstärke aus. Jährlich durchlaufen mehr als 45.000 Reservisten ein militärisches Training. Die Bereitschaft zur Verteidigung des Landes ist bei Reservisten und Wehrpflichtigen sehr hoch.
Die nationale Verteidigung ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Konzepts der umfassenden Sicherheit, das über Jahrzehnte hinweg entwickelt worden ist. Dieses Konzept ist die Grundlage für die Widerstandsfähigkeit unserer Gesellschaft. In einer kürzlich durchgeführten Umfrage vertraten 80 Prozent der Befragten die Ansicht, dass die Finnen im Falle eines Angriffs auf Finnland zu den Waffen greifen sollten, um sich in jeder Situation zu verteidigen, auch wenn der Ausgang ungewiss erscheint.
Wehrdienst
Die Wehrpflicht ist die Grundlage der finnischen Verteidigung. Sie ist ein kosteneffizientes Mittel, um für ein Land mit nur 5,6 Millionen Einwohnern eine Reserve in der erforderlichen Größe und Leistungsfähigkeit zu schaffen.
Jeder Finne hat die Pflicht zur Landesverteidigung. Diese Pflicht ist im Grundgesetz verankert. (Artikel 127: Jeder finnische Staatsangehörige ist verpflichtet, an der Verteidigung des Vaterlandes teilzunehmen oder so dazu beizutragen, wie es durch Gesetz geregelt wird.)
Finnische Männer sind verpflichtet, vom Beginn des Jahres, in dem sie 18 Jahre alt werden, bis zum Ende des Jahres, in dem sie 60 Jahre alt werden, an der bewaffneten Verteidigung Finnlands teilzunehmen. Der Wehrdienst kann als bewaffneter oder unbewaffneter Wehrdienst oder als Zivildienst geleistet werden. (Der Zivildienst ist in Finnland seit 1931 gesetzlich verankert, derzeit melden sich jedes Jahr durchschnittlich etwa 2000 junge Menschen zum Zivildienst. Der Zivildienst dauert 347 Tage und besteht aus 28 Tagen Grundausbildung und etwa 10,5 Monaten Dienstzeit.)
Eine musterungspflichtige Altersgruppe umfasst etwa 30.000 Männer. Fast 70 Prozent jeder Altersgruppe absolvieren ihren Wehrdienst – ca. 22.000 Männer und circa 1.100 Frauen. Dazu werden 29.000 Reservisten jährlich ausgebildet.
Frauen im Alter von 18-29 Jahren können sich für den freiwilligen Wehrdienst bewerben. Die Inhalte und Anforderungen für Frauen sind die gleichen wie für Männer. Frauen und Männer haben den gleichen Zugang zur Führungsausbildung und später zu einer militärischen Laufbahn.
Die Wehrpflicht wird von der Bevölkerung stark unterstützt. Über 80 Prozent der Finnen befürworten das derzeitige Wehrpflichtsystem, mit dem die für die Verteidigung Finnlands erforderlichen Reserven gesichert werden. Die Wehrpflicht ist Teil der finnischen Identität und Gesellschaft. Wehrpflichtige mit unterschiedlichem Hintergrund und aus verschiedenen Gesellschaftsschichten leisten einen wertvollen Beitrag zur militärischen Verteidigung des Heimatlandes. Die Wehrpflicht ist ein wichtiges verbindendes Element für die Bürger und hat eine kohäsionsfördernde Wirkung. Durch den Militärdienst hat jede Familie eine direkte Verbindung zu den finnischen Verteidigungskräften.
Ausbildungssystem für Wehrpflichtige
Die Ausbildung im finnischen Reservistensystem erfolgt während des Wehrdienstes.
