Rheinmetall baut neue Munitionsfabrik: „Deutsche Souveränität“ in drei Jahren (Nachtrag: Scholz-Rede)

Fürs Protokoll: Die neue Munitionsfabrik, deren Bau der Rüstungskonzern Rheinmetall an seinem Standort in Unterlüß begonnen hat, ist nicht nur wegen der geplanten Produktionsmengen bedeutsam. Fast noch wichtiger: Das Unternehmen strebt innerhalb von drei Jahren eine komplette deutsche Eigenproduktion von Artilleriemunition an – ohne Zulieferungen aus dem Ausland, also auch aus anderen europäischen Staaten.

Der Bau begann am (heutigen) Montag mit dem symbolischen ersten Spatenstich, den Bundeskanzler Olaf Scholz, die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen und Verteidigungsminister Boris Pistorius zusammen mit dem Rheinmetall-Chef Armin Papperger vollzogen. Aus der Mitteilung des Konzerns:

Das „Werk Niedersachsen“ wird künftig Artilleriemunition, Sprengstoff und Komponenten für Raketenartillerie herstellen. Rund 200.000 Artilleriegranaten sollen hier künftig pro Jahr entstehen, sowie bis zu 1.900 Tonnen RDX-Sprengstoff und optional weitere Komponenten zur Herstellung von Munitionsladungen. Außerdem soll vor Ort die Produktion von Raketenantrieben und ggf. Gefechts­köpfen erfolgen, wie sie z.B. für das geplante deutsche Raketenartillerie-Projekt benötigt werden. (…)
Rheinmetall schafft mit dem neuen Werk die Möglichkeit, den Bedarf der Bundeswehr unabhängig aus nationaler Fertigung zu decken und – insbesondere im Krisenfall – eigenständige Abgaben an Partnerstaaten zu gewährleisten. Bisherige Abhängigkeiten von Exportfreigaben anderer Länder werden somit aufgehoben, so dass Deutschlands Souveränität in diesem sicherheitsrelevanten Bereich hergestellt wird. Dabei wird Rheinmetall die komplette Wertschöpfungskette für Artillerie­munition in Unterlüß entstehen lassen, um den „Full Shot“ aus einer Hand bieten zu können: Das Geschoss, den Zünder, die Sprengladung sowie die Treibladung, die das Geschoss beim Abschuss aus dem Rohr treibt.
Dazu wird das Werk Niedersachsen weitgehend autark arbeiten und alle Arbeitsschritte vor Ort abbilden, die zur Fertigung von Artilleriegeschossen erforderlich sind. Bei dem Aufbau der Fertigung folgt Rheinmetall einem modularen und skalierbaren Konzept zur Versorgungsicherheit, das perspektivisch einen weiteren Aufwuchs ermöglicht.
Prioritäre Zielsetzung beim Aufbau des Werks ist ein möglichst früher Produktionsstart. Nach einer Bauzeit von rund 12 Monaten – ausgehend vom Vertragsschluss mit dem Auftraggeber – wird eine Kapazität von 50.000 Geschossen p.a. erreicht, mit einem anfänglichen Anteil nationaler Wert­schöpfung in Höhe von 50 Prozent. Dieser Anteil wird sich sukzessive erhöhen, auf 80 Prozent im zweiten und 100 Prozent nationaler Wertschöpfung im dritten Produktionsjahr. Damit entstehen Versorgungssicherheit für Deutschland und vollständige inländische Wertschöpfung.
Dabei wird eine jährliche Kapazität von 100.000 Geschossen ab dem zweiten Jahr der Produktion erreicht, später steigt die Kapazität auf 200.000 p.a. an.

Kernsatz dabei: Bisherige Abhängigkeiten von Exportfreigaben anderer Länder werden somit aufgehoben, so dass Deutschlands Souveränität in diesem sicherheitsrelevanten Bereich hergestellt wird. Am Beispiel von Munition für den Flugabwehrkanonenpanzer Gepard, aber auch bei in Spanien in einem Rheinmetall-Tochterunternehmen produzierter Munition war in den vergangenen Jahren deutlich geworden, dass selbst innerhalb Europas nationale Entscheidungen die Weitergabe von Munition einschränken können.

Nachtrag: Die Ansprache von Bundeskanzler Scholz in der vom Bundespresseamt veröffentlichten Fassung:

Heute ist ein ganz besonderer Tag, ein besonderer Tag für Unterlüß und die Südheide, für die Region und für Niedersachsen, ein besonderer Tag aber auch für die Sicherheit unseres Landes und ganz Europas. Deshalb möchte ich mit einem großen Dank beginnen. Danke an alle, die Anteil daran hatten, dieses Projekt so schnell voranzubringen! Danke vor allem auch an Rheinmetall und an Sie, Herr Papperger! Mit Ihrer Investition in Höhe von 300 Millionen Euro in das neue Niedersachsenwerk legen Sie die Grundlage dafür, die Bundeswehr und unsere Partner in Europa eigenständig und vor allem dauerhaft mit Artilleriemunition zu versorgen.

