„Weit über 50 Feuerkämpfe“: Erfahrungen der deutschen Quick Reaction Force in Afghanistan

Erfahrungen aus dem Einsatz, die „Lessons Learned“, sind bedeutsame Informationen für die Soldaten, die neu in eine Mission gehen. Auch wenn diese Erfahrungen schon gut ein Jahr alt sind: Was Oberst Michael Matz, der Kommandeur der deutschen Schnellen Eingreiftruppe (Quick Reaction Force, QRF) im Norden Afghanistans aufgeschrieben hat, ist als Information auch heute noch von Interesse – zum Beispiel die Taktik der Aufständischen und die Reaktion der deutschen Truppen darauf. Einiges hat sich seitdem geändert, zum Beispiel – dank U.S.-Unterstützung – die Luftbeweglichkeit; anderes dürfte noch ziemlich genau so sein…

(Der Bericht von Matz, der zuvor Kommandeur des Jägerregiments 1 war und inzwischen Leiter des Gefechtsübungszentrums Heer ist, erschien in der Fachzeitschrift „Strategie&Technik“. Ich denke, er ist auch für einen breiteren Leserkreis interessant – mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Report-Verlages stelle ich den Bericht deshalb hier ein. Am Anfang ist es ein wenig technisch, aber spätestens bei den Schilderungen exemplarischer Operationen wird’s spannend. Es ist natürlich ein Fachbericht, aber ich glaube, er ist dennoch ganz gut verständlich.)

Jägerregiment 1 – Im Einsatz als Quick Reaction Force RC North

Das Jägerregiment 1 hatte in der Zeit von April 2009 bis April 2010 den Auftrag, im Rahmen des deutschen Beitrages zur International Security and Assistance Force (ISAF) die Quick Reaction Force (QRF = Schnelle Eingreiftruppe) des deutsch geführten Regional Command North (RC N) zu stellen. Es wurden insgesamt zwei Kräftedispositive (QRF 3 und QRF 4) für jeweils ein halbes Jahr in den Einsatz entsandt.

Die QRF gliederte sich in eine Stabs-, Versorgungs- und Kampf-unterstützungskompanie sowie zwei Infanteriekompanien mit je drei Zügen, davon je einer mit der Fähigkeit, Schützenpanzer (SPz) Marder einzusetzen. Eine Sanitätskompanie für den beweglichen Einsatz wurde auf Zusammenarbeit angewiesen. Die QRF war darauf eingestellt, bis zu 72 Stunden autark zu operieren.

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Archivbild einer späteren deutschen QRF im August 2009 im Camp Marmal: MAZAR-E-SHARIF- Members of the German Quick Reaction Force in Camp Marmal, conduct vulnerable checkpoint training, searching for improvised explosive devices and ammunition. The Batallion is equipped with heavily armored vehicles and weap[ons systems to conduct patrols, missions, communicate with Afghan civilians and activate mines. Official photo by Petty Officer 1st Class Ryan Tabios, ISAF HQ Public Affairs via ISAFmedia/flickr

Materielle Ausstattung

Die QRF war mit geschützten Fahrzeugen der Typen Transportpanzer (TPz) Fuchs A7 und A8, Allzwecktransportfahrzeug Dingo 2A2 und 2A3 sowie dem SPz Marder ausgestattet. Aufgrund des Gewichts und der Größe dieser modernen Fahrzeuge waren Bewegungen abseits der Hauptverbindungsstraßen nur stark eingeschränkt möglich.
Die Soldaten der QRF verfügten über die Ausstattung Infanterist der Zukunft (IdZ). Diese Ausrüstung hat sich dank intensiver Ausbildung im Heimatland voll bewährt.
Aufgrund eingeschränkter Verfügbarkeit von Hubschraubern im Einsatzland konnten die Kräfte des Jägerregiments 1 ihre Fähigkeit zum luftgestützten Einsatz (luftbewegliche QRF) nicht zum Einsatz bringen.

