Abzug aus Afghanistan: Die Null-Lösung scheint wieder auf dem Tisch
Ob es ein Verhandlungstrick ist oder diesmal tatsächlich eine ernste Drohung, werden wir so schnell nicht erfahren: Angesichts der stockenden Verhandlungen über ein Stationierungsabkommen zwischen Afghanistan und den USA, berichtet heute die New York Times, werde in Washington erstmals ein Komplettabzug der amerikanischen Truppen vom Hindukusch im kommenden Jahr ernsthaft als Möglichkeit erwogen:
Increasingly frustrated by his dealings with President Hamid Karzai, President Obama is giving serious consideration to speeding up the withdrawal of United States forces from Afghanistan and to a “zero option” that would leave no American troops there after next year, according to American and European officials. (…)“There’s always been a zero option, but it was not seen as the main option,” said a senior Western official in Kabul. “It is now becoming one of them, and if you listen to some people in Washington, it is maybe now being seen as a realistic path.”
Die Entscheidung der USA, wie viele Soldaten auch nach Auslaufen der ISAF-Mission Ende 2014 am Hindukusch bleiben (und ob überhaupt welche), wird auch die Entscheidungen der Verbündeten bestimmen. Ein deutsches militärisches Engagement in einer Folgemission ohne eine militärische Präsenz der USA im Land scheint ausgeschlossen; und bei der Festlegung im Kreis der NATO-Staaten warten alle auf die Zahlen aus Washington. Mit einer Zero option, einer Null-Lösung, würde es dann eben auch keine deutschen Soldaten mehr in Afghanistan geben – und vermutlich von keinem Land Ausbildung und Unterstützung für die afghanischen Sicherheitskräfte.
Nachtrag: Nicht ganz unberechtigt kommen nun auf Twitter die ersten Hinweise, dass die zero option schon im Januar öffentlich ins Gespräch gebracht wurde:
The White House has said for the first time it is possible that no US troops will remain in Afghanistan past 2014, as President Hamid Karzai arrived in Washington for talks with Barack Obama. (…)
When asked whether the US was considering a „zero option“ for a residual force after the end of the US combat mission in 2014, Mr Rhodes, the deputy national security adviser, told reporters: „That would be an option that we would consider.“
(Archivbild: Afghan President Hamid Karzai listens as President Barack Obama delivers remarks during the strategic partnership agreement signing ceremony at the Presidential Palace in Kabul, Afghanistan, May 1, 2012 – Official White House Photo by Pete Souza)
@autostaedterin
Sicherheitspolitisch muss diese Frage mit dem politischen Willen und den Opportunitätskosten abgewogen werden. Grundlage einer Einsatzentscheidung müssen dann aber klar identifizierte nationale Interessen sein. Dann muss man auf moralische Vorhaltungen von Hungersnöten, Demokratie und Frauenrechten aber auch realpolitisch darauf antworten, dass es außerhalb des definierten Interessenbereiches liegt. Und so eine mehr wenn auch nicht völlig isolationistische Haltung spart womöglich Geld aber auch internationales Prestige und damit politisches Kapital und Mitspracherecht. Diese Opportunitätskosten müssen kommuniziert und akzeptiert werden. Wenn argumentiert wird, politische und wirtschaftliche Macht ließen militärische Fähigkeiten heute obsolet werden, frage ich mich ob Russland und China das mit Blick auf ihre Ausgabensteigerung für Verteidigung mitbekommen haben.
Und schließlich muss politisch definiert werden, wann der Punkt gekommen ist, wo man sich aus einem Konflikt nicht mehr heraushalten kann.
Nationale Interessen in einer globalisierten Welt sind übrigens etwas merkwürdig. Chaos in AFG könnte z.B. Zentralasien mit allen seinen -stans und PAK destabilisieren. Ein instabiles PAK mit Nuklearwaffen wäre eine unmitelbare Bedrohung für ein nuklear bewaffnetes IND. Ein Konflikt in IND hätte wiederum unmittelbare Auswirkungen auf die Weltwirtschaft und wieviele deutsche Unternehmen im Automobilsektor haben ihren IT-Support eigentlich schon nach IND ausgelagert? Preisfragen: Ist das wirklich eine Dominokette oder nicht und wenn es eine ist, wo wollen und können wir sie anhalten? Oder können wir mit dem Risiko leben?
