Dokumentation: Merkel zur Situation der Ukraine

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat am (heutigen) Donnerstag in einer Rede vor dem Deutsch-Ukrainischen Wirtschaftsforum in Berlin zur aktuellen Lage nach der jüngsten Eskalation zwischen Russland und der Ukraine Stellung genommen. Unter anderem kündigte sie an, beim G20-Gipfel in Buenos Aires das Thema gegenüber Russlands Präsident Wladimir Putin anzusprechen.

Zur Dokumentation die Passage aus Merkels Rede:

Jetzt reden wir sozusagen heute, hier über ein Land, das einen schwierigen Reformweg geht. Aber das ist ja nicht alles. Das ist schon schwierig genug, und gerade bei der Bekämpfung der Korruption sind wir natürlich noch nicht am Ende angelangt. Aber parallel spielt sich ja immer noch einmal eine andere Welt ab, und das ist die Welt der Ostukraine, das sind die täglichen Verletzungen des Waffenstillstandes, das ist die Tatsache, dass fast jeden Tag ein Soldat sein Leben verliert, und das ist jetzt in der Addition auch noch das Problem des Asowschen Meeres. Sie müssen sich das aus deutscher Perspektive vorstellen – nicht nur, dass Sie eine ganz schwierige wirtschaftliche Phase haben, wie wir das ja zum Beispiel auch in Zeiten der deutschen Einheit aus den neuen Bundesländern kennen, wo Menschen arbeitslos werden, wo sie nicht gleich wieder irgendwo anfangen können, wo alles neu aufgebaut werden muss, sondern daneben gibt es immer die Angst um den Frieden und die Angst vor weiteren Aggressionen.

Da muss man ganz einfach sagen: Das Minsk-Abkommen hat dazu geführt, dass wir jetzt über eine längere Zeit hinweg nicht permanente, weitere Eskalationen gesehen haben. Aber es hat mitnichten dazu geführt, dass wir der politischen Lösung nähergekommen sind und die Ukraine wieder Zugang zu ihren eigentlichen Grenzen hat.

Nun weiß ich, dass in Deutschland natürlich immer auch viele Herzen in einer Brust schlagen. Viele Wirtschaftsvertreter wünschen sich natürlich auch gute Beziehungen zu Russland und reden über die Sanktionen. Aber, meine Damen und Herren, es geht hier um etwas sehr Prinzipielles. Wir machen die Sanktionen ja nicht um der Sanktionen willen, sondern wir machen diese Sanktionen, um einfach deutlich zu machen, dass Länder, auch wenn sie mit ihrer territorialen Lage in der Nähe Russlands liegen, das Recht auf eine eigene Entwicklung haben müssen. Das sind Grundsätze des internationalen Völkerrechts.

Das ist im Falle der Ukraine ‑ ich muss das noch einmal sagen, weil es immer wieder vergessen wird ‑ ja besonders prägnant gewesen; denn die Ukraine hat sich per Referendum entschieden, nach dem Zerfall der Sowjetunion selbstständig zu sein. Die Krim hat an diesem Referendum teilgenommen, und die Krim selbst hatte sich auch dazu entschieden, zur Ukraine zu gehören und selbstständig zu werden. Die Ukraine hat dann die Atomwaffen abgegeben, die sie aus der Zeit der Sowjetunion hatte, um deutlich zu machen: Wir wollen nicht Teil eines Problems sein, sondern wir wollen Teil der Lösung sein. Man hat der Ukraine damals im Gegenzug im Budapester Memorandum versprochen, dass es eine territoriale Integrität gibt, also die Sicherheit, in den eigenen Grenzen zu leben. Die Garantiemächte waren zum Beispiel Großbritannien, aber eben auch Russland sowie, glaube ich, die Vereinigten Staaten von Amerika. Deshalb stehen wir in einer Pflicht. Wir können es schon nur schlecht genug sichern, aber wir haben hier die Pflicht, zu dem zu stehen, was wir einmal versprochen haben.

Es hat sich jetzt eine weitere Erschwernis ergeben, weil Russland nun die Brücke vom kontinentalen Teil auf die Krim gebaut hat. Da ist bei Kertsch diese Brücke entstanden, die die Zufahrt zum Asowschen Meer jetzt noch mehr zu einer Meeresenge macht. Wenn man sich die Landkarte anschaut, sieht man, dass eben der eine Teil der Küste des Asowschen Meeres ukrainisches Territorium und der andere Teil russisches Territorium ist. Die Städte wie zum Beispiel Mariupol sind darauf angewiesen, mit der Außenwelt verbunden zu sein. Als ich in Kiew war, sah man das Thema ja schon aufscheinen, und das geht nun voll auf die Kosten des russischen Präsidenten: Seitdem diese Brücke im Mai dieses Jahres eingeweiht worden ist, haben sich die Schifffahrtbedingungen verschlechtert, obwohl es einen russisch-ukrainischen Vertrag aus dem Jahr 2003, der dann auch noch einmal bestätigt wurde, darüber gibt, dass freie Schifffahrt für alle Beteiligten in dieser Region möglich sein muss.

Nun bin ich dafür, dass wir jetzt natürlich die Fakten dessen, was passiert ist, auf den Tisch legen, dass vor allen Dingen auch die Soldaten freigelassen werden und dass man auch nicht Geständnisse erpresst, wie wir das jetzt im Fernsehen gesehen haben. Ich bin auch dafür, dass wir versuchen, die Dinge ruhig zu halten. Aber wir müssen uns dafür einsetzen, dass eine Stadt wie Mariupol, die auf den Zugang zum Meer angewiesen ist ‑ fragen Sie einmal die Hafenarbeiter in Mariupol, was da los ist, wenn dort keine Schiffe mehr anlanden können ‑, nicht einfach abgeschnitten wird und damit indirekt weitere Teile der Ukraine sozusagen nicht frei erreichbar sind.

Ich werde das Thema jetzt auch in diesem Sinne gegenüber dem russischen Präsidenten beim G20-Gipfel ansprechen. Wir werden dafür sorgen. Wir haben trotzdem die Bitte, auch von ukrainischer Seite aus klug zu sein; denn wir wissen, dass wir die Dinge ja auch nur vernünftig und nur im Gespräch miteinander lösen können, weil es keine militärischen Lösungen all dieser Auseinandersetzungen gibt. Das muss auch gesagt werden. Deutschland und Frankreich sind also auch weiterhin bereit, im Rahmen des Normandie-Formats zu arbeiten, auch wenn die Erfolge leider sehr, sehr gering sind.

Ich sage das in dieser Ausführlichkeit vor der deutschen Wirtschaft, weil Sie ja manchmal sagen: Nun können die doch endlich einmal wieder mit Russland zusammenkommen! – Das möchte ich auch gerne, und das möchte auch die Ukraine. Das wäre für uns alle einfacher. Aber wir müssen auch aufpassen, dass solche Beispiele nicht Schule machen. Wenn Sie sich einmal Russlands Umgebung anschauen, sehen Sie: In Georgien gibt es Südossetien und Abchasien, in Moldawien gibt es Transnistrien, in Aserbaidschan und Armenien gibt es noch Nagorny Karabach, in der Ukraine gibt es jetzt die Ostukraine. Das heißt, es gibt einen Gürtel von Ländern, die sich nicht so entwickeln können, wie sie es möchten, und davor können wir auch als Deutsche nicht die Augen verschließen.