Diskussion über die neue Bundeswehr: Der stellvertretende Präsident des Reservistenverbandes

Roderich Kiesewetter ist stellvertretender Präsident des Reservistenverbandes. Aber nicht nur. Sondern auch CDU-Bundestagsabgeordneter. Und vor allem: Bevor er ins Parlament wechselte, war er als Oberst im obersten NATO-Kommando SHAPE in Belgien tätig. Zum Thema Wehrpflicht also ein Beitrag eines Politikers mit Sachkenntnis:

Die Wehrpflicht verdient kein Sterben auf Raten, sondern eine komplette Neuausrichtung! Markenkern demokratischer Parteien ist doch eine verantwortungsbewusste, berechenbare und international bündnisfähige Außen- und Sicherheitspolitik. Hierbei spielte bisher die allgemeine Wehrpflicht zwar eine wichtige Rolle, mit dem Koalitionsvertrag einigten sich die Partner jedoch auf eine sechsmonatige Wehrpflicht. Alle Kenner sind sich einig, dass dies nur schwer und kaum sinnvoll umsetzbar ist. Die seit Jahren überfällige Reform der Bundeswehr hin zu schlankeren, effektiveren und zugleich sparsameren Strukturen, verbunden mit einer verbesserten Einsatzorientierung, erfordert weitere schmerzhafte Einschnitte.
Die gültige Ausgestaltung der Wehrpflicht mit erhöhten Tauglichkeitskriterien führte dazu, dass die Hälfte eines männlichen Jahrgangs gesundheitlich nicht für einen Dienst in den Streitkräften geeignet ist. Über die Hälfte der tauglich gemusterten jungen Männer verweigert den Wehrdienst. Somit leisten nur noch rund 18 % der jungen Männer eines Geburtsjahrgangs überhaupt Wehrdienst. Von einer Pflicht für alle kann also keine Rede sein. Die Bundeswehr vermag es auch wegen ihrer gegenwärtigen Struktur nicht, mehr junge Männer im Rahmen der Wehrpflicht auszubilden, daran ändert auch W6 nichts. Es gibt de facto also keine sinnvolle Wehrgerechtigkeit mehr.
Mit Blick auf die Auslandseinsätze kann die Bundeswehr nur bis zu 8.000 von rund 250.000 Soldaten zeitgleich stellen. Da sich jeweils ein gleich großer Anteil im Einsatz, in der Nach- und in der Vorbereitung befindet, sind rund 24.000 Soldaten, also weniger als 10% der Streitkräfte gebunden. Die Bundeswehr befindet sich diesbezüglich an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Hier nimmt die Bundeswehr, was ihre Effektivität betrifft, im Bündnisvergleich einen der hinteren Plätze ein. Es geht allerdings überhaupt nicht darum, mehr Soldaten in Einsätze zu bringen, sondern den Aufwand dafür vertretbar zu halten.
Weil es de facto keine Wehrgerechtigkeit mehr gibt und die Bundeswehr einen zu großen Apparat unterhält, um ausreichend Soldaten für Einsätze zu gewinnen, ist es an der Zeit, mit der gebotenen Ehrlichkeit und Nüchternheit an die Bundeswehrstrukturen und die Frage der Wehrpflicht zu gehen. Seit 1990, dem Beginn der „Armee der Einheit“ nach Auflösung der NVA, erlebte die Bundeswehr vier Strukturreformen, die stets nur Reparaturen am laufenden Motor waren.
Die von Minister zu Guttenberg initiierten strukturellen Veränderungen sind ohne die Betrachtung der Wehrpflicht und der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen nicht sinnvoll. Im Jahr 2013 werden nur noch rund halb so viele junge Männer dem Wehrdienst zur Verfügung stehen wie im Jahr 1997. Die Bundeswehr wird noch stärker in Konkurrenz mit anderen staatlichen und privaten Sicherheits- und Vorsorgeeinrichtungen stehen. Der Wettbewerb um die besten Köpfe läuft bereits. Da Wehrgerechtigkeit derzeit nur noch durch Kunstgriffe aufrecht zu erhalten ist, wird die gegenwärtige Einberufungspraxis nicht gerichtsfest bleiben. Sollte wider Erwarten und unter allen Umständen an der Wehrpflicht im bisherigen Umfang festgehalten werden, muss allen beteiligten Verantwortlichen klar sein, dass dies jährlich mindestens zwei Milliarden Euro Mehrkosten verursacht. Das sieht die Finanzplanung der Bundeswehr bisher nicht vor. Hat jemand schon die Aussage der Kanzlerin ausgelotet, dass die Wehrpflicht nicht an 2 Mrd € scheitern dürfe?