@Cynic 2
Aus rein kybernetischer Sicht merke ich an, dass wir aber dann zunächst einmal unser Steuer- und Regelsystem und seine Algorithmen auf diese vernetzte komplexe Welt umstellen sollten, will sagen Kameralistik und Ressorthoheit müssen endlich über Bord geschmissen werden. Vernetzte Sicherheitspolitik funktioniert so nicht. Da hilft auch ein nationaler Interessenkatalog nicht weiter, wenn die Abwägungs-/Entscheidungs- und Umsetzungsprozesse an der mittelfristigen Finanzplanung und dem laufenden Haushaltjahr festgemacht werden…..oder dem Wahlkampf ;-)
@Cynic2 | 11. Juli 2013 – 9:36
Denken Sie an die Domino-Theorie aus dem Kalten Krieg? Bekanntermaßen haben die Kommunisten auch geglaubt, sie hätten eine herausragende Ideologie, die sich überall dahin exportieren ließe, wo sozialer und ökonomischer Streß herrscht. Und ihre Gegner glaubten mit dem Rollback das Fallen der Dominosteine verhindern zu können. Ist aber nicht so gelaufen. Völlig überraschend hat sich dann der Ostblock quasi selbst aufgelöst. Daher bin ich sehr skeptisch, ob es auch nur annähernd möglich ist, die Konsequenzen einer Null-Lösung abzuschätzen, also vielleicht passiert halt weniger, als wir befürchten oder die Situation stabilisiert sich sogar ohne äußere Einflussnahme.Aber D muss halt trotzdem wissen, was es will und wie viel Einsatz geht.
@klabautermann
Ob es solch tiefgreifender Veränderungen tatsächlich bedarf, kann ich nicht erkennen. Zunächst mal sollte sich sicherheitspolitik strategisch orientieren, aber wer Visionen hat, wird in Deutschland ja immer noch eingewiesen. Bei aller Kameralisitk können Finanzmittel auch über mehrere Jahre vorgeplant werden, wenn man denn will.
Auch die Ressorthoheit ist kein Problem, wenn man zusammenarbeiten will und klare Ziele hat. Hier scheint mir häufig das deutsche Beamtenrecht und die politische Postenschacherei eine effektive Personalauswahl für kritische Dienstposten auch im Einsatz zu verhindern.
Aus der Nummer mit dem Wahlkampf könnte man nur herauskommen, wenn man klare nationale Ziele so allgemein festhielte und über einen gewissen Zeitraum durchhielte, dass sie allgemein akzeptiert und nicht durch Wahlkämpfe verdrängt würden. Das US-Modell nationaler Sicherheitspolitik ist hier zumindest gut organisiert: Politische Ziele werden zu militärpolitischen Zielen, zu strategischen und operativen Zielen, Beschaffungsforderungen, regionalen Zielen für Einsatzgebiete. Die Ressortzusammenarbeit ist auch hier nicht optimal, aber da werden zumindest mehr Hausaufgaben gemacht als hier und nationale Interessen werden parteiübergreifend akzeptiert.
@Cynic 2
Nun, auf das US Modell wollte ich in der Tat hinaus. Dieses Modell basiert auf einer Grand Strategy, die historisch gewachsen und angepasst worden ist auf der Grundlage von strategischen Analysen, die all unsere KdB’en seit 1994 wie Kinderbücher aussehen lassen. Wir haben uns an Dogmen festgefressen, die niemals so wirklich validiert worden sind.
Wenn ich in der KdB die beiden Kapitel „Vernetztes Denken“ und „Prozessorientierung“ so vergleiche, dann bekomme ich das Grausen ob deren Widersprüchlichkeit, wenn man ein wenig Ahnung hat von vernetzter Prozessmodellierung ;-) Hauptsache alle Buzz-Words sind drin. Bullshit-Bingo 100 Punkte !
@autostaedterin
Richtig, Deutschland muss wissen, was es langfristig und mittelfristig will, um Strukturen, Mittel und politische Grundlgen zu schaffen, dies zu erreichen. Die Abschätzung von Risiken und Bewertung möglicher Auswirkungen gehört dazu und Irrtümer werden hier auch passieren, weil internationale Zusammenhänge nunmal kompliziert und vielschichtig sind.
Doch letztlich zählt immer, was faktisch notwendig ist und der politische Wille bestimmt. Und dann müssen Prioritäten gesetzt und Wege gefunden werden, damit das geht. Ein Grundproblem derzeitiger Politik ist doch, dass keine Schwerpunkte gesetzt werden, sondern man versucht die Infrastruktur auszubauen, die Konjunktur zu beleben, dabei die Energiewende zu schaffen und gleichzieitg Bildung, Forschung und Familienpolitik zu verbessern, während der Euro gerettet werden muss. Ein Problem der Sicherheitspolitik ist, dass sie für die meisten Bürger und damit Abgeordnete sehr weit weg und stabil erscheint. Im Gegensatz zur viel näherliegenden Kulturpolitik kann die Sicherheitspolitik, wenn etwas schief geht aber ganz schnell mit kritischen Konsequenzen sehr weit oben auf der Aganda, um nicht zu sagen vor der Haustür landen. Diese Ausgaben sind kein Luxus, den man sich gönnt, sondern augenscheinlich notwendige Maßnahmen, um negative Konsequenzen zu vermeiden.
@klabautermann
Check!
Einmal mit Profis arbeiten – nur fünf Minuten!
Aber wie Bush und Rumsfeld gezeigt haben, lässt sich auch das best angelegte System von schlechtem Führungspersonal an die Wand fahren. Bei der Planung von OIF 1, insbesondere Phase IV, wurde das gesamte System aus persönlichen und scheinbar besserer Wirtschaftlichkeit umgangen.