Der Wehrdienst dauert 165, 255 oder 347 Tage. Die Ausbildungszeit für einen Offizier, einen Unteroffizier oder einen Wehrpflichtigen auf einem besonders anspruchsvollen Posten beträgt 347 Tage. Die Dienstzeit für Wehrpflichtige, die für besondere Fertigkeiten ausgebildet werden, beträgt 255 Tage und für die übrigen Wehrpflichtigen 165 Tage. Das Ausbildungssystem für Wehrpflichtige ist in vier Module unterteilt: Grundausbildung (6 Wochen), Dienstzweigausbildung (6 Wochen), Spezialausbildung (6 Wochen) und Einheitsausbildung (6 Wochen). Jeder Abschnitt ist in mehrere Kurse mit jeweils eigenen Kurszielen unterteilt. Nach der Grundausbildung wird ein Teil der Wehrpflichtigen für die Führungsausbildung ausgewählt (entweder zu Offizieren oder Unteroffizieren). Nach der Führungsausbildung kehren sie in ihre Truppenteile zurück, um neue Wehrpflichtige als Gruppen- oder Zugführer zu führen. Die Rekruten kommen in zwei Wellen, die erste im Januar und die zweite im Juli. Die ausgebildeten Gruppen- oder Zugführer von der ersten Welle fungieren als Leiter für die zweite Welle. So funktioniert die Truppenproduktion.
Umfragen zufolge sind die Wehrpflichtigen mit ihrer Ausbildung sehr zufrieden.
Reserve
In der letzten Phase des Dienstes dient jeder Wehrpflichtige in seiner Einheit. Jeder Wehrpflichtige wird entsprechend seinen Fähigkeiten für den Kriegseinsatz ausgebildet. Der Wehrpflichtige wird nach Beendigung seines Wehrdienstes in die Reserve versetzt:
1) Mannschaften bis zum 50. Lebensjahr
2) Offiziere und Unteroffiziere bis zum 60. Lebensjahr
3) Offiziere im Grad eines Obersts bzw. Kapitäns zur See oder höher, so lange sie diensttauglich sind.
Ein Wehrpflichtiger in der Reserve ist verpflichtet, an Auffrischungsübungen teilzunehmen. Die Reservisten trainieren in ihren eigenen Einheiten bei den obligatorischen Wehrübungen, in denen jährlich fast 29.000 Reservisten eine Auffrischung erhalten. Die Wehrübungen beruhen auf dem Wehrpflichtgesetz und sind ebenso obligatorisch wie der Militärdienst. Das unbefugte Fernbleiben von einer Auffrischungsschulung für Reservisten ist eine strafbare Handlung.
Die Verteidigungskräfte organisieren auch freiwillige Wehrübungen, an denen jährlich etwa 8.500 Reservisten teilnehmen. Außerdem haben Reservisten auch die Möglichkeit, aus eigener Initiative freiwillig an Übungen teilzunehmen, die vom Finnischen Nationalen Verteidigungsausbildungsverband MPK organisiert werden. Letztes Jahr wurden 16.000 Reservisten von diesem Verband ausgebildet. Obligatorische Wehrübungen dauern in der Regel 5 bis 6 Tage, freiwillige 1 bis 3 Tage. Freiwillige Übungen finden normalerweise an Wochenenden statt. Besonders aktive Reservisten können insgesamt 10 bis 15 Tage im Jahr üben.
In der Regel sind Arbeitgeber verpflichtet, einberufene Arbeitnehmer für die Zeit der Auffrischungsübung entschädigungslos freizustellen. Reservisten können nicht aus dem Arbeitsverhältnis oder aus dem Dienst entlassen werden, wenn sie an einer Auffrischungsübung teilnehmen. Der Arbeitgeber muss vor der Übung benachrichtigt werden.
Der Arbeitgeber kann seine Mitarbeiter in Kriegszeiten für kritische Arbeiten von der Einberufung zum Militärdienst zurückstellen lassen. In diesem Fall besteht die Aufgabe des Reservisten darin, für seinen Arbeitgeber zu arbeiten, um die lebenswichtigen Funktionen der Gesellschaft zu sichern.
Weiterentwicklung der Wehrpflicht
Wir haben das Ausbildungssystem für Wehrpflichtige kontinuierlich weiterentwickelt und versuchen, mit der Zeit und den Erwartungen der Wehrpflichtigen Schritt zu halten, indem wir zum Beispiel verstärkt sowohl Simulatoren als auch selbstständiges Lernen und Training sowie die Nutzung von Advanced Distributed Learning Plattformen in der Ausbildung nutzen. Dies weiten wir auch auf die Ausbildung von Reservisten aus. Wir beobachten den Ukraine-Krieg sehr aufmerksam, ziehen Lehren daraus und setzen diese sowohl bei der Ausbildung der Wehrpflichtigen als auch der Reservisten ein.