Die Dimensionen dieses Projekts und auch die des schon bestehenden Werks sind wirklich beeindruckend. Das hat uns der Rundgang gerade noch einmal gezeigt. 200 000 Artilleriegeschosse pro Jahr, dazu Sprengstoff und Komponenten für Raketenartillerie sollen hier künftig entstehen. Das klingt beeindruckend, und es ist beeindruckend.

Andererseits wissen wir, dass an der Front in der Ost- und Südukraine derzeit mehrere Tausend Artilleriegeschosse abgefeuert werden, wohlgemerkt, pro Tag. Das zeigt, wie wichtig eine eigenständige und dauerhafte Produktion solcher Munition ist. Zur Wahrheit gehört, dass es eine solche Produktion vor der Zeitenwende nicht gab, nicht in Deutschland und auch nicht in vielen anderen europäischen Partnerstaaten. Die Depots der Bundeswehr waren ziemlich leer.

Viel zu lange ist Rüstungspolitik in Deutschland so betrieben worden, als ginge es dabei um einen Autokauf. Wenn ich mir in zwei oder drei Jahren einen VW Golf kaufen möchte das sage ich hier in Niedersachsen einmal , dann weiß ich heute, dass es ihn geben wird. Ich muss dann vielleicht drei oder sechs Monate darauf warten; aber danach steht das Auto auf dem Hof. Aber so funktioniert Rüstungsproduktion eben nicht. Panzer, Haubitzen, Hubschrauber und Flugabwehrsysteme stehen nicht irgendwo im Regal. Wenn über Jahre hinweg nichts bestellt wird, dann wird auch nichts produziert. Das ist ziemlich klar.

Umso bemerkenswerter ist es, wie schnell Rheinmetall die Produktion hochgefahren hat, und umso wichtiger ist es, dass auf das jahrelange Wegsehen nun ein Hinsehen und Hingehen folgen. Auch deshalb sind Boris Pistorius und ich uns einig und heute hier. Wir wollen damit unsere Anerkennung dafür zum Ausdruck bringen, wie schnell Rheinmetall und auch andere Unternehmen der Verteidigungsindustrie in die Bresche gesprungen sind. So wie hier in Unterlüß sind in ganz Deutschland viele Tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerade dabei, neue Produktionsstraßen zu errichten, Schichten auszuweiten und den Betrieb hochzufahren.

Mit dem Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro, mit unserer inzwischen eingelösten Zusage, jetzt und in Zukunft zwei Prozent unserer Wirtschaftsleistung für die Verteidigung unseres Landes und unser Bündnispartner einzusetzen, haben wir die Grundlage dafür gelegt. Auf diese Zusage können sich die Bundeswehr und die Industrie verlassen. Denn für mich ist völlig klar: Nur so kann nachhaltig geplant und beschafft werden. Nur so erreichen wir unser Ziel, die Bundeswehr wieder zu einer der leistungsfähigsten konventionellen Streitkräfte in Europa zu machen.

Das ist dringend erforderlich. Denn so hart diese Realität auch ist, leben wir nicht in Friedenszeiten. Russlands Angriffskrieg und Putins imperiale Ambitionen, die er ganz offen formuliert, sind eine große Gefahr für die europäische Friedensordnung. In dieser Lage gilt: Wer Frieden will, der muss mögliche Aggressoren erfolgreich abschrecken.

Der wohl wichtigste Beitrag, den wir derzeit für Frieden und Sicherheit in Europa leisten können, ist unsere Unterstützung der Ukraine. Sie haben das schon erwähnt, lieber Herr Papperger, und auch du, Mette, hast das getan. Ja, wir sind militärisch der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine nach den USA. Genau genommen sind unsere Zusagen für das laufende Jahr, fast acht Milliarden Euro und weitere sechs Milliarden Euro für die kommenden Jahre, derzeit sogar die größte bestehende Zusage überhaupt.

Das ist aber kein Grund zur Prahlerei, die sowieso eine schlechte Eigenschaft wäre, sondern eher ein Grund zur Sorge. Ich habe bei meinem Gespräch in Washington Ende vergangener Woche deutlich gemacht, dass die Ukraine auch in Zukunft die Unterstützung der Vereinigten Staaten braucht. Präsident Biden tut alles dafür. Er kämpft dabei gegen große innenpolitische Widerstände, und ich hoffe sehr, dass er sie überwinden kann.