Einsatzvorbereitung

Während der einsatzvorbereitenden Ausbildung wurden die Sanitätskompanie und alle externen Teileinheiten und Einzelabstellungen sechs Monate vor Einsatzbeginn in die QRF integriert. Diese frühe Zusammenführung hat sich bewährt. Zum einen erfolgte die Integration in den Verband, zum anderen wurden alle Ausbildungsabschnitte gemeinsam durchlaufen.
Die Vorausbildung der Truppenteile des Jägerregiments 1 war standardisiert. Sie durchliefen die Einsatzvorbereitende Ausbildung für Konfliktverhütung und Krisenbewältigung an den Standorten Schwarzenborn bzw. Hammelburg und vertieften die Schießfertigkeiten während mehrerer Truppenübungsplatzaufenthalte.
Die Kompanien der Einsatzkontingente wurden am Übungszentrum der Infanterie an der Infanterieschule in Hammelburg ausgebildet, zudem absolvierten beide QRF einen 14-tägigen Durchgang im Gefechtsübungszentrum des Heeres in der Letzlinger Heide.
Aufgrund der umfassenden einsatzvorbereitenden Ausbildung – die einen großen organisatorischen Aufwand darstellte – war es dem Jägerregiment 1 gelungen, nahezu alle Soldaten an dem im Einsatzgebiet vorhandenen Material auszubilden.

QRF im Einsatzgebiet

Die Bedrohungslage im Raum Kunduz bedingte, dass nahezu ununterbrochen eine verstärkte Infanteriekompanie der QRF unter der Führung des PRT (Provincial Reconstruction Team) im Distrikt Kunduz (KDZ) operierte. Dieser Umstand verringerte zwar den Einsatzwert des QRF-Verbandes, für weitere
Operationen wurde die QRF aber regelmäßig durch Aufklärungskräfte (gemischte Aufklärungskompanie Mazar-e Sharif (MES)), Pionierkräfte, CIMIC (Civil-Military Cooperation)-Kräfte und PSYOPS (Psychological Operations)-Kräfte verstärkt.
Die QRF führte Operationen im gesamten Einsatzraum des RC N durch und war von Ghormach im Westen bis Taloqan im Osten, von Heyratan im Norden bis Darzab und Pol-e-Komri im Süden eingesetzt.

QRF im Gefecht

Exemplarisch für die weit über 50 Feuerkämpfe und teilweise stundenlangen Gefechte, in welche die QRF verwickelt war, werden im Folgenden zwei Operationen beschrieben und ausgewertet.

