Wehrpflicht in Finnland: Verteidigung als Aufgabe der ganzen Gesellschaft

Das neue NATO-Mitglied Finnland hat auch in Zeiten der Neutralität immer an der Wehrpflicht festgehalten. Das finnische System wurde hierzulande zwar zur Kenntnis, aber eben als Besonderheit eines Landes mit geringer Bevölkerungsdichte an der Grenze zu Russland wahrgenommen. Mit der neuen Debatte über eine Rückkehr der Wehrpflicht in Deutschland ist das Interesse an den Modellen der skandinavischen Nachbarn gestiegen. Kapitän z.S. Misa Kangaste, Verteidigungsattaché an der Botschaft in Berlin, erläutert in seinem Gastbeitrag die Details des finnischen Systems.

Seit Finnlands Antrag auf die NATO-Mitgliedschaft haben wir in der Militärabteilung der Botschaft von Finnland viele Anfragen z.B. des Reservistenverbandes und der Bundeswehr zum Thema finnisches Wehrpflicht- und Reservesystem erhalten. Wir möchten daher auch in diesem Forum unsere Erkenntnisse und Erfahrungen teilen. Mit Interesse haben wir die Debatte in Deutschland über die Wiedereinführung der Wehrpflicht oder die Einführung einer Dienstpflicht verfolgt. Für uns ist eine der wichtigsten Lehren aus dem Krieg in der Ukraine, dass die Verteidigung des Landes eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft ist und dafür ausreichend Personal benötigt wird.

Glaubwürdige Verteidigung

Aus militärischer Sicht basiert die Sicherheit Finnlands auf der nationalen Verteidigungsfähigkeit (Artikel 3 des Nordatlantikvertrages), der Gesamtverteidigung, der kollektiven Verteidigung der NATO, der Mitgliedschaft in der Europäischen Union und der multilateralen Verteidigungszusammenarbeit. Diese fünf Elemente stehen in Wechselwirkung zueinander und müssen alle rechtzeitig vorangebracht werden. Aufgrund unserer Geschichte und geostrategischen Lage haben wir uns langfristig um unsere Verteidigung gekümmert. In diesem Zusammenhang sind die folgenden Faktoren traditionell von großer Bedeutung: die allgemeine Wehrpflicht, eine gut ausgebildete Reserve und ein starker Wille zur Verteidigung des gesamten Landes.

Durch die allgemeine Wehrpflicht verfügt Finnland über eine gut ausgebildete Reserve von 900.000 Personen sowie eine aktive Truppenstärke in der Krisenzeit von 280.000 Personen. Die Truppen sind modern ausgestattet. Wir haben eine der stärksten Artillerien in Europa und eine leistungsstarke Luftwaffe und Marine. Die Beschaffung von 64 F-35-Kampfflugzeugen und vier hochmodernen Korvetten für die arktische Marine sind wichtige Beispiele für die aktuelle Entwicklung der finnischen Fähigkeiten. Die Reservisten werden in allen Bereichen der Verteidigungskräfte eingesetzt und machen 96 Prozent der gesamten Kriegsstärke aus. Jährlich durchlaufen mehr als 45.000 Reservisten ein militärisches Training. Die Bereitschaft zur Verteidigung des Landes ist bei Reservisten und Wehrpflichtigen sehr hoch.

Die nationale Verteidigung ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Konzepts der umfassenden Sicherheit, das über Jahrzehnte hinweg entwickelt worden ist. Dieses Konzept ist die Grundlage für die Widerstandsfähigkeit unserer Gesellschaft. In einer kürzlich durchgeführten Umfrage vertraten 80 Prozent der Befragten die Ansicht, dass die Finnen im Falle eines Angriffs auf Finnland zu den Waffen greifen sollten, um sich in jeder Situation zu verteidigen, auch wenn der Ausgang ungewiss erscheint.

Wehrdienst

Die Wehrpflicht ist die Grundlage der finnischen Verteidigung. Sie ist ein kosteneffizientes Mittel, um für ein Land mit nur 5,6 Millionen Einwohnern eine Reserve in der erforderlichen Größe und Leistungsfähigkeit zu schaffen.
Jeder Finne hat die Pflicht zur Landesverteidigung. Diese Pflicht ist im Grundgesetz verankert. (Artikel 127: Jeder finnische Staatsangehörige ist verpflichtet, an der Verteidigung des Vaterlandes teilzunehmen oder so dazu beizutragen, wie es durch Gesetz geregelt wird.)