Die NATO-Mitgliedschaft wird sich nicht direkt auf die Wehrpflicht auswirken. Bis heute haben wir in Auslandseinsätzen nur Personal und Reservisten auf freiwilliger Basis eingesetzt. Es wird jedoch geprüft, ob Berufssoldaten dazu verpflichtet werden sollten, in Friedenszeiten an Aufgaben der NATO, wie z.B. Air Shielding, teilzunehmen. Zudem muss noch geklärt werden, ob Berufssoldaten und auch Wehrpflichtige für NATO-Aufgaben außerhalb Finnlands im Sinne von Artikel 5 eingezogen werden können. Das ist eine wesentliche politische Frage bei der Vorbereitung des nächsten Verteidigungsberichts.
Die Regierung wird entsprechend ihrem Regierungsprogramm von 2023 die Wehrpflicht weiterentwickeln und strebt an, die Zahl der Frauen, die sich freiwillig zum Dienst melden, bis zum Ende der Legislaturperiode auf 2.000 pro Jahr zu erhöhen. Die Regierung wird es z.B. auch Diabetikern ermöglichen, ihren Wehrdienst zu absolvieren und an Auffrischungsübungen teilzunehmen, wobei die gesundheitliche Sicherheit im Dienst berücksichtigt wird. Sie wird auch die Möglichkeit prüfen, ob auch andere Personen, die aus gesundheitlichen Gründen vom Dienst befreit sind, an der Ausbildung zur Landesverteidigung teilnehmen können. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass ein möglichst großer Anteil der Bevölkerung in die Landesverteidigung eingebunden werden kann.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass einer der wichtigsten Bausteine unserer Verteidigung die allgemeine Wehr- und Reservepflicht und somit eine für unser kleines Land große Zahl an verfügbaren Truppen sowie die große Bereitschaft der Bevölkerung zur Verteidigung des Landes ist.
(Archivbild Mai 2023: Ein Soldat des finnischen Jaeger Korps bei der Übung Northern Forest 23 – Corporal Nathan Tanuku/British Army/UK MOD/Crown copyright/Open Government License)
@ Robert, 21.03.2024 um 12:14 Uhr
Sankt-Florians-Prinzip in Reinkultur… *Rolleyes*
@Fussgaenger
„Sankt-Florians-Prinzip in Reinkultur… *Rolleyes*“
Was haben Sie den, Robert wird Ihnen ganz offensichtlich nicht im Weg stehen wen sie Vorbildlich voran gehen und die Unentschlossenen inspirieren?
Oder eher Angst um den eigenen Pelz, wen man keinen anderen schicken kann?
Mir scheint Geldscheine und Digitale Zahlen auf einem Konto kann man nicht essen ;)
@Robert:
Wieso erst im Konfliktfall?
Ist Ihnen erst jetzt bewußt geworden das es nie eine Wehrpflicht für Frauen gab und das die Diskussion darüber erst zaghaft in den Startlöchern steht? So sieht nun mal die Verfassungswirklichkeit aus.
https://www.bundeswehr.de/resource/blob/177494/a912f94f61f50348d16ed8c8e3bd7510/zielbild-offizier-des-heeres-data.pdf
„Entscheide und verantworte!“
PS.: Das gilt selbstverständlich nicht nur für Offiziere sondern für jeden Soldaten, habe das Unter überlesen.
https://www.bundeswehr.de/resource/blob/2633702/2869b7a2956eb7d3dd078b0b3b13f612/zielbild-unteroffizier-data.pdf
@Force B:
Naja, Zielbilder sind natürlich in gewisser Weise unumgänglich. Und wirklich Falsches steht da ja auch nicht drin. Allerdings klingt so etwas dann doch immer wieder gern mal wie schon 1975 Mike Krüger: „Ich bin Bundeswehrsoldat, ’n toller Typ…“
@Metallkopf:
Diese <iZielbilder sind doch wohl Teil des Berufsethos. Etwas das für mich einfach dazugehört, wissend das natürlich nicht immer so ist.