Das Gefecht bei Basoz und Sujani (zehn km westlich Kunduz) am 4. Juni 2009

Die QRF führte die Operation an diesem Tag wie folgt: A-Zug in der Nacht zuvor zum Schutz der Polizeistation Chahar DARREH als Nacht- und Tagpatrouille eingesetzt, geplante Rückkehr ins PRT gegen Mittag. B-Zug Sweep (Kampfmittelsuche entlang eines Weges) auf einer der Straßen nordwestlich der Polizeistation. Der unterstellte Spähtrupp der AufKlKp (Aufklärungskompanie) MES führte eine Einweisung im Norden des AOR (Area of Responsibility) durch und operierte eng mit B-Zug zusammen. C-Zug als Reserve der QRF im PRT KDZ. Im Verlauf des Tages wurden starke Kräfte der QRF und des PRT sowie ein Zug der Afghan National Army (ANA) unter einheitlicher Führung der QRF 3 eingesetzt. Aus Gründen der operativen Sicherheit wird im Weiteren das Gefecht nur in Ausschnitten dargestellt.
Um 1613D* (D* = Ortszeitbezeichnung AFG, entspricht MESZ + 2 Stunden 30 Minuten) wurde der Spähtrupp 3 500 m nordwestlich der Ortschaft Basoz durch einen Selbstmordattentäter angesprengt und von feindlichen Kräften beschossen. Der Spähtrupp konnte den Hinterhalt durchstoßen und sollte nördlich Basoz so in Stellung gehen, dass aus Westen nachstoßender Feind hätte bekämpft werden können. Gleichzeitig erhielt der B-Zug den Auftrag, den Spähtrupp aufzunehmen, um die Voraussetzungen für einen Gegenangriff entlang der Straße J79 – Yumar Bazar zu schaffen. Absicht QRF war es, nachstoßenden Feind im Zuge der Straße J79 – Yumar Bazar bei günstiger Gelegenheit zu zerschlagen.
Noch bevor der B-Zug die Stellung nördlich Basoz gewinnen konnte, kam es um 1650D* erneut zu Beschuss. Diesmal wurden sowohl der Spähtrupp, noch nördlich Basoz, als auch der B-Zug, noch südlich Basoz, mit RPG (Rocket Propelled Grenade) und Handwaffen beschossen. B-Zug durchstieß und konnte Schulterschluss mit dem Spähtrupp herstellen. Bei dem Beschuss des B-Zuges und des Spähtrupps nahm der Feind keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung und schoss über und durch eine Gruppe Kinder hindurch. Glücklicherweise wurde keines der Kinder getroffen.
Noch während der Verbindungsaufnahme zwischen Spähtruppführer und Gruppenführer Spitzengruppe B-Zug griff der Feind in zwei Wellen an. B-Zug ging mit eingegliedertem Spähtrupp im Zuge der Ortschaft Basoz angelehnt an mehrere Gebäude in Stellung und verteidigte erfolgreich gegen eine große Anzahl INS (Insurgents), die aus mehreren Richtungen angriffen und mehrfach versuchten, sich in die Flanken des Zuges zu verschieben. Gegen 1715D* trafen zwei A-10 Thunderbolt zur Luftnahunterstützung ein.
Ein Zug der ANA, unterstützt durch ein belgisches OMLT (Observation, Monitoring and Liaison Team), wurde der QRF unterstellt und zum Schutz der linken Flanke eingesetzt.
Es entwickelte sich ein etwa eineinhalbstündiges Gefecht, welches nach Eintreffen weiterer Verstärkungen gegen 1818D*endete. Der Feind, offensichtlich von der heftigen Gegenwehr überrascht, brach seinen Angriff ab und wich nach Westen aus. Da gleichzeitig eine große Anzahl von unbewaffneten Zivilisten aus den Häusern kam, ist anzunehmen, dass diese das Ausweichen des Feindes ermöglichen sollten.
Ob die Bevölkerung dabei freiwillig handelte oder gezwungen wurde, konnte nicht abschließend geklärt werden. Ein Nachstoßen war wegen der Zivilbevölkerung, der einsetzenden Dämmerung und des unübersichtlichen, stark bebauten Geländes mit kurzen Kampfentfernungen nicht zweckmäßig, zumal die INS über die bessere Ortskenntnis und abgesessen höhere Beweglichkeit verfügten.
Die Straße Kharoti – Basoz lässt ein Wenden größerer Fahrzeuge unter Feindbedrohung nicht zu, so dass über Sujani Ulya verlegt werden musste.
Viele Soldaten berichteten, dass während des Ausweichens viel Zivilbevölkerung auf der Straße war und ihnen zugewinkt habe. Kurz vor der Ortschaft Sujani Ulya meldete B-Zug, dass die Zivilbevölkerung sich wieder in die Häuser zurückziehe und vermutlich ein weiterer Angriff unmittelbar bevor stünde. Noch bevor die Meldung vollständig abgesetzt war, wurde das Spitzenfahrzeug B-Zug gegen 1854 D* mit fünf RPG und Handwaffen (Small Arms Fire, SAF) beschossen.
Der Zug führte den Feuerkampf und entschied sich dann zum Durchstoßen, da das Gelände kein gedecktes Absitzen zuließ. Der B-Zug saß nach dem Durchstoßen südlich Suyani Ulya ab. Der heftige Feuerkampf selbst dauerte rund 30 Minuten. Mittlerweile waren vier Kampfflugzeuge vom Typ Thunderbolt im Einsatz, die aus der Luft Aufklärungsergebnisse lieferten und mehrfach zum „Show-of-Force“ eingesetzt wurden. Nach fünf Stunden war das Gefecht um 2127 D* beendet.
Während des Gefechtes wurden zur Unterstützung der eigenen Operationsführung LUNA und CAS (vier A-10 Thunderbolt im rottenweisen Einsatz) zur Aufklärung aus der Luft und „Show-of-Force“ eingesetzt. Es wurden keine eigenen Soldaten verwundet.

