Sammler Russland/Ukraine/NATO: Das Böse in Mainz-Kastel (m. Update)

Der Ton zwischen Russland auf der einen, der NATO und den USA auf der anderen Seite wird von Tag zu Tag ein wenig angespannter. Russland nannte nun die Reaktivierung eines US-Artillerie-Kommandos in Deutschland als Grund für seine Drohung, russische Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren. Das Auswärtige Amt lehnte es unterdessen ab, zu dem Vorwurf der Ukraine Stellung zu nehmen, Deutschland blockiere in der NATO die Lieferung von Abwehrsystemen.

Die neue, verschärfte Drohung Russlands kam am (heutigen) Montag vom stellvertretenden Außenminister Sergej Rjabkow. Moskau gehe davon aus, dass die NATO vorhabe, nukleare Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren, und Russland werde das dann ebenso tun, sagte Rjabkow in einem Interview der russischen Nachrichtenagentur RIA, über das Reuters berichtete:

Russia said on Monday it may be forced to deploy intermediate-range nuclear missiles in Europe in response to what it sees as NATO’s plans to do the same.
Deputy Foreign Minister Sergei Ryabkov told Russia’s RIA news agency in an interview that Moscow would have to take the step if NATO refused to engage with it on preventing such an escalation.
Ryabkov said there were „indirect indications“ that NATO was moving closer to re-deploying INF, including its restoration last month of the 56th Artillery Command which operated nuclear-capable Pershing missiles during the Cold War.

Der russische Außenminister bezieht sich dabei auf die Reaktivierung eines US-Artilleriekommandos am 8. November (Foto oben). Das 56th Artillery Command war im Zusammenhang mit dem so genannten INF-Vertrag außer Dienst gestellt worden.

Der Vertrag zwischen den USA und Russland über das Verbot landgestützer nuklearer Mittelstreckenwaffen, der Intermediate Range Nuclear Forces Treaty, war im August 2019 außer Kraft getreten. Zuvor hatten die USA, dann aber auch die NATO Russland beschuldigt, bereits seit geraumer Zeit gegen diesen Vertrag zu verstoßen, der Entwicklung, Erprobung und Stationierung von landbasierten Flugkörpern mit Atomsprengköpfen und einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometer verbietet. Insbesondere in der Kritik ist unverändert das russische 9M729-System, von der NATO als SS-C-8 bezeichnet.

Im Dezember 2018 kündigten die USA den Vertrag förmlich. Im Februar 2019 kündigten zunächst die USA und dann Russland an, sich nicht mehr an die Bestimmungen halten zu wollen. Zugleich erklärte Moskau, Russland werde keine Kurzstreckenwaffen stationieren, so lange die USA das nicht zuvor täten – und die USA hatten erklärt, keine Absicht dazu zu haben.

Diese abwartende Haltung sieht Moskau offensichtlich durch die Reaktivierung des Artilleriekommandos mit Sitz in Mainz-Kastel durchbrochen. Hauptgrund scheint die Vermutung, dieses 56th Artillery Command, einst für die nuklear bestückten Pershing-Raketen in Deutschland zuständig, werde erneut für atomare Mittelstreckenwaffen gebraucht und deshalb aktiviert.

Im Auge haben die Russen dabei offensichtlich den Dark Eagle, eine Überschallwaffe, die die USA derzeit entwickeln. In den vergangenen Wochen waren vor allem in der angelsächsischen Presse Berichte erschienen, diese Hi-Tech-Waffe könne von Deutschland aus innerhalb von 21 Minuten Moskau erreichen.

Allerdings ist – zumindest öffentlich – nicht bekannt, ob das in Deutschland wieder aufgestellte Kommando auch für diese Waffe vorgesehen ist, die derzeit noch in der Testphase ist. Ebenso unklar ist, ob die USA von der Haltung abrücken, keine nuklearen Mittelstreckenrakten – oder, in diesem Fall, Hyperschallwaffen – in Europa zu stationieren. Wie die US-Soldatenzeitung Stars&Stripes berichtete, wurde das Artilleriekommando nicht als nukleares Kommando konzipiert:

The Army’s 56th Artillery Command, a major force in Europe during the Cold War when it operated nuclear-capable Pershing missiles, was reconstituted with a non-nuclear mission to help the Army in its efforts to counter a more aggressive Russia.