Einfach gesagt war ich oft genug in sehr brennzligen Situationen wo mir das polizeiliche Gegenüber weniger Sorgen bereitet hat als der Kollege an meiner Seite. Weil ich wußte das der entweder noch nie hinter der Sache stand oder sich, aus welchem Grunde auch immer, davon distanziert hatte. Von letzteren hatte ich zwei in meinen Dienststellen die so konsequent waren zu kündigen, wofür ich denen noch heute dankbar bin.
Männer, die im Jahr der Einberufung mindestens 18 Jahre alt sind, nehmen an der Musterung teil. Bei ihr wird die Diensttauglichkeit der Wehrpflichtigen geprüft und ihre Wünsche für den Dienst angehört, anhand derer entschieden wird, wann und wo sie ihren Dienst antreten sollen. Über die Dauer des Dienstes wird bei der Mustering nicht entschieden. Wenn ein Wehrpflichtiger nicht diensttauglich ist, wird er aus dem Friedensdienst entlassen. In begründeten Fällen kann der Eintritt in den Dienst auch aufgeschoben werden.
Die ärztlichen Untersuchungen der Wehrpflichtigen werden vor der Musterung im Herbst durchgeführt. Sie werden vom allgemeinen öffentlichen Gesundheitsdienst oder von der Bildungseinrichtung durchgeführt.
Im Allgemeinen wird der Wehrpflichtige in der Nähe seines Wohnorts untergebracht.
Die Wehrpflichtigen übernachten in der Kaserne der Einheit, außer an Feiertagen und während der Ferien.
Die Auswahl der Wehrpflichtigen für die Ausbildung erfolgt nach dem Bedarf der Streitkräfte. Das Auswahlverfahren in der Einheit bestimmt die Aufgabe, für die der Wehrpflichtige ausgebildet wird, und die Dauer des Dienstes für diese Aufgabe. Bei der Auswahl werden die Bereitschaft und die Eignung des Wehrpflichtigen sowie die Ergebnisse der Beurteilungen durch Ausbilder und Kameraden berücksichtigt. Die Kompetenzen, die der Wehrpflichtige vor seinem Eintritt in den Militärdienst erworben hat, werden vor dem Dienst ermittelt, und es wird versucht, diese Kompetenzen bei den Dienstaufgaben zu nutzen. Die spezifischen Kompetenzen der Wehrpflichtigen werden in spezifischen Aufgaben genutzt.
Die 12 regionalen Dienststellen der Streitkräfte betreuen die Wehrpflichtigen entsprechend Ihrem ständigen Wohnsitz.
Regionale Office
* sind für die offiziellen Kommunikationskanäle zwischen dem Wehrpflichtigen und den Streitkräften zuständig,
* beraten die Wehrpflichtigen
* organisieren die Musterun und,
* bearbeiten die Anträge für den freiwilligen Dienst von Frauen.
@Misa Kangaste
Verstehe ich das richtig: „Das Auswahlverfahren in der Einheit bestimmt die Aufgabe, für die der Wehrpflichtige ausgebildet wird, und die Dauer des Dienstes für diese Aufgabe. Bei der Auswahl werden die Bereitschaft und die Eignung des Wehrpflichtigen sowie die Ergebnisse der Beurteilungen durch Ausbilder und Kameraden berücksichtigt.“ das alle zunächst für 165 Tage eingezogen werden, und wer im Rahmen der Ausbildung und des folgenden Dienstes positiv auffällt bleibt ggf 2x länger? Muss man dann bleiben oder kann man auch die dann folgende Spezialisierung ablehnen?
Wer gern auf Umfragen rekurriert, sollte allerdings auch wissen, dass wir in Deutschland keine direkte Demokratie in Reinkultur als Staatsform leben, sondern eine parlamentarische Republik in Form eines föderalen Bundesstaates. Das bedeutet natürlich nicht, dass es in Deutschland grundlegend „undemokratisch“ zuginge, aber es hat schon seinen Grund, warum zu den Abgeordneten des Bundestages laut Grundgesetz in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ausdrücklich festgehalten wird: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“
Meinungsumfragen sind aktuelle Momentaufnahmen und auch massiv zeitlich variablen Modeerscheinungen unterworfen. Es hat schon seinen Grund und seine Berechtigung, warum Verfassungsrecht gewisse Beharrungskräfte aufweist.