Operation OQAB und das Gefecht an der LOC Banana bei Zar-Kharid-i-Sufla

Mit dem Auftrag, das im Feuerkampf stehende 1. Kandak (Bataillon) der 2. Brigade 209. ANA Korps einschließlich deutschem OMLT im Raum Polizeistation Zar Kharid-i-Sufla zu verstärken, verlegte 2./QRF am 19. Juli mit Panzergrenadierzug voraus. Zum Zeitpunkt der Verbindungsaufnahme mit den deutschen Kräften des OMLT hatten sich diese aus einem Hinterhalt gelöst, waren auf die Polizeistation ausgewichen und standen mit ihren Spitzen im Feuerkampf mit Feindkräften bei Baaghi Sheerkat.
Unmittelbar mit dem Eintreffen der Marder gingen die Soldaten der ANA wieder vor und bezogen Stellung noch vor den SPz. Nachdem der Feuerkampf gegen die Feindstellung vor Baaghi Sheerkat geführt war, und aus diesem Raum kein Feuer mehr erwidert wurde, machten die ANA-Soldaten lobende und anerkennende Gesten zu den SPz des Zuges. Augenscheinlich war, dass unmittelbar mit dem Eintreffen der SPz die Moral bei den angegriffenen Kräften stieg. Dies wurde später durch das deutsche OMLT bestätigt.
Im weiteren Verlauf der Operation sicherte der Zug mit den SPz die Polizeistation und überwachte das abgesessene Vorgehen der ANA und deutscher Kräfte mit den Bordmaschinenkanonen. Es hat sich gezeigt, dass der Einsatz der Schützenpanzer die Kampfmoral eigener und verbündeter Kräfte erheblich erhöht hat.

Wirkung auf die Zivilbevölkerung
Bei Bewegungen mit den Schützenpanzern fiel auf, dass der übrige Verkehr deutlich Abstand zum Zug hielt. Der Gegenverkehr ist ausnahmslos an den Straßenrand gefahren und hat dort gehalten bis eigene Kräfte passiert hatten. Dies war beim Marsch mit Radfahrzeugen nicht üblich.

Bewegungen und Infrastruktur
Bewegungen im Zuge der Hauptverbindungsstraßen (Lines of communication, LOC) konnten ohne Schwierigkeiten durchgeführt werden. Die Felder waren zu der Zeit abgeerntet, Bewässerungsgräben – welche parallel zu den LOC verlaufen – stellten aufgrund der Überschreitfähigkeit der SPz kein Hindernis dar. Kleine Brücken und Straßen mit Bachdurchläufen sind tragfähig genug und schränken die Mobilität der Schützenpanzer nicht ein. Lediglich Reisfelder sind als Panzerhindernis zu bewerten.
Der SPz ist in der Lage, eine typisch afghanische Mauer zu durchbrechen und die Straße seitlich zu verlassen. Der Durchbruch konnte von allen anderen Fahrzeugen ebenfalls genutzt werden. Im späteren Verlauf des Einsatzes wurden Furten nutzbar, Flüsse hingegen waren Hindernisse und hemmten die eigenen Bewegungen.

