Bundeswehr-Präsenz in Litauen: Deutschland verstärkt den Stolperdraht (Neufassung)

Die Bundeswehr soll ihre Präsenz in Litauen deutlich ausbauen und dem baltischen Land damit mehr Abschreckung gegen einen befürchteten Angriff aus Russland ermöglichen. Bundeskanzler Olaf Scholz sicherte dem litauischen Präsidenten Gitanas Nausėda zu, das deutsche Engagement über die bereits bestehende NATO-Battlegroup hinaus zu erweitern und erste Elemente für eine Kampfbrigade nach Litauen zu verlegen.

Die Bundeswehr beteiligt sich seit Februar 2017 mit der Führung der so genannten enhanced Forward Presence (eFP) in Litauen an der Präsenz der NATO in den drei baltischen Staaten und Polen. Die Truppen aus den anderen Mitgliedsländern des Bündnisses sollen den Staaten an der Ostflanke als Rückversicherung dienen – und als Stolperdraht signalisieren, dass ein russischer Angriff ein Angriff auf die ganze Allianz wäre.

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine Ende Februar verlangen vor allem Estland, Lettland und Litauen mehr Engagement und mehr NATO-Truppen in ihren Ländern. Neben Unterstützung bei der Luftverteidigung dringen diese Länder vor allem auf die Vergrößerung der bisherigen Battlegroups von Battaillonsstärke auf eine Brigade.

Der deutsche Kanzler und der litauische Präsident vereinbarten bei einem Besuch Scholz‘ in der litauischen Hauptstadt Vilnius am (heutigen) Dienstag, die bestehende eFP-Battlegroup in der Größe eines verstärkten Bataillons um eine intensivierte vorgeschobenen Präsenz, eine intensified Forward Presence (iFP) zu ergänzen und langfristig auf Brigadestärke auszubauen. Die gemeinsame Erklärung von Scholz und Nausėda (inzwischen auch in deutscher Übersetzung):

Der Präsident der Republik Litauen, Gitanas Nausėda, und der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Olaf Scholz, sind am 7. Juni 2022 in Wilna zusammengekommen. Der Präsident begrüßte den Besuch des Bundeskanzlers, der ihn auch zu den deutschen Soldatinnen und Soldaten führte, die als Teil der verstärkten Vornepräsenz der NATO in Pabradė stationiert sind.
Angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine, der Jahrzehnte des Friedens in Europa zunichtemacht, sowie in der Erkenntnis, dass Russland eine militärische Bedrohung darstellt und bei gleichbleibendem Verhalten auch langfristig darstellen wird, bekräftigten beide Staatsmänner ihr Bekenntnis zur im Vertrag von Washington festgeschriebenen kollektiven Verteidigung aller Bündnispartner. Sie betonten, dass das NATO-Dispositiv einer längerfristigen Anpassung bedarf, die dem veränderten Sicherheitsumfeld im euro-atlantischen Raum Rechnung trägt.
Beide Staatsmänner eint der Wille, den östlichen Teil der NATO weiter zu stärken, um die glaubwürdige Abschreckung und Verteidigung des Bündnisses weiterhin zu gewährleisten. In diesem Sinne und im Lichte der auf dem NATO-Gipfel Ende Juni in Madrid zu treffenden Entscheidungen waren sich beide Staatsmänner einig, dass zusätzlich zu dem bereits bestehenden und aufgestockten Gefechtsverband der verstärkten Vornepräsenz
• Deutschland bereit ist, eine robuste und gefechtsbereite Brigade in Litauen anzuführen, zur Abschreckung und Verteidigung gegen russische Aggression. Diese Brigade, angeführt durch ein permanent disloziertes vorgeschobenes Element eines Brigadestabes in Litauen, wird aus deutschen Kampftruppen bestehen, die eigens diesem Zweck dienen und möglicherweise um multinationale Beiträge ergänzt werden; dadurch entsteht ein starker, zweckgebundener Kampfverband, der schnell disloziert und eingesetzt werden kann. Diese Truppen werden in ein intensives und umfassendes Übungsprogramm mit regionalem Schwerpunkt eingebunden, an dem auch die rotierenden Truppen und die litauischen Streitkräfte teilnehmen, um Interoperabilität, Geschlossenheit, Wirksamkeit im Einsatz und die Fähigkeit zur schnellen Verstärkung zu verbessern und zu gewährleisten.
• Litauen die Fähigkeit zur umgehenden Reaktion und die Nachhaltigkeit dieser intensivierten Vornepräsenz unterstützen wird. Zu den wesentlichen Komponenten werden die angemessene Unterstützung durch den Aufnahmestaat („Host Nation Support“), die Infrastruktur für die Bevorratung und Bereithaltung militärischen Materials sowie angemessene Übungs- und Schulungseinrichtungen gehören.
Der Präsident und der Bundeskanzler waren sich darin einig, dass dieses Vorgehen einen Rahmen dafür bietet, militärische Anforderungen, operative Erfordernisse und entsprechende Mittel miteinander in Einklang zu bringen und so eine nachhaltige, glaubwürdige und skalierbare Verstärkung des militärischen Dispositivs im Baltikum zu gewährleisten, wodurch auf längere Sicht die Aufstockung der Bündniskräfte vor Ort auf Brigadegröße ermöglicht wird. Sie begrüßten, dass ihre Verteidigungsminister gemeinsam an der Umsetzung dieses Rahmens arbeiten werden.
Sie nahmen zufrieden zur Kenntnis, dass es sich hierbei um einen weiteren Beleg der ausgezeichneten Zusammenarbeit zwischen Litauen und Deutschland, sowohl als NATO-Bündnispartner als auch bilateral, handelt.

