InfoWar Ukraine: Der Separatist, das Stofftier und der blinde Fleck
Dass der Informationskrieg um Ereignisse in der Ukraine und deren Deutungshoheit in vollem Gange ist, ist keine neue Erkenntnis. Dass es dabei auch im Westen zumindest blinde Flecke der Wahrnehmung gibt, wird oft ausgeblendet – deshalb (verspätet) ein notwendiger Hinweis auf solche Probleme auch hierzulande: Das Bild eines pro-russischen Separatisten, der an der Absturzstelle des – höchstwahrscheinlich abgeschossenen – Malaysia Airlines-Fluges MH17 ein Stofftier aus den Trümmern hochhält, ging um die Welt. In der Regel als Beleg dafür, wie skrupellos sich die Separatisten an dieser Absturzstelle aufführen.
Ein Blick auf die ganze Sequenz am 18. Juli verändert diese Wahrnehmung – hier ein (russisches) Video von diesem Ereignis, ab 1:10 wird es interessant:
Vorsorglich noch ein Screenshot der interessanten Stelle (man weiß ja nie, wie lange solche Videos abrufbar bleiben). Der schwerbewaffnete Milizionär legt das Stofftier behutsam wieder ab und bekreuzigt sich.
Nun sagen diese Bilder nichts darüber aus, dass die Separatisten die OSZE-Beobachtermission an der Absturzstelle behindert haben; sie sagen nichts über das Verhalten der pro-russischen Gruppen, und schon gar nichts sagen sie über die Verantwortung für den Abschuss von MH 17.
Da ich keinen Zugang zu den Original-Newsstreams der großen Nachrichtenagenturen habe (in diesem Fall vor allem AP; AFP und Reuters), kann ich nicht beurteilen, ob die das zweite Bild ebenfalls verbreitet haben – und ob es eben von den Redakteuren nicht verwendet wurde.
Dennoch: Dass die Bilder des sich bekreuzigenden Milizionärs, die das Geschehen in ein anderes Licht rücken, im Westen praktisch nicht publiziert wurden, sagt etwas über die Wahrnehmung des Konflikts in der Ost-Ukraine aus. Und darüber, dass auch auf westlicher Seite nicht das ganze Bild im Fokus steht.
Um den erwartbaren Vorwürfen vorzubeugen: Nein, das ist kein Beleg für gleichgeschaltete Massenmedien in NATO und EU – dafür ist, das ist ein Unterschied zu Russland, die Medienlandschaft hier viel zu heterogen. Aber es zeigt, welchen Gefahren auch wir Journalisten mit unserer Sicht der Ereignisse ausgesetzt sind.
In russischen Medien war das natürlich schon längst ein Thema, zum Beispiel beim – staatlich finanzierten – russischen Sender Russia Today.
Es gibt übrigens auch ein Video, in dem der russische O-Ton mit englischen Untertiteln versehen ist:
(Vorsorglich der Hinweis: die Authentizität des Videos kann ich nicht überprüfen; es sieht allerdings nicht so aus, als wäre das manipuliert. Sollte es andere Hinweise geben, bitte Info.)
(Screenshots aus dem verlinkten Youtube-Video von icorpus.ru)
@klabautermann
Im Ernst: Ich finde es schade, dass es so was wie den Frontline Club in Berlin nicht gibt.
@T.W.
Vielleicht kannst Du ja dafür werben und einen Sponsor finden ;-)
Jetzt ohne in Verschwörungstheorien einzusteigen:
Wenn man die Berichterstattung zu Gaza und die zur Ukraine vergleicht, fallen schon Unterschiede auf.
Aber ich denke es liegt neben einem gewissen „Bias“ auch daran, dass anscheinend keinerlei deutsche Journalisten vor Ort sind.
Gibt es irgendwelche deutschen Pressevertreter in Donetzk? Überhaupt westliche Presse?
Die Presse agiert immer noch wie im Prä Youtube Zeitalter.
„Was wir nicht sehen existiert nicht!“
Andererseits ist es schon lustig, wie donnernd sich die Welt (teilweise berechtigt) über Voreingenommenheit in der Presseberichterstattung gegen Israel ergießen konnte während vergleichbare Hinweise auf Voreingenommenheit in der Ukraine-Berichterstattung als bezahlte Putin-Trolle/Montagsdemonstrant/Rechtsradikale/Linksradikale/Helene Fischer Fans/whatever tituliert würden.
Ich finde diesen aktuellen Beitrag aus der Welt sehr lesenswert und nachdenkenswert … Hoffe ich trete keine Regel wegen Verlinkung oder so … Bin da ab und an wenig aufmerksam und bitte für den Fall der Fälle um Vergebung …..
[In der Tat hier keine Links zu deutschen Verlagswebseiten. Vielleicht kurz zusammenfassen, worum es geht? T.W.]
Nur als kleiner Einwurf als Blick über den Tellerrand:
So weit ich mich erinnern kann, gab es 2003 wegen des Irakkrieges eine starke antiamerikanische Strömung in Deutschland. Zumindest nahm ich damals die Situation so wahr, dass griffige Schlagworte nachgeplappert und ein ganzes Land ohne längeres Überlegen pauschal verurteilt wurde.