Freilich ist das mit dem Gewissen auch nicht so ganz das Ende, denn in Art. 1 Abs. 3 GG steht: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Grundrechte durch legislatives Unrecht mit Füßen treten, ist also nicht drin. Nicht mal, wenn das Gewissen es angeblich befiehlt.
Was heißt das für die Verteidigung oder Wehrpflicht? Auch wenn 90% dagegen sind, Taurus zu liefern, oder 66% es ablehnen, Deutschland im Verteidigungsfall zu verteidigen, ist durchaus möglich, und womöglich auch richtig, dass es trotzdem so beschlossen wird. Weil ich immer noch davon ausgehe, dass Abgeordnete, die sich 24/7 mit politischen Themen auseinandersetzen, im Zweifel mehr Ahnung haben dürften, als der durchschnittliche Nachrichtenleser im Internet, der an einer Klicki-Umfrage teilnimmt und glaubt, die Abgeordneten müssten jetzt das machen, was die Mehrheit der Deutschen angeblich möchte.
Bin im Internet nun auf den Conscript Guide gestossen, alles sehr gut und detailliert erklärt. In Englisch.
https://intti.fi/documents/1948673/202132723/Varusmies2024_englanti_saavutettava.pdf/d0047f36-c365-b8f9-e54e-0637f79451ef/Varusmies2024_englanti_saavutettava.pdf?t=1707463416106
@ Pio-Fritz sagt:
18.03.2024 um 16:40 @Heiko Kania sagt:
„Ah, da haben wir ja das Problem in der Verständigung. Sie reden von Brutto-Zeiten (also inkl. Wochenende, Feiertage und Urlaub), ich von Netto-Zeiten, also reine Diensttage. Und genau so habe ich auch KzS Kangaste verstanden, das er über reine Ausbildungszeiten schreibt.“
Die angegebenen Wehrdienstdauern sind demnach „Brutto“-Zeiten. Bei 347 Tagen Dauer für ResUffz/ResOffz zB. Beginn 06.25., Ende 18.12.25 eines Jahres. Siehe Seite 16 vom Conscript guide
@Flo
„… 165 Tage eingezogen werden, und wer im Rahmen der Ausbildung und des folgenden Dienstes positiv auffällt bleibt ggf 2x länger? Muss man dann bleiben oder kann man auch die dann folgende Spezialisierung ablehnen?“
Das ist das exakt das selbe Muster welches auch in der Bundeswehr gehandhabt wurde wen es ums länger Dienen ging „ZgFü fragt willst du LKW-Führerschein machen, dafür musst du wegen der Restdienstzeit aber auf 23 Monate verlängern? Hast du da eingeschlagen, wurdest du auch gleich an mehr Verantwortung ran geführt um zu schauen ob du für Uffz/StUffz zu brauchen bist und wen das auch gepasst hat und eine Stelle frei war wurdest du gefragt ob du auf 8 Jahre verlängern willst, 9 von 10 haben dann auch dabei eingeschlagen.
@ Robert; 21.03.2024 um 12:14 Uhr
Sie sind also „Wehrpflichtig und Reserveunteroffizier“ !
Das müssen sie uns mal bitte genauer erklären.
@Landmatrose3000 sagt: 25.03.2024 um 9:35 Uhr
Sehr interessantes Dokument, vielen Dank für den Link.
Auf Seite 12 steht auch gleich drin, das Offiziere und Unteroffiziere bis zu 200 Tage Refresher-Training haben nach Ableistung der Wehrpflicht.
Das ist doch mal eine Vorgabe, die gibt es in der Bw nicht.
Hier wird der Begriff „Wehrpflicht“ synonym „Grundwehrdienst“ verwendet. Beachte §3 WPflG: Bei Offizieren und Unteroffizieren endet die WPfl mit Ablauf des Jahres, in dem sie das 60. LJ vollenden.
@Heiko Kania sagt: 25.03.2024 um 17:53 Uhr
Wenn Sie in die von @Landmatrose3000 verlinkte Information schauen, dann finden Sie die Altersgrenzenauf Seite 12.
Für Mannschaften 50 Jahre, Unteroffiziere und Offiziere 60 Jahre.
Einziger Unterschied ist die Altersgrenze für Mannschaften, die liegt in Finnland höher.
Ihr ständiger Hinweis auf deutsche Gesetze und Gegebenheiten bringt uns nicht weiter.