Bei einer Pressekonferenz mit dem litauischen Präsidenten und den Regierungschefs von Estland und Lettland kündigte Scholz an: Wir sind bereit, unser Engagement zu verstärken und es in Richtung einer robusten Kampfbrigade zu entwickeln, das die Abschreckung beziehungsweise Abwehr einer Aggression in Litauen gemeinsam organisieren kann. 

Die Details sind – über die in der gemeinsamen Erklärung genannten Punkte hinaus – noch nicht so ganz klar. So machten Scholz wie Nausėda zwar deutlich, dass die bisherige Präsenz von rund 1.000 deutschen Soldatinnen und Soldaten beibehalten und mit einer neuen Struktur (zusätzlich zu dem bereits bestehenden und aufgestockten Gefechtsverband der verstärkten Vornepräsenz) ergänzt werden soll. Inwieweit das neue Brigadelement auch eine dauerhafte Stationierung weiterer, dann vermutlich mehrerer tausend deutscher Soldatinnen und Soldaten in Litauen bedeutet, ist noch offen.

Unklar bleibt derzeit auch, ob sich Deutschland – im Unterschied zu anderen NATO-Mitgliedern wie Litauen – noch an die NATO-Russland-Grundakte gebunden fühlt und eine dauerhafte Stationierung substanzieller Kampftruppen auf dem Gebiet des ehemaligen Warschauer Vertrags ablehnt. Bislang wechseln im halbjährlichen Rhythmus nicht nur die deutschen Einheiten in Litauen. Auch ihre Waffensysteme wie z.B. Kampfpanzer werden ausgetauscht.

In der gemeinsamen Erklärung deutet eine Passage darauf hin, dass mit der geplanten Aufstockung auch die Einlagerung von Gerät für die neue Brigade vorgesehen werden könnte – auch wenn die Truppen selbst nicht dauerhaft in Litauen sind: Das Land sicherte eine angemessene Unterstützung durch den Aufnahmestaat („Host Nation Support“), die Infrastruktur für die Bevorratung und Bereithaltung militärischen Materials sowie angemessene Übungs- und Schulungseinrichtungen zu.

Ein Vorbild dafür wäre der Prepositioned Stock der US-Streitkräfte in Europa: Die halten Gefechts- und Transportfahrzeuge in großen Depots unter anderem in Deutschland vor. Das würde allerdings bedeuten, dass die Bundeswehr überhaupt genug Material haben müsste, das sie zur Bereithaltung in Litauen einlagern kann.

(Foto: Bundeskanzler Olaf Scholz (Mitte) mit dem litauischen Präsidenten Gitanas Nauseda (2.v.l) und dem deutschen Kommandeur Oberstleutnant Daniel Andrä (r.) beim Besuch der NATO-Battlegroup in Litauen am 7. Juni 2022 – Chris Loose/eFP NATO BG LTU)