Sicherheitspolitik darf aber nicht nach Kassenlage erfolgen. Deshalb ist es Aufgabe moderner Sicherheitspolitik, gestalterisch zu handeln, bevor die Umstände Handlungsmöglichkeiten zerstören oder ausweglose Alternativen aufzwingen. Folglich ist es an der Zeit, den Wehrdienst möglichst in einem breiten sicherheitspolitischen Konsens der demokratischen Parteien neu zu gestalten. Die Initiative des Verbands der Reservisten der Bundeswehr „Tu was für Dein Land“ zeigt den richtigen Weg. Im sozialen und im Umweltbereich gibt es das Freiwillige Soziale Jahr. Dieses erfolgreiche Modell lässt sich auf den Wehrdienst übertragen, denn auch hier brauchen wir ein breites gesellschaftliches Engagement junger Frauen und Männer für unsere Gesellschaft.
Dazu ist das Wehrpflichtgesetz, das bereits seit seiner Einführung 1957 eine freiwillige Durchführung des Wehrdienstes nicht ausschließt, nur leicht zu modifizieren. Der Freiwillige Wehrdienst könnte bis zu zwei Jahre dauern, analog zu den freiwillig zusätzlichen Wehrdienst Leistenden, die bis zu 23 Monate freiwillig dienen. Die Wehrpflicht müsste nicht ausgesetzt werden, der Wehrdienst wäre eben freiwillig. Zugleich sollte man den Dienst in den Streitkräften im Freiwilligen Wehrdienst für die Frauen öffnen. Entscheidend und maßgeblich ist, dass die Streitkräfte gesellschaftlich breit verankert bleiben.
Für die freiwillig Wehrdienst Leistenden könnten die ersten sechs Monate (W6) eine Probezeit sein. Jede und jeder, der sich für einen Freiwilligen Dienst beim Bund mustern lässt, sollte ein Zertifikat erhalten, das auch bei zivilen Arbeitgebern vorgewiesen werden kann, und nach dem Freiwilligen Dienst ein zivil verwertbares Zeugnis. So würde Engagement gewürdigt und wäre für zivile Arbeitgeber aussagekräftig. Der Freiwillige Dienst in den Streitkräften muss für die junge Generation attraktiv sein! Hier sind viele Anreize denkbar, beispielsweise ein bezahlter Führerschein, der Erwerb zivilberuflich verwertbarer Qualifikationen, „credit points“ fürs Studium oder gar ein Studienplatz an einer der attraktiven Bundeswehruniversitäten, Gutschriften für die Rente etc.
Das Modell des Freiwilligen Dienstes für unsere Gesellschaft, quasi ein „Gesellschaftsjahr“, wäre auf viele, auch bisher rein ehrenamtlich begleitete Bereiche unserer Gesellschaft übertragbar und würde den bewährten Gedanken des Freiwilligen Sozialen Jahres fortentwickeln.
Zugleich grenzt sich dieser Ansatz deutlich ab vom Vorschlag einer „freiwilligen“ Wehrpflicht. Dieser sieht vor, zunächst zu prüfen, ob es ausreichend Bewerber für die Streitkräfte gibt, und wenn das nicht der Fall ist, entsprechend pflichtbezogen einzuberufen. Das erscheint nicht gerichtsfest.
Die Bundeswehr braucht nach den bevorstehenden gewaltigen Reformschritten auf viele Jahre Ruhe für die Umsetzung der Reformen. Unsere Gesellschaft hat Anspruch auf Verlässlichkeit bei den Anforderungen an soziales Engagement. Ein attraktives Freiwilliges Gesellschaftsjahr ist zugleich ehrenvoll und notwendig für unsere Gesellschaft.

(Der Beitrag stand zunächst als Kommentar hier, ich halte es aber für sinnvoll, den als Diskussionsbeitrag in einen eigenen Thread zu stellen.)