Einsatz der Schützenpanzer
Aufgrund der enormen Kampfraumtemperaturen von bis zu 80 Grad Celsius und des Umstandes, dass ein schneller Wechsel der Kampfweise aus dem engen Kampfraum mit IdZ (Infanterist der Zukunft)-Ausstattung nicht möglich ist, wurde der Zug in einem Fahrzeugmix mit Dingo und SPz eingesetzt. Die SPz benötigen zur Steigerung ihres Einsatzwertes dringend eine Klimaanlage. Schon in Mazar-e Sharif wurden Beschussversuche mit Gefechtsmunition auf eine Compoundmauer durchgeführt, um die Wirkung auf eine typisch Deckung der INS zu testen.
Nachdem am 19. Juli mit der Bordmaschinenkanone gegen eine erkannte MG- und eine RPG-Stellung gefeuert wurde, war der bis dahin lang anhaltende Feuerkampf sofort beendet. Später kämpften die INS auch nach dem Beziehen einer offenen Stellung weiter aus einer frontalen Stellung gegen die SPz. Es wurden RPG gegen einen SPz gefeuert, die allerdings auf der Straße liegen blieben oder vor der Stellung umsetzten.
Parallel zu den LOC bieten sich im ganzen Raum unzählige Stellungsmöglichkeiten für INS, um flankierend auf die Straßen zu wirken. Beim Vorgehen der SPz – aber auch aller anderen Kräfte – gilt es, diese Flankenbedrohung ständig zu beurteilen. Bei Anzeichen für einen Angriff oder einen Hinterhalt, sowie bei erkanntem Feind, muss frühzeitig die Kampfweise gewechselt werden und die Flankenbedrohung im Zusammenwirken von auf- und abgesessenen Kräften ausgeschaltet werden.
Die Versuchung ist groß, die Schützenpanzer als einzelnes Waffensystem einzusetzen, um mehrere Züge mit einer weitreichenden Waffe und entsprechender Feuerkraft auszustatten. Um die volle Leistungsfähigkeit der SPz zur Wirkung zu bringen, muss der Zug den Einsatzgrundsätzen der PzGrenTr entsprechend als Feuereinheit und im engen Zusammenwirken mit abgesessenen Kräften eingesetzt werden. Der Einsatz eines Halbzuges in besonderen Lagen ist möglich, sollte aber die Ausnahme bleiben.

