Raketenschutzschild für Deutschland: Fakt & Fiktion

Angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wird auch in Deutschland über mehr Abwehrmöglichkeiten gegen Raketen und Lenkflugkörper nachgedacht. Das scheint gesichert. Was da überlegt wird, ist allerdings unklar – und die Meldungen dazu zumindest verwirrend.

Das zeigt sich am (heutigen) Sonntag am Beispiel einer Meldung der Bild am Sonntag, die von Agenturen aufgegriffen und dann auch weit verbreitet wurde:

Angesichts des Ukraine-Kriegs und der Bedrohung durch Russland prüft die Bundesregierung einem Zeitungsbericht zufolge die Errichtung eines Raketenschutzschilds über dem Bundesgebiet.

Ok. Eine solche Abwehr für ein ganzes Land dieser Größe ist zwar nach dem Stand der Technik ambitioniert, aber warum nicht.

Bei einer Beratung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit Generalinspekteur Eberhard Zorn in dieser Woche über die Verwendung des 100-Milliarden-Euro-Sondervermögens für die Bundeswehr sei auch ein solcher „Iron Dome“ (Eiserne Kuppel) Thema gewesen, berichtete die „Bild am Sonntag“.

Hm. Iron Dome ist das israelische System zur Abwehr (kleinerer) Kurzstreckenraketen, zum Beispiel der Kassam-Raketen aus dem Gaza-Streifen. Also entweder geht’s um ein solches Kurzstreckenraketenabwehrsystem oder um einen Raketenschutzschild über dem Bundesgebiet.

Konkret sei es um eine mögliche Anschaffung des israelischen „Arrow 3“-Systems gegangen.

Das israelische Arrow-System, und insbesondere Arrow 3, ist eine ganz andere Größenordnung. Da geht es um das Abfangen von Mittelstreckenraketen und eine Reichweite, die das bereits bei der Bundeswehr eingesetzte Patriot-System nicht hat.

Der Hauptberichterstatter im Haushaltsausschuss für den Verteidigungsetat, Andreas Schwarz (SPD), sagte der „Bild am Sonntag“: „Wir müssen uns besser vor der Bedrohung aus Russland schützen. Dafür brauchen wir schnell einen deutschlandweiten Raketenschutzschirm.“ Er fügte hinzu: „Das israelische System Arrow 3 ist eine gute Lösung.“

Nun ist Deutschland etwas größer als Israel, und es wäre mal interessant zu wissen, wie viele Feuereinheiten und Raketen für das ganze Bundesgebiet  so nötig wären. Zweifel sind deshalb auch angebracht an der Aussage

Das System würde der Zeitung zufolge nach Informationen aus Sicherheitskreisen zwei Milliarden Euro kosten.

Das wäre nun wirklich ein Schnäppchen – dafür würde die Deutsche Marine gerade mal vier Tanker bekommen. Warum hat die Bundeswehr noch nicht zugeschlagen? Zum Realitätsabgleich: Für die vorhandenen Patriot-Flugabwehrsysteme hat die Bundeswehr neuere Flugkörper zur Raketenabwehr bestellt. Und diese so genannten PAC-3 MSE kosten…

The Government of Germany has requested to buy fifty (50) Patriot Advanced Capability 3 (PAC-3) Missiles
Segment Enhanced (MSE). Also included are PAC-3 MSE launcher conversion kits; Missile Round Trainers
(MRTs); Empty Round Trainers (ERTs); Launcher Stations (LS) heater controllers; PAC-3 ground support
equipment; concurrent spare parts; documentation and publications; PAC-3 MSE shorting plugs; Quality
Assurance Team; missile canister consumables; missile skid kits; PAC-3 MSE repair and return; missile Field
Surveillance Program (FSP) for PAC-3 MSE; U.S. Government transportation; MSE launcher spare parts;
PAC-3/MSE GMT kits; MSE DC motor kits; targets; Telemetry; U.S. Government range support; MSE flight
test support; U.S. Government and contractor engineering; technical and logistics support services; and other
related elements of logistical and program support. The total estimated value is $401 million.

Also 400 Millionen US-Dollar allein für 50 Abfangraketen mit Zubehör. Da ist das System mit Radar und Feuerstation noch gar nicht drin. Die zwei Milliarden für ein leistungsfähigeres System für ganz Deutschland klingen damit, äh, schon merkwürdig.

Aber es geht ja noch weiter.

Für den Raketenschutzschirm würden demnach an drei Standorten in Deutschland Flugkörper-Radarsysteme vom Typ „Super Greene Pine“ aufgestellt, die ihre Daten an den nationalen Gefechtsstand in Uedem senden. Dort würden Luftwaffen-Soldaten das Lagebild auswerten.

In Uedem bei Kalkar am Niederrhein sitzt ein Combined Air Operations Center (CAOC) der NATO, das den Luftraum über Nordeuropa überwacht und die Flugabwehr für die Allianz koordiniert. Und das Führungszentrum nationale Luftverteidigung der deutschen Luftwaffe. Warum ein neues Abwehrsystem nur national gesteuert werden sollte, ist nicht recht verständlich. Es sei denn, Deutschland wollte aus der integrierten Luftverteidigung der NATO aussteigen.

Die Radargeräte sind dem Bericht zufolge so leistungsstark, dass der Schutzschirm auch Polen, Rumänien oder das Baltikum abdecken könnte. Die Nachbarländer müssten sich dann Arrow-3-Raketen kaufen, das Radarbild würde Deutschland liefern.

Naja, Raketen alleine genügen nicht, dazu braucht man auch Geräte, um sie abzufeuern.

Es gibt übrigens schon seit längerem Diskussionen über gemeinsame Raketenabwehr der NATO in Europa und auch US-Installationen. Aber warum nicht parallel ein deutscher Schutzschirm.

Unterm Strich: Es deutet einiges darauf hin, dass in der Bundesregierung, im Verteidigungsministerium und in der Bundeswehr weitere Möglichkeiten der Raketenabwehr untersucht werden (es gab ja auch bereits aus Washington das Gerücht, Deutschland interessiere sich für das US-System THAAD, etwa die gleiche Liga wie Arrow 3). Aber, pardon, bestimmt nicht für zwei Milliarden Euro, bestimmt nicht als Iron Dome, sehr wahrscheinlich nicht als Schutzschirm für das komplette Land und bestimmt nicht als rein nationale Lösung.

(Archivbild Juli 2019: The Israel Missile Defense Organization (IMDO) of the Directorate of Defense Research and Development  and the U.S. Missile Defense Agency (MDA) completed a successful flight test campaign with the Arrow-3 Interceptor missile at Pacific Spaceport Complex-Alaska in Kodiak, Alaska. – Foto U.S. Missile Defense Agency)