Auch Sie sehen doch, daß FWDL und FWDL Hsch die Lücken nicht schließen. Also muss eine Wehrpflicht her, die alle umfasst (aich Frauen, was sie in Finnland nicht tut) und gleichzeitig Führernachwuchs in kurzer Zeit generiert.
Das finnische Modell könnten wir sofort haben, der Bundestag müsste nur die Wehrpflicht wieder einsetzen. Fehlen nur Kasernen, Material und politischer Wille.
@Pio-Fritz: In Bezug auf die Fragestellung von 0815 (23.03., 11:33 Uhr) könnte der Blick in das Gesetz Klarheit schaffen.
@Pio-Fritz: Wehrpflicht gilt in Deutschland immer noch. Die Einberufung zum Grundwehrdienst ist 2011 u.a. auf den Spannungs- oder Verteidigungsfall beschränkt worden.
Auch gegenwärtig dienende Zeit- und Berufssoldaten unterliegen selbstverständlich grundsätzlich der Wehrpflicht. Sie leisten freilich ihren Dienst nicht (mehr) im Rahmen des Grundwehrdienstes oder des Wehrpflichtgesetzes.
@Pio-Fritz „Fehlen nur Kasernen, Material und politischer Wille.“
Rofl. Die Bw bekommt das Stammpersonal nicht ausgestattet. In Bestandsbauten regnet es rein, oder es schimmelt. Die Bw vergrault zudem qualifiziertes Stammpersonal durch bürokratischen Irrsinn.
Wobei soll jetzt das zwangsweise Reinspülen junger Meschen in dieses sanierungsbedürftige Gesamtkunstwerk nun genau helfen?
@Metallkopf sagt: 26.03.2024 um 6:31 Uhr
„@Pio-Fritz: Wehrpflicht gilt in Deutschland immer noch. Die Einberufung zum Grundwehrdienst ist 2011 u.a. auf den Spannungs- oder Verteidigungsfall beschränkt worden.“
Jaja, deswegen wird ja auch im Wehrpflichtgesetz die Ableistung des Grundwehrdienstes ausgesetzt. Jeder weiß doch, was gemeint ist.
@Nur 2 Cent sagt: 26.03.2024 um 14:00 Uhr
Ich habe nichts dergleichen behauptet. Die rechtliche Grundlage für einen (Achtung!) Grundwehrdienst wie in Finnland existiert bereits. Man muss ihn nur wieder einsetzen.
Das die Bundeswehr dringendst Material aller Art, Infrastruktur und Bürokratieabbau braucht steht doch auf einem anderen Blatt.
Gesucht wird doch ein neues, zeitgemäßes Modell für die deutschen wehrpflichtigen Grundwehrdienstleistenden ( womit das Wortmonster wohl den größten Schatten wirft).
Aber solange wir Begrifflichkeiten diskutieren, sehe ich da schwarz.
@Pio-Fritz: „Wir“ diskutieren Begrifflichkeiten nicht. M.E. ist ein Diskurs zu einem Fachthema nur dann thematisch sinnvoll und weiterführend, wenn dessen Teilneher:innen beim Verwenden von Fachbegriffen diese im definierten Wortsinn verstehen und folgend zu verwenden in der Lage sind. Wehrpflicht ist nun einmal etwas anderes als Grundwehrdienst. „Wir“ mögen hier einer wie auch immer organisierte Form der Wehrpflicht das Wort reden. Dabei befinden wir uns – zumindest derzeit – bereits bei der Realisierung eines „einfachen“ Gesetzes zur Wiedereinführung auf verlorenem Posten. Und dabei sogar noch zusätzlich verfassungsändernde Mehrheiten zu ihrer grundsätzlichen Veränderung herbeizuwünschen, bleibt b.a.w. – unerreichbarer – Wunsch. Das geht an den politischen Realitäten komplett vorbei.
@Nur 2 Cent:
Wenn ich dran denke, was ich damals als Wehrpflichtiger für die adäquate Verwendung von IT in meiner Einheit schon mit einfachsten Mitteln verbessern konnte, indem ich einfach für bestimmte Dokumente Word-Vorlagen erstellt habe, wo sonst alle noch mit Enter, Tab und Leertaste formatiert haben…
Die Alternative ist, das „sanierungsbedürftige Gesamtkunstwerk“ immer weiter im eigenen Saft köcheln zu lassen, mit erheblich weniger Impuls von außen. Bis auch der letzte Motivierte schreiend das Weite sucht.