Gefecht bei Quara Yatim

Nach Aufklärung und Sprengung eines IED (Improvised Explosive Device) bei Pol-e-Za Khel gab es eine Vielzahl von Hinweisen darauf, dass die Ortschaft Quara Yatim im nördlichen Chahar Darreh im deutlichen Interesse der INS liegt. Durch die Drohne LUNA aufgeklärte Bausperren westlich der Ortschaft verstärkten diese Vermutung. Auch bestand die Gefahr, dass INS die relativ lange Abwesenheit von ISAF-Kräften im Raum genutzt haben, um neben luftgestützt aufklärbaren Bausperren IED einzubringen. Erkenntnisse aus der Gesprächs-aufklärung verdichteten diese Vermutung.
Nicht zuletzt das zuvor aufgeklärte und beseitigte IED war deutliches Anzeichen dafür, dass aus der Ortschaft Qara Yatim eine deutliche und nachhaltige Bedrohung für die Bewegungsfreiheit von ISAF im Zuge der LOC KAMINS und somit dem einzigen Weg von und nach Chahar Darreh gegeben war. Daher hatte die Kompanie den Auftrag, die Bausperren zu prüfen und Gesprächsaufklärung in besagter Ortschaft durchzuführen.
Auf Grund der Feindlage und möglicher Bedrohung durch IED entschied sich der Kompaniechef für eine Kombination aus IED-Sweep durch A-Zug und EOD-Trupp sowie unmittelbar dahinter folgender Gesprächsaufklärung durch Tactical PsyOps Team (TPT) und Tactical CIMIC Team (TCT). Um die auf der Hauptverbindungsstraße zwischen Quara Yatim und Loc Kamins „sweependen“ Kräfte in Bezug auf die Kampfkraft zu verstärken, ging ein Halbzug Panzergrenadiere auf- und abgesessen unmittelbar folgend mit vor. Der abgesessene und durch Teile des Beweglichen Arzttrupps und des Joint Fire Support Teams verstärkte Kompanieführungstrupp gliederte sich ebenfalls ein.
Die westliche Flanke wurde durch eine abgesessene und parallel zu den Hauptkräften vorgehende Panzergrenadiergruppe gesichert, während das offene Gelände ostwärts der Hauptverbindungsstraße den Einsatz von zwei SPz zur Überwachung der rechten Flanke zuließ. Absicht des Kompaniechefs war es, zunächst bis zu der durch LUNA aufgeklärten Bausperre zu „sweepen“ und zeitgleich hinter den Sweep-Kräften Gesprächsaufklärung durchzuführen.
Der erste Feuerkampf des Tages begann mit der Feuereröffnung auf die links eingesetzte und abgesessen vorgehende Panzergrenadiergruppe durch INS auf eine Entfernung von circa 100 bis 150 m. Dabei wirkte der Feind in Truppstärke über ein freies Feld auch auf die – im Zuge der Hauptverbindungsstraße vorgehenden – Hauptkräfte. Das Feuer wurde unmittelbar erwidert und der Feind wich – unter Nutzung von Bewässerungsgräben – nach Norden aus. Das weitere Vorgehen der eigenen Kräfte wurde unverändert fortgesetzt. Als sich die Hauptkräfte an die aufgeklärte Bausperre annäherten, eröffnete der als Sperrsicherung eingesetzte Feind wiederum das Feuer mit Handwaffen und RPG.
Die Sperrsicherung wurde im Zusammenwirken zwischen einem SPz Marder und einem Scharfschützentrupp bekämpft. Parallel dazu wurden die ostwärts eingesetzten Marder auf weite Entfernung mit RPG beschossen. Da der Feind, wie oftmals zuvor auch, die RPG indirekt über bebautes Gelände hinweg geschossen hat, konnten die feindlichen Schützen nicht aufgeklärt und bekämpft werden. Nach Erkundung der Bausperre wurde diese gesprengt. Im Anschluss setzte die Kompanie den Sweep als Voraussetzung für die Gesprächsaufklärung in Qara Yatim weiter fort.
Bereits kurze Zeit nachdem der südliche Ortsrand Qara Yatim genommen war, sammelten sich Teile der Bevölkerung, die – wie so oft – vor allem aus Alten und Kindern bestand. Das TPT begann unmittelbar unter Sicherung mit der Gesprächsführung. Im Laufe des Gesprächs mit einem der Dorfältesten wurde dieser durch einen Anruf auf seinem Mobiltelefon darüber in Kenntnis gesetzt, dass INS in der Ortschaft seien und ein Angriff auf die Kompanie unmittelbar bevorstehe. Diese Information gab der Gesprächspartner direkt an das TPT weiter.
Circa eine Minute nachdem die Lageinformation an die Züge und weiteren Unterstützungskräfte gegeben wurde, wirkten Feindkräfte durch massiven Beschuss auf die Spitzenteile des A-Zuges. Nachdem der Feuerkampf durch den A-Zug mit allen zur Verfügung stehenden Handwaffen geführt wurde, löste sich die Kompanie unter Überwachung durch die Flankensicherung und nunmehr zur Verfügung stehender Drohne LUNA wieder in Richtung LOC KAMINS.
Parallel zu den zuvor kurz umrissenen Teilgefechten war auch die Polizeistation Chahar Darreh durch eine weitere INS-Gruppierung Feindfeuer ausgesetzt. Solche Entlastungsangriffe wurden seitens INS regelmäßig geführt und zu einem fast berechenbaren Standardverfahren.
Durch die im Zuge der Gesprächsaufklärung gewonnenen Erkenntnisse und natürlich die Feuerkämpfe des Tages wurde der Stellenwert Qara Yatims für den Feind sehr deutlich. Die vorliegenden Hinweise und daraus gewachsene Vermutung darüber wurde Gewissheit, so dass Qara Yatim in der Folgezeit stärker in den Fokus des eigenen Interesses gerückt ist, und entsprechende Operationen von ISAF-Kräften in Verbindung mit der ANA im Raum der Ortschaft geplant und durchgeführt wurden. Auch konnten die Erkenntnisse über die zivile Lage vor Ort aktualisiert werden.