Finnische Männer sind verpflichtet, vom Beginn des Jahres, in dem sie 18 Jahre alt werden, bis zum Ende des Jahres, in dem sie 60 Jahre alt werden, an der bewaffneten Verteidigung Finnlands teilzunehmen. Der Wehrdienst kann als bewaffneter oder unbewaffneter Wehrdienst oder als Zivildienst geleistet werden. (Der Zivildienst ist in Finnland seit 1931 gesetzlich verankert, derzeit melden sich jedes Jahr durchschnittlich etwa 2000 junge Menschen zum Zivildienst. Der Zivildienst dauert 347 Tage und besteht aus 28 Tagen Grundausbildung und etwa 10,5 Monaten Dienstzeit.)

Eine musterungspflichtige Altersgruppe umfasst etwa 30.000 Männer. Fast 70 Prozent jeder Altersgruppe absolvieren ihren Wehrdienst – ca. 22.000 Männer und circa 1.100 Frauen. Dazu werden 29.000 Reservisten jährlich ausgebildet.

Frauen im Alter von 18-29 Jahren können sich für den freiwilligen Wehrdienst bewerben. Die Inhalte und Anforderungen für Frauen sind die gleichen wie für Männer. Frauen und Männer haben den gleichen Zugang zur Führungsausbildung und später zu einer militärischen Laufbahn.

Die Wehrpflicht wird von der Bevölkerung stark unterstützt. Über 80 Prozent der Finnen befürworten das derzeitige Wehrpflichtsystem, mit dem die für die Verteidigung Finnlands erforderlichen Reserven gesichert werden. Die Wehrpflicht ist Teil der finnischen Identität und Gesellschaft. Wehrpflichtige mit unterschiedlichem Hintergrund und aus verschiedenen Gesellschaftsschichten leisten einen wertvollen Beitrag zur militärischen Verteidigung des Heimatlandes. Die Wehrpflicht ist ein wichtiges verbindendes Element für die Bürger und hat eine kohäsionsfördernde Wirkung. Durch den Militärdienst hat jede Familie eine direkte Verbindung zu den finnischen Verteidigungskräften.

Ausbildungssystem für Wehrpflichtige

Die Ausbildung im finnischen Reservistensystem erfolgt während des Wehrdienstes.
Der Wehrdienst dauert 165, 255 oder 347 Tage. Die Ausbildungszeit für einen Offizier, einen Unteroffizier oder einen Wehrpflichtigen auf einem besonders anspruchsvollen Posten beträgt 347 Tage. Die Dienstzeit für Wehrpflichtige, die für besondere Fertigkeiten ausgebildet werden, beträgt 255 Tage und für die übrigen Wehrpflichtigen 165 Tage. Das Ausbildungssystem für Wehrpflichtige ist in vier Module unterteilt: Grundausbildung (6 Wochen), Dienstzweigausbildung (6 Wochen), Spezialausbildung (6 Wochen) und Einheitsausbildung (6 Wochen). Jeder Abschnitt ist in mehrere Kurse mit jeweils eigenen Kurszielen unterteilt. Nach der Grundausbildung wird ein Teil der Wehrpflichtigen für die Führungsausbildung ausgewählt (entweder zu Offizieren oder Unteroffizieren). Nach der Führungsausbildung kehren sie in ihre Truppenteile zurück, um neue Wehrpflichtige als Gruppen- oder Zugführer zu führen. Die Rekruten kommen in zwei Wellen, die erste im Januar und die zweite im Juli. Die ausgebildeten Gruppen- oder Zugführer von der ersten Welle fungieren als Leiter für die zweite Welle. So funktioniert die Truppenproduktion.
Umfragen zufolge sind die Wehrpflichtigen mit ihrer Ausbildung sehr zufrieden.

 

Reserve

In der letzten Phase des Dienstes dient jeder Wehrpflichtige in seiner Einheit. Jeder Wehrpflichtige wird entsprechend seinen Fähigkeiten für den Kriegseinsatz ausgebildet. Der Wehrpflichtige wird nach Beendigung seines Wehrdienstes in die Reserve versetzt:
1) Mannschaften bis zum 50. Lebensjahr
2) Offiziere und Unteroffiziere bis zum 60. Lebensjahr
3) Offiziere im Grad eines Obersts bzw. Kapitäns zur See oder höher, so lange sie diensttauglich sind.

Ein Wehrpflichtiger in der Reserve ist verpflichtet, an Auffrischungsübungen teilzunehmen. Die Reservisten trainieren in ihren eigenen Einheiten bei den obligatorischen Wehrübungen, in denen jährlich fast 29.000 Reservisten eine Auffrischung erhalten. Die Wehrübungen beruhen auf dem Wehrpflichtgesetz und sind ebenso obligatorisch wie der Militärdienst. Das unbefugte Fernbleiben von einer Auffrischungsschulung für Reservisten ist eine strafbare Handlung.