@Heiko Kania sagt: 27.03.2024 um 8:26 Uhr
„Dabei befinden wir uns – zumindest derzeit – bereits bei der Realisierung eines „einfachen“ Gesetzes zur Wiedereinführung auf verlorenem Posten. Und dabei sogar noch zusätzlich verfassungsändernde Mehrheiten zu ihrer grundsätzlichen Veränderung herbeizuwünschen, bleibt b.a.w. – unerreichbarer – Wunsch. Das geht an den politischen Realitäten komplett vorbei.“
Mit dieser Einstellung können wir das auch gleich sein lassen. Wenn das sowieso nicht kommt, weil politisch nicht gewollt – Ihrer Meinung nach.
Dann lehnen wir uns doch angespannt zurück und warten auf den Spannungs- oder Verteidigungsfall. Und schicken dann die wehrpflichtigen Grundwehrdienstleistenden nach etwa vierwöchiger Kurzausbildung als Kanonenfutter an die Front.
@Pio-Fritz: Vorab: wehrpflichtige Grundwehrdienstpflichtige sind so etwas wie „weiße Schimmel“. Ich persönlich habe es seinerzeit weder verstanden, dass die Politik in Gestalt der CDU/CSU die Wehrpflicht sehr kurzfristig ohne jegliches Personalwerbekonzept ausgesetzt hat. Seinerzeit wurde der Öffentlichkeit suggeriert, es würden alle Fähigkeiten zu einer (zeitgerechten) Restitution vorgehalten werden. Noch kann ich es mit dem Kenntnisstand von heute nachvollziehen, dass davon m.W. absolut gar nichts auch nur im Ansatz real vorbereitet wurde. Ebenso habe ich 2014 nicht glauben können, dass in Sachen Vorbereitung eines Wiederauflebens der WPfl (mindestens) die Erfassung der ungedienten WPfl vorbereitet, geschweige denn durchgeführt wurde. Ebenso halte ich es – als Berufssoldat a.D. – für Dienstvergehen Verantwortlicher in Politik und Militär, dass sowohl die MunBest zurückgeführt wurden (nahe 0) und Produktionskapazitäten zurückgefahren und folgend keinerlei verbindliche, sehr kurzfristig erfüllbare, Lieferverträge ausgehandelt in der „Alarmplan-Schublade“ lagen. Damit will ich sagen: es muss jetzt der 1. Schritt vor dem 2. geplant und getan werden. Und dabei können wir als DEU auf eine bewährte Verteidigungs-Gesetzgebung, ergänzt durch die grundgesetzlich abgesicherte Möglichkeit frw. Wehrdienstleistungen durch Frauen aufbauen. Insofern traue ich unserem SPD-Verteidigungsminister Pistorius zu, dass er (in Friedenszeiten, wie die FDP betont) zeitnah „Optionen für ein deutsches Wehrdienstmodell vorlegt, das bedrohungsangepasst auch kurzfristig skalierbar einen Beitrag zur gesamtstaatlichen Resilienz bietet.“
@Metallkopf: Die Wehrpflichtigen geraten aber in eine Struktur, die externe Impulse nicht mehr aufnehmen kann (oder will, weil das sind ja diese *ausspuckgeräusch* Gen Zler).
Die Sanierung des Gesamtkunstwerks muss jetzt angegangen werden. Nur mehr Personal oder EUR drauf kippen hilft nicht.
Da muss man an die Strukturen und vor allem an das ZRMS ran (Mission Bürokratieabbau führte imo zur Eskalation an der Vorschriftenfront).
Das erfordert eine Führungsperson, die keine Rücksicht auf bremsende persönliche Befindlichkeiten von B-Besoldeten nimmt und zur Not diese in den Vorruhestand schickt.
Keine leichte Aufgabe, weil „Plattmachen – Neumachen“ bietet sich gerade nicht so an. Hoffentlich bedarf es keiner Umstände wie weiland bei der preußischen Heeresreform, um endlich mal voranzukommen.