Afghanistan, differenziert

Die Nachricht kam erst, als der Minister schon wieder auf dem Heimflug war.  Wenige Kilometer nördlich von Taloqan in der nordafghanischen Provinz Takhar kamen Soldaten der afghanischen Armee (ANA) unter Feuer – und mit ihnen das deutsche Mentorenteam (Operational Mentoring and Liaison Team, OMLT). Deutsche Verwundete gab es nicht. Nur wenige Stunden zuvor hatte Verteidigungsminister Thomas de Maizière am Sonntag weit westlich von Taloqan ein anderes deutsches Mentorenteam besucht: In Hazrat-e-Sultan, Provinz Samangan, konnte OMLT-Chef Oberstleutnant Gisbert Husse dem Minister melden: Hier ist es grundsätzlich ruhig – im Vergleich zu anderen Provinzen.

Hazrat-e-Sultan, Samangan – Im Blackhawk-Hubschrauber der US-Armee landet Verteidigungsminister Thomas de Maizière am 18.09.2011 zum Besuch der Operationsbasis Hazrat-e-Sultan

Die Unterschiede von Provinz zu Provinz, teilweise selbst von Distrikt zu Distrikt waren de Maizère zuvor schon optisch deutlich geworden. Im schwedischen norwegischen Provincial Reconstruction Team (PRT) Meymaneh, weit im Westen des deutsch geführen ISAF-Regionalkommandos Nord, hatte ihm die PRT-Führung ein Lagebild mit dunkelroten Flecken präsentiert: alle die Bereiche, in denen die Aufständischen über die vergangenen Jahre stärker geworden waren und teilweise die faktische Kontrolle über die Bevölkerung ausüben. Da haben sie die nicht-existenten Strukturen der afghanischen Regierung ersetzt, sagte der J2. Diese Insurgent-Kontrolle sei an vielen Stellen der Provinz Faryab zu beobachten – am meisten aber im Distrikt Ghowrmach, der vor ein paar Jahren dieser Provinz temporär angegliedert wurde (und deshalb aus deutscher Sicht ein Problem ist, weil er rechtlich nicht zum deutschen Mandatsgebiet gehört – faktisch aber zum Verantwortungsbereich des RC North).

Die Entwicklung in Afghanistan ist total unterschiedlich, schilderte de Maizière nach seinem komprimierten Kurzbesuch am Hindukusch einen seiner wesentlichen Eindrücke. Bei einer so verschiedenen Sicherheitssituationen schon allein im RC North, der insgesamt gegenüber dem Süden und dem Osten Afghanistans als ruhiger Bereich gilt, müsse man auch unterschiedliche Maßstäbe daran anlegen, wo und vor allem wann die Afghanen in einem Gebiet selbst für die Sicherheit sorgen könnten.

Solche Überlegungen dürften auch in die Neufassung des deutschen Mandats zum ISAF-Einsatz einfließen, das bis Ende Januar 2012 vom Bundestag beschlossen werden muss – und innenpolitisch davon bestimmt werden dürfte, ob auch die Deutschen mit einer, wenn vielleicht auch nur symbolischen, Verringerung der Soldatenzahl in Afghanistan die Weichen zum Abzug der Kampftruppen bis 2014 stellen. An der Stelle blieb der deutsche Verteidigungsminister, erwartungsgemäß, zurückhaltend: Erst wolle er den fachlichen Rat der Militärs abwarten, ehe er auf dieser Basis der Bundesregierung und dann dem Parlament seinen Vorschlag vorlegen.

Und natürlich wartet de Maizière, wie alle Verbündeten im Norden, vor allem auf die Ansage des wichtigsten Partners USA – wie die ihren angekündigten Drawdown im Regional Command North gestalten, wird die weitere Arbeit der Truppen der anderen Nationen entscheidend beeinflussen. Und nach den US-Entscheidungen wiederum dürften die kleineren Partnernationen wie Schweden, Norwegen oder Ungarn auf die Deutschen schauen: Die sind immerhin die Lead Nation im Norden und mit ihren rund 5.000 Soldaten nach einer US-Verringerung das Schwergewicht. Mit entsprechender Verantwortung.

Bei seinen Planungen und Überlegungen wird der Verteidigungsminister übrigens, auch wenn er das so laut nicht sagte, vielleicht ein paar deutliche Worte mit seinen Kabinettskollegen Guido Westerwelle (Außen) und Dirk Niebel (Entwicklung) reden müssen. Denn dass ein militärischer Teil-Abzug vom Hindukusch einher gehen muss mit einer Verstärkung der zivilen Aufbauarbeit, gilt zwar als Binsenweisheit. Aber de Maizière konnte nur gequält lächeln, als sich Jonas Westerlund, der schwedische Chefdiplomat in Masar-i-Scharif, wortreich bei seinem Briefing für den deutschen Minister entschuldigte: Schweden sei ein kleines Land und habe deshalb in seinem zivilen Büro in der nordafghanischen Stadt, leider, gerade mal zwölf Mitarbeiter. Ein bisschen peinlich berührt war der Skandinavier dann schon bei de Maizières Antwort: Damit seien die Schweden auf der zivilen Seite vier mal so stark vertreten wie die Deutschen.