Später, 2008, kam dann eine ähnliche Dynamik gegen die Volksrepublik China zustande. Plötzlich war jedermann China-Spezialist und wusste ganz genau um die chinesischen Verhältnisse Bescheid. Die Entgegnungen seitens der chinesischen Studenten hier (ich weiß jetzt leider nichts über die Wahrnehmung innerhalb Chinas) war ähnlich sorgfältig reflektiert.
Die Dynamik in den Medien und in Teilen der Bevölkerung kann sich also gegen verschiedene Länder richten. Ich würde da nicht gleich eine gleichgeschaltete Presse bzw. bezahlte Kommentatoren vermuten.
@JCR
Natürlich ist die deutsche Presse auch in Donezk vertreten – ein einziger Blick in die tägliche Berichterstattung der ARD würde da genügen:
–> Golineh Atai und Demian von Osten fallen mir ganz spontan ein.
Und natürlich sind auch andere (,um das Wort aufzugreifen, „westliche“) Pressevertreter in Donzek.
“Was wir nicht sehen existiert nicht!” – vielleicht sollten Sie da mal bei sich selbst beginnen
P.S.: #wermitdemFingeraufanderezeigt
Ein Lesemuss:
„Lüge in Kriegszeiten“ auf heise.de
Die 10 Lügengebote gem. Lord Arthur Ponsonby (1871–1946)
Wir wollen den Krieg nicht.
Das gegnerische Lager trägt die Verantwortung.
Der Führer des Gegners ist ein Teufel.
Wir kämpfen für eine gute Sache.
Der Gegner kämpft mit unerlaubten Waffen.
Der Gegner begeht mit Absicht Grausamkeiten, wir nur versehentlich.
Unsere Verluste sind gering, die des Gegners enorm.
Künstler und Intellektuelle unterstützen unsere Sache.
Unsere Mission ist heilig.
Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter.
JCR | 28. Juli 2014 – 11:03
Das sehe ich in der Tat vollkommen anders. Die Presse nimmt youtube-Videos und twitter-Meldungen sogar eher unreflektiert auf und diskutiert und spekuliert viel, weil die handelnden Konfliktparteien die Fakten vor Ort sehr geschickt und stark beeinflussen, sodass es schwieriger wird Fakten zu berichten. Verglichen mit den Konflikten im Irak, Syrien und sogar Israel sind die Einschränkungen, gezielten Beeinflussungen und OPSEC-Maßnahmen im Ukraine-Konflikt bemerkenswert.
Ich finde es faszinierend, dass die internationale Presse, die live aus allen Krisenregionen dieser Erde berichtet offenbar nicht in der Lage ist, auf einen ukrainischen oder russischen Acker zu fahren und eine Kamera auf einen Krater oder eine Brandspur zu halten und dann zu sagen: Die Luftbilder der NATO sind falsch oder richtig.
> Ich finde es faszinierend, dass die internationale Presse, die live aus allen Krisenregionen dieser Erde berichtet offenbar nicht in der Lage ist, auf einen ukrainischen oder russischen Acker zu fahren und eine Kamera auf einen Krater oder eine Brandspur zu halten und dann zu sagen: Die Luftbilder der NATO sind falsch oder richtig.
Das Problem besteht allerdings nicht in der Tatsache, dass man das nicht könnte. Wenn die Nato-Luftbilder in entsprechender Qualität veröffentlicht sind, dann braucht man „nur“ entsprechende Bildauswertersoftware und jemanden, der das dann bedienen kann.
Das eigentliche Problem aber besteht darin, dass das Ergebnis nur dann geglaubt wird, wenn es ins eigene Konzept passt. Wenn eine Zeitung eine prorussische Leserschaft hat, dann darf das Ergebnis nur sein – „Ein Ukrainer hat die Rakete abgeschossen“ und umgekehrt. Und wer im Krieg neutral bleiben will, der wird dann von beiden Seiten beschossen. Er produziert eben Ergebnisse, die keiner haben will.
„Aber zurück zum Thema: Das beantwortet nicht die Frage, ob es nach Ablegen des Stofftieres Bilder gab – und ob/wo die ggf. in den elektronischen Papierkorb gewandert sind“
Die sind offenbar schon in den Bildagenturen in den Papierkorb gewandert. Getty, DPA, Reuters und AP haben keine Alternativen zu besagtem Foto in ihren Datenbanken. Nicht ausgeschlossen, dass andere Agenturen welche haben, ich habe aber keine Zeit alle Agenturen zu checken. Wenn aber die 4 keine Alternativen zu dem Bild in ihre Datenbanken gestellt haben, lässt das Raum für Spekulationen denen man mal nachgehen könnte. Die Fotos existier(t)en ja, man hört das Kameraklicken. Waren die Fotos so viel schlechter? Weniger aussagekräftig? Der Entscheidungsprozess würde mich brennend interessieren.
Ich denke es passt thematisch zu diesem Beitrag, den es ist sehr informativ wie Presseagenturen arbeiten.