Die U.S. Army Europe beschrieb den Auftrag so:

The 56th Artillery Command will plan and coordinate the employment of multi-domain fires and effects in support of U.S. Army Europe and Africa and/or a Combined Joint Force Land Component Command. The Theater Fires Command improves readiness and multinational interoperability by the integration of joint and multi-national fires in theater operations and exercises.
„The reactivation of the 56th Artillery Command will provide U.S. Army Europe and Africa with significant capabilities in multi-domain operations“ said Maj. Gen. Stephen J. Maranian, Commanding General, 56th Artillery Command.” It will further enable the synchronization of joint and multinational fires and effects, and employment of future long range surface to surface fires across the U.S. Army Europe and Africa area of responsibility.“
The unit takes it’s lineage from the 56th Field Artillery Command, which last served on active duty in Europe from 1986 to 1991 as the Theater’s Pershing Missile Headquarters. It inactivated in June 1991 following the signing of the Intermediate Range Nuclear Forces Treaty. The 56th Artillery Command is headquartered in Mainz-Kastel, Germany.

In der Auseinandersetzung um ein mögliches russisches Vorgehen gegen die Ukraine bemühen sich NATO und EU, zusammen mit den USA, derzeit um eine abgestimmte Haltung. Allerdings, so wirft die Ukraine Deutschland vor, blockiere Berlin die Lieferung von – bereits bezahlten – Abwehrsystemen, wie die Financial Times berichtete:

Ukraine’s new defence minister has blamed Germany for blocking the supply of weaponry to Kyiv through Nato, despite US warnings of a possible imminent invasion by Russian forces.
Oleksii Reznikov told the Financial Times that Berlin had in the past month vetoed Ukraine’s purchase of anti-drone rifles and anti-sniper systems via the Nato Support and Procurement Agency. However, Germany had since relented on the first item, after deeming it non-lethal.

Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes lehnte am Montag jede Stellungnahme zu diesen Angaben ab. Angesichts der geltenden Vertraulichkeit in der NATO könne er dazu nichts sagen, erklärte Außenamtssprecher Christofer Burger.

Update: Während das Auswärtige Amt jede, aber auch jede Aussage zu dem Komplex ablehnte und noch nicht mal was zu der – im Bericht der FT bereits erwähnten – Genehmigung von Drohnen-Abwehrsystemen sagen wollte, war die betreffende NATO-Agentur etwas auskunftsfreudiger, wie die FAZ erfuhr:

Deutschland hat der Lieferung eines defensiven Waffensystems an die Ukraine zugestimmt. Dies wurde der F.A.Z. am Montag von der für die Lieferungen zuständigen NATO-Agentur für Unterstützung und Beschaffung (NSPA) in Luxemburg bestätigt. Zugleich hieß es in Kreisen des Bündnisses, dass Deutschland die ebenfalls beantragte Lieferung von Scharfschützengewehren blockiere.

Die NSPA erläuterte der FAZ (Link aus bekannten Gründen nicht) auch, dass bei letalen Waffen wie den Scharfschützengewehren ein Konsens aller Bündnismitglieder in jedem Einzelfall erforderlich sei. Noch nicht mal dieses Verfahren war das AA bereit zu erläutern: Da bitte ich Sie, sich an die Nato-Pressestelle zu wenden. Dort werden Sie bestimmt eine Auskunft dazu bekommen.

(Foto: Gen. Christopher Cavoli, commanding General of U.S. Army Europe and Africa hands the colors to Maj. Gen. Stephen J. Maranian, commanding General of the 56th Artillery Command during the 56th AC reactivation ceremony on Clay Kaserne in Wiesbaden, Germany, Nov. 8, 2021 – U.S. Army Photo by Volker Ramspott