Auch mit Mitgliedern des amerikanischen Kongresses habe ich gesprochen und ihnen gesagt:

Es geht hier nicht um irgendeinen Krieg weit entfernt in Europa. In der Ukraine entscheidet sich, ob unsere Friedensordnung, ob unsere regelbasierte Welt eine Zukunft hat. Russland muss scheitern mit dem Versuch, sich mit Gewalt seinen Nachbarstaat einzuverleiben. Nicht nur die Vereinigten Staaten, auch alle europäischen Länder müssen noch mehr zur Unterstützung der Ukraine tun. Die bisherigen Zusagen reichen schlicht nicht aus. Deutschlands Kräfte allein reichen nicht.

Ich bin deshalb sehr froh darüber, dass sich im Senat so unmittelbar nach meinem Besuch eine Bewegung in Richtung einer Unterstützung eines Finanzpakets gezeigt hat. Ich hoffe, das kann dort abschließend so beraten werden, und ich hoffe natürlich auch, dass das Repräsentantenhaus zustimmen wird. Wir wissen, wie wichtig der amerikanische Beitrag ist.

Umso dankbarer bin ich für die Zusammenarbeit mit Ländern wie Dänemark. Was ihr leistet, liebe Mette, das ist wirklich beeindruckend. Und auch was wir gemeinsam leisten, kann eine Blaupause sein für die engere europäische Verteidigungszusammenarbeit. Dänemark und Deutschland beschaffen gemeinsam Kampfpanzer, Haubitzen und dringend benötigte Artilleriemunition für die Ukraine. Dänische und deutsche Unternehmen kooperieren bei der Lieferung von Aufklärungsdrohnen. Dänemark ist der von Deutschland initiierten European Sky Shield Initiative beigetreten, mit der wir die europäische Luftverteidigung im Rahmen der NATO stärken wollen. Diesen Weg gehen wir weiter, und wir wünschen, dass sich uns noch mehr Länder anschließen.

Die nötigen finanziellen Mittel sind dabei das eine. Eine starke Verteidigung braucht aber eben auch eine solide industrielle Grundlage und die entsteht, wenn wir Europäer unsere Bestellungen bündeln, wenn wir unsere Mittel zusammenführen und der Industrie somit Perspektiven für die nächsten 10, 20 oder 30 Jahre geben. Wir müssen weg von der Manufaktur hin zur Großserienfertigung von Rüstungsgütern.

Genau dafür steht dieser Tag heute. Dafür steht die Ausweitung dieses Werks hier in Unterlüß. Ich wünsche mir, dass hier von Unterlüß ein Signal ausgeht an unser ganzes Land, das Signal nämlich, dass es bei solch sicherheitsrelevanten Ansiedlungen, Erweiterungen und Projekten schnell gehen kann und muss. Auch hier gilt das Deutschlandtempo, wenn es zum Beispiel um Genehmigungen für neue Werke wie dieses geht. Hier in Unterlüß setze ich deshalb auf die Unterstützung von allen, die daran beteiligt sein werden im Land, im Landkreis, in den Kommunen, in der Bundeswehr und natürlich auch bei Rheinmetall.

Vorhaben wie dieses haben Vorbildcharakter. Sie tragen auch zu einem Umdenken in unserem Land bei davon bin ich fest überzeugt , weil sie das Bewusstsein dafür schärfen, wie wichtig es ist, eine so flexible, moderne und tüchtige Verteidigungsindustrie zu haben. Dass durch dieses Vorhaben außerdem über 300 fast 500, haben wir gehört attraktive und gut bezahlte Arbeitsplätze hier in der Südheide entstehen, ist mehr als nur ein erfreulicher Nebenaspekt.

Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Sie können stolz sein auf das, was Sie hier leisten. Sie arbeiten im wahrsten Sinne des Wortes zum Wohl unseres Landes. Danke dafür.

Meine Damen und Herren, auf dem Weg hierher habe ich erfahren, was die „Deutsche Wochenschrift“ – es tut nichts zur Sache, aber das war eine Parteizeitung der CDU im Jahr 1959 – über Unterlüß geschrieben hat, nämlich, dass es ein Dorf ohne Acker und Vieh sei.

Das liegt natürlich an der Vergangenheit. Erst war Unterlüß Eisenbahnersiedlung, dann Industriestandort. Was Sie hier in Unterlüß aufgebaut haben, was hier gerade neu entsteht, das ist schon etwas ganz Besonderes für die Region und für unser ganzes Land. Und deshalb ist es mir wichtig, bei diesem Spatenstich heute mit dabei zu sein.

(Foto: v.l. Rheinmetall-CEO Armin Papperger, die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen, Bundeskanzler Olaf Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius beim ersten Spatenstich – Foto Rheinmetall)