Die Verteidigungskräfte organisieren auch freiwillige Wehrübungen, an denen jährlich etwa 8.500 Reservisten teilnehmen. Außerdem haben Reservisten auch die Möglichkeit, aus eigener Initiative freiwillig an Übungen teilzunehmen, die vom Finnischen Nationalen Verteidigungsausbildungsverband MPK organisiert werden. Letztes Jahr wurden 16.000 Reservisten von diesem Verband ausgebildet. Obligatorische Wehrübungen dauern in der Regel 5 bis 6 Tage, freiwillige 1 bis 3 Tage. Freiwillige Übungen finden normalerweise an Wochenenden statt. Besonders aktive Reservisten können insgesamt 10 bis 15 Tage im Jahr üben.

In der Regel sind Arbeitgeber verpflichtet, einberufene Arbeitnehmer für die Zeit der Auffrischungsübung entschädigungslos freizustellen. Reservisten können nicht aus dem Arbeitsverhältnis oder aus dem Dienst entlassen werden, wenn sie an einer Auffrischungsübung teilnehmen. Der Arbeitgeber muss vor der Übung benachrichtigt werden.

Der Arbeitgeber kann seine Mitarbeiter in Kriegszeiten für kritische Arbeiten von der Einberufung zum Militärdienst zurückstellen lassen. In diesem Fall besteht die Aufgabe des Reservisten darin, für seinen Arbeitgeber zu arbeiten, um die lebenswichtigen Funktionen der Gesellschaft zu sichern.

Weiterentwicklung der Wehrpflicht

Wir haben das Ausbildungssystem für Wehrpflichtige kontinuierlich weiterentwickelt und versuchen, mit der Zeit und den Erwartungen der Wehrpflichtigen Schritt zu halten, indem wir zum Beispiel verstärkt sowohl Simulatoren als auch selbstständiges Lernen und Training sowie die Nutzung von Advanced Distributed Learning Plattformen in der Ausbildung nutzen. Dies weiten wir auch auf die Ausbildung von Reservisten aus. Wir beobachten den Ukraine-Krieg sehr aufmerksam, ziehen Lehren daraus und setzen diese sowohl bei der Ausbildung der Wehrpflichtigen als auch der Reservisten ein.

Die NATO-Mitgliedschaft wird sich nicht direkt auf die Wehrpflicht auswirken. Bis heute haben wir in Auslandseinsätzen nur Personal und Reservisten auf freiwilliger Basis eingesetzt. Es wird jedoch geprüft, ob Berufssoldaten dazu verpflichtet werden sollten, in Friedenszeiten an Aufgaben der NATO, wie z.B. Air Shielding, teilzunehmen. Zudem muss noch geklärt werden, ob Berufssoldaten und auch Wehrpflichtige für NATO-Aufgaben außerhalb Finnlands im Sinne von Artikel 5 eingezogen werden können. Das ist eine wesentliche politische Frage bei der Vorbereitung des nächsten Verteidigungsberichts.

Die Regierung wird entsprechend ihrem Regierungsprogramm von 2023 die Wehrpflicht weiterentwickeln und strebt an, die Zahl der Frauen, die sich freiwillig zum Dienst melden, bis zum Ende der Legislaturperiode auf 2.000 pro Jahr zu erhöhen. Die Regierung wird es z.B. auch Diabetikern ermöglichen, ihren Wehrdienst zu absolvieren und an Auffrischungsübungen teilzunehmen, wobei die gesundheitliche Sicherheit im Dienst berücksichtigt wird. Sie wird auch die Möglichkeit prüfen, ob auch andere Personen, die aus gesundheitlichen Gründen vom Dienst befreit sind, an der Ausbildung zur Landesverteidigung teilnehmen können. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass ein möglichst großer Anteil der Bevölkerung in die Landesverteidigung eingebunden werden kann.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass einer der wichtigsten Bausteine unserer Verteidigung die allgemeine Wehr- und Reservepflicht und somit eine für unser kleines Land große Zahl an verfügbaren Truppen sowie die große Bereitschaft der Bevölkerung zur Verteidigung des Landes ist.

(Archivbild Mai 2023: Ein Soldat des finnischen Jaeger Korps bei der Übung Northern Forest 23  – Corporal Nathan Tanuku/British Army/UK MOD/Crown copyright/Open Government License)