@Cynic 2
stimmt, auch das beste System ist nicht gegen incompetent leadership oder political bias gefeit. ;-) Allerdings hat das US System durch seine Dezentralisiertheit den Vorteil der Redundanz……wir machen das dann mit dem zentralen top-down Ansatz gem. KdB, also ohne Netz und doppelten Boden ;-)
@klabautermann
Ja, manchmal kann man die Zirkusmusik im Hintergrund hören, während alle gespannt aufs Drahtseil schauen, ob die Nummer funktioniert. ;-)
@cynic2 @klabautermann
Die Amerikaner so zu loben, ist das nicht angesichts des Irak-Fiaskos ein bisschen übertrieben? Das lag doch nicht nur an der Fehleinschätzung der Führerriege, was die politische Lage und die Interessen der politischen und religiösen Klasse im Irak 2003 betraf, sondern auch am Wunschdenken, wie denn die so Befreiten reagieren würden. Da hilft die beste Konzeption nicht, wenn man ausschließlich von seinen eigenen Interessen ausgeht.
@autostaedterin
Na ja, loben würde ich das nicht nennen. Anerkennen muß ich aber die strategische Professionalität der USA insbesondere ihr sehr redundantes und robustes System der Umsetzung ihrer Sicherheitsinteressen. Und das Bush/Rumsfeld dieses System zwar verstanden haben, aber politisch für ganz andere als nationale Zwecke eingesetzt haben, hat ja wohl nun jeder begriffen ;-)
@autostaedterin
;-) Das Lob geht ja nicht an „die Amerikaner“ sondern an das System und auch die Arbeitsebene des sicherheitspolitischen und militärischen Apparates der USA. Die politische Ebene musste bei OIF1 mehr Analysen und Strategiepapiere ignorieren, als das deutsche System überhaupt produziert hätte. Und ja, es lag an den Fehleinschätzungen und an dem Wunschdenken der politischen Führung. Die mittlere Führungsebene hat sich da keine Illusionen gemacht und war auch nicht über die Entwicklung überrascht. Aber im Endeffekt entscheidet die politische Führung und, ob es einem gefällt oder nicht, dann muss die Maschine damit arbeiten.
Rein systemisch sieht man bei den USA aber auch eine strategische und militärische Auseinandersetzung mit Problemen auf einem ganz anderen Niveau und in anderem Umfang als hier. Da ist auch Unfug dabei, aber die machen sich immerhin schriftlich und systematisch Gedanken dazu. Ein ganz deutlicher Vorsprung.
@cynic2 @klabautermann Gibt es für diesen Unterschied ein griffiges Beispiel, das man in diesem Rahmen anführen kann und einer Zivilistin wie mir einfach erklärt, wo gewissermaßen der Hase im Pfeffer liegt?
@autostaedterin
Idealerweise sollte ein Staat, der Kräfte in einen Einsatz entsendet eine politische Strategie, militärische Strategie und einen Kampagnenplan haben. Am Bsp. AFG 2009:
USA:
Nationale politische Strategie: http://nssarchive.us/NSSR/2006.pdf
Regionale politische Strategie: http://www.state.gov/documents/organization/135728.pdf
Regionale militärische Strategie: Operation Enduring Freedom Campaign Plan (nicht öffentlich)
Zivil-militärischer Kampagnenplan: http://www.comw.org/qdr/fulltext/0908eikenberryandmcchrystal.pdf
Militärischer Kampagnenplan: ISAF Campaign Plan 2009 (nicht öffentlich)
Die EU hat lediglich eine politische Strategie definiert, da sie keine wesentlichen Kräfte in die Region entsandt hat. http://eeas.europa.eu/afghanistan/csp/07_13_en.pdf
Die Bundesrepublik Deutschland hat meines Wissens nur einmal schriftlich eine politische Strategie zu Papier gebracht. http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/343832/publicationFile/3752/100128-StrategiePapier.pdf
Militärische Strategie: fehlt
Militärischer Kampagnenplan: fehlt, aber an den der NATO hat man sich auch nicht gehalten
Klarheit über das eigene Vorgehen bei Bevölkerung und Truppe: fehlt
Im Vergleich werden klare qualitative Unterschiede deutlich, denke ich. Die Umsetzung ist wieder was anderes, aber ohne diese Hausaufgaben, wäre ein erfolgreiches oder wenigstens koordiniertes Vorgehen reiner Zufall.
In den USA gibt es auch eine lebhafte und professionelle Debatte von Akademikern und Militärs zu diesen Strategien. In Deutschland gibt es nichts vergleichbares, sondern polemische, moralisierende und oft schlecht informierten Meinungsaustausch.
@cynic2
Vielen Dank erstmal, ist ne Menge Holz!
Vielleicht haben die Deutschen auch mehr auf die aktive Mitwirkung vor Ort gesetzt, aus der sich dann Befriedung und Fortschritt gewissermaßen von selbst ergeben (schließlich sind wir die Guten).