Wehrpflicht als (Bundeswehr)Thema der Woche: Der Ton ist gesetzt (Nachtrag)

Für die politische Debatte über die Bundeswehr (die neben den großen Themen in Folge der Europawahl ja weiter geht) wird diese Woche wohl die Wehrpflicht im Mittelpunkt stehen. Den Auftakt machte der stellvertretende Generalinspekteur Andreas (KORREKTUR, nicht Alexander) Hoppe mit der Zahl von 60.000 grundbeorderten Reservisten – die allerdings nicht ganz neu ist und mit der Wehrpflicht nichts zu tun hat. 

Hoppe hatte in einem am (gestrigen) Sonntag veröffentlichten Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur erklärt, die Bundeswehr wolle zunächst die Zahl der Reservisten in der so genannten Grundbeorderung erhöhen – vereinfacht gesagt: Die Zahl der Reservisten und Reservistinnen, die bereits ausgebildet sind und vor allem auch einem bestimmten Dienstposten und Aufgabenbereich zugeordnet sind. Von bislang rund 40.000 soll der Umfang auf 60.000 steigen.

Die Zahl war bereits vor knapp zwei Jahren, noch unter der damaligen Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, festgelegt worden:

60.000 grundbeorderte Soldatinnen und Soldaten bis 2027
(…)  Jeder wehrfähige Soldat und jede wehrfähige Soldatin erhält in Zukunft einen festen Platz in der Reserve, sobald er oder sie ihren Dienst in der aktiven Truppe beendet. In sechs Jahren möchte die Bundeswehr auf diese Weise die 60.000 Dienstposten in den Strukturen der Truppen- und Territorialen Reserve besetzen.

Dieser Aufwuchs ist damit die geplante Folge der Grundbeorderung, die 2019 beschlossen wurde: Die Streitkräfte hatten damals die Abkehr von der bisherigen Praxis seit Aussetzung der Wehrpflicht vollzogen, ausscheidende Zeitsoldaten schlicht ziehen zu lassen, ohne sie auch nur zu fragen, ob sie denn vielleicht als Reservisten weiter zur Verfügung stünden. Aus diesem ausscheidenden Personal, so der Plan, könne über die Jahre langsam aber stetig ein neues Potenzial für die Reserve gebildet werden.

Klar ist den Streitkräften, dass das vermutlich nur ein – geringer – Teil der nötigen Änderungen sein dürfte. Parallel dazu, auch das sagte der stellvertretende Generalinspekteur in dem dpa-Gespräch, versuche die Bundeswehr herauszufinden, wer denn als ehemaliger Bundeswehrangehöriger noch infrage käme, wenn mehr Reservisten herangezogen werden sollten oder müssten. Hoppe sprach von rund 800.000 Personen, die wehrrechtlich herangezogen werden können  – diese Formulierung deutet schon an, dass es überwiegend um Männer geht, die Wehrdienst geleistet haben (und eine vergleichsweise kleine Zahl von Frauen, die als Zeitsoldatin ausgeschieden und in der genannten Grundbeorderung sind).

Mit einer Wehrpflicht, wie auch immer sie aussehen könnte, hat das also erstmal nichts zu tun. Aber die Aussagen Hoppes zeigen schon, worauf die Überlegungen hinauslaufen: Die Frage, wie das Reservoir an ausgebildeten Soldaten – und ggf. auch Soldatinnen – nun erhöht werden kann.

Ob und wie eine wieder eingeführte Wehrpflicht dabei helfen könnte, hängt von vielen Details ab. Die grundsätzlichen Überlegungen hatte Verteidigungsminister Boris Pistorius bereits im Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz skizziert:

Pistorius_MSC_Wehrpflicht_17feb2024     

 

Schon damals dürfte dem Minister bewusst gewesen sein, dass die – bislang gültige – Zielgröße von 203.000 Soldaten und Soldatinnen, hinter der die aktuelle Stärke von gut 181.000 ohnehin weit zurückbleibt, deutlich zu wenig ist. Der frühere Inspekteur der Streitkräftebasis, Martin Schelleis, hatte mehrfach und auch kurz vor seinem Ausscheiden darauf verwiesen, dass die deutschen Zusagen an die NATO nicht zuletzt unter den Anforderungen an den Host Nation Support bei einem alliierten Aufmarsch durch Deutschland auf mehr als 240.000 summieren dürften; der Spiegel berichtete unter Berufung auf interne Papiere des Wehrressorts von einem Bedarf von mehr als 272.000.

Die Frage nach einem deutlichen Aufwuchs der Streitkräfte ist deshalb Teil der Debatte über die Wehrpflicht – und in diese ganzen Vorüberlegungen und Planungen gehört auch, was der Minister mit der Umstrukturierung für eine Bundeswehr der Zeitenwende Anfang April verfügt hatte: den Aufbau von Strukturen zur Wiederaufnahme der verpflichtenden Einberufung zum Grundwehrdienst, also die im zurückliegenden Jahrzehnt abgeschaffte Möglichkeit, eine eventuell wieder auflebende Wehrpflicht auch umzusetzen. Denn bei der Debatte wird meist nicht berücksichtigt, dass die Wehrpflicht früheren Stils, also nur für Männer, automatisch in Kraft tritt, falls der Bundestag den Verteidigungs- oder Spannungsfall erklären sollte. Die dann nötigen Strukturen waren in den vergangenen Jahren weitgehend ersatzlos gestrichen worden.

Das ist die Ausgangslage für die Bundeswehr, und da sind die politischen Debatten vor allem in der Ampelkoalition und besonders in der SPD noch gar nicht berücksichtigt. Spannend wird deshalb, welche Perspektive Pistorius bei einer für Mitte der Woche erwarteten Aussage zu diesem Thema eröffnen wird. Schlicht die alte Wehrpflicht wieder in Kraft zu setzen, wird das Problem nicht lösen – siehe die Aussagen des Ministers in München.

Nachtrag: Jetzt ist es offiziell – am Mittwoch wird Pistorius voraussichtlich erst den Verteidigungsausschuss des Bundestages unterrichten, dann ist nunmehr als Termin der Bundespressekonferenz angekündigt:

15:00 Uhr
Neuer Wehrdienst
Bundesminister der Verteidigung Boris Pistorius

(Archivbild April 2019: Reservisten trainieren den Einsatz der Panzerfaust – Ronald Nitschke/Reservistenverband Brandenburg)