Erkenntnisse über Taktik und Absicht der INS

Zu Art, Absicht und Verhalten der INS im Einsatzzeitraum der 2./QRF 4 in Kunduz lässt sich Folgendes zusammenfassend feststellen:
Die Art und Qualität des im Raum Kunduz agierenden Feindes stellt sich örtlich unterschiedlich dar. Dabei variiert das Spektrum zwischen den sogenannten „50-Dollar-Taliban“, mit niedrigerem Ausbildungsstand und geringerer Entschlossenheit im Kampf, bis hin zu durch „Foreign-Fighters“ angeleiteten INS-Hardliner.
In den vorangegangenen Kontingenten war es ISAF-Kräften noch möglich, sich in der Tiefe des nördlichen und südlichen Chahar Darreh zu bewegen.
Dabei wurden ISAF-Kräfte durch INS räumlich und zeitlich begrenzt im Rahmen von Hinterhalten angegriffen, mindestens gestört.
Entgegen der Erfahrungen im Gefecht von Palaw Kamar muss die Mehrzahl der durch die Kompanie bestrittenen Gefechte als wenig überraschend und bisweilen vorhersehbar bezeichnet werden. So war die Bewegungsfreiheit für ISAF-Kräfte über die Dauer des Einsatzes der 2./QRF 4 in Chahar Darreh deutlich eingeschränkt. Bereits nach kurzer Zeit im Raum Kunduz war für die Kompanie klar, dass man mittlerweile auf die alten Begrifflichkeiten zurückkommen musste.
Der Feind verteidigt mittlerweile deutlich und entschieden, mit der Absicht, ISAF-Kräften das Eindringen in die Tiefe des Raumes zu verwehren. Dabei nutzte er bewährte militärische Grundsätze; so zum Beispiel Sperren in Form von Bausperren und IED, Sperrsicherungen in Form von Schützenstellungen, welche die jeweilige Sperre überwachten, und Entlastungsangriffe auf die Polizeistation Chahar Darreh. Das „Gefecht in Hinterhalten“ wurde im Einsatzzeitraum der 2./ QRF 4 durch das „Gefecht am Vorderen Rand der Verteidigung (VRV)“ abgelöst.

Zusammenfassung

Das Jägerregiment 1 war insgesamt weit über ein Jahr mit der Einsatzvorbereitung, der Einsatzdurchführung und der Einsatznachbereitung gefordert. Dies forderte alle dem Regiment zur Verfügung stehenden Mittel, personell wie materiell. Ohne die herausragende Leistungsbereitschaft der Soldaten des Verbandes hätte dieser Auftrag in seiner hohen Qualität nicht erfüllt werden können. Dies schließt ausdrücklich auch die am Standort verbliebenen Soldaten ein, die in der gesamten Zeit alle nicht einsatzbezogenen Aufträge zu erfüllen hatten. Dabei war nicht nur die einsatzbedingte Abwesenheit vieler Spezialisten und Soldaten des Stabes zu kompensieren, vielmehr mussten zusätzlich auch die wichtigen Aufträge aus dem Einsatzland sowie die Zuarbeit erledigt werden.
Der Verband war auf den schwierigen Einsatz in Afghanistan vorbereitet und konnte an dem Material, das im Einsatzland Verwendung findet, ausgebildet werden. Alle Soldaten der QRF haben durch umsichtiges und professionelles Handeln zum Erfolg im Einsatz beigetragen. Hierbei hat sich der Einsatz von „gewachsenen“, teilweise über Einsatzerfahrung verfügenden Teileinheiten bewährt. Es gilt, diese Erfahrungen für die Ausbildung der Einsatzkontingente auszuwerten und konsequent in die Ausbildung einzubeziehen.
Das Jägerregiment 1 denkt „vom Einsatz her“ und beginnt bereits jetzt die Soldaten und Soldatinnen zielgerichtet auf die wahrscheinlichen Einsätze im Jahr 2012 hin auszubilden. Besonderes Augenmerk wurde im Jägerregiment 1 auf die Betreuung der Familienangehörigen der Einsatzsoldaten gelegt. Sieben Soldaten mit Einsatzerfahrung und vier ehrenamtliche Helfer betreuten die Familien der Einsatzsoldaten über ein Jahr. Vor Einsatzbeginn wurden Informationsveranstaltungen und während des Einsatzes monatlich Familienbetreuungsveranstaltungen durchgeführt. Ziel dieser Veranstaltungen war es, die Angehörigen umfassend über die Lage im Einsatzgebiet zu informieren und sich im persönlichen Gespräch gegenseitig kennen zu lernen. Der Wunsch der Angehörigen, am Standort der Einsatzsoldaten und nicht durch eine „anonyme“ Familienbetreuungsstelle in der Nähe des Wohnortes des Soldaten unterrichtet zu werden, wurde offensichtlich.