Pistorius und die vermeintliche „Rückkehr zur Wehrpflicht“
Unter den Schlagzeilen des (heutigen) Mittwochs findet sich auch die Aussage, Verteidigungsminister Boris Pistorius habe eine Wiedereinführung der Wehrpflicht ins Gespräch gebracht. Ein kurzer Blick auf die tatsächliche Aussage.
Die Überschriften scheinen recht eindeutig. Wehrpflicht – Pistorius hält Wiedereinführung für möglich, heißt es beim Deutschlandfunk; Pistorius: Rückkehr zur Wehrpflicht möglich, schreibt das ZDF. Und der MDR titelt Pistorius hält Wiederbelebung der Wehrpflicht für möglich – um nur einige Beispiele zu nennen.
Das scheint, nun, eine Interpretationsfrage. Das Interview mit dem Minister, auf das sich diese Aussagen beziehen, steht in der Zeit und leider hinter Paywall (deshalb auch kein Link). Die entsprechende Passage, als vorletzte Frage in einem langen Gespräch, bezieht sich auf die knappe Personalstärke der Bundeswehr und Pistorius‘ Ankündigung, Strukturveränderungen der Streitkräfte zu prüfen. Darauf dann die Frage der Kollegen, ob es ein Comeback der Wehrpflicht geben könnte, auf die der Minister so antwortet:
Es war ein Fehler, sie abzuschaffen. Aber sie jetzt wieder einzuführen, stößt auf erhebliche verfassungsrechtliche und auch strukturelle Probleme. Die Diskussion darüber wird aber Fahrt aufnehmen, das denke ich schon.
Das ist, vollständig zitiert, die Aussage zur Wehrpflicht.
Nun ist schon richtig, dass Pistorius in seinen Antworten zuvor viel von seinen bisherigen Forderungen nach einer kriegstüchtigen Truppe und nach einem Mentalitätswandel in Deutschland gesprochen hat. Und die gewandelten Aufgaben der deutschen Verteidigungspolitik mit dem Vergleich beschrieben hat: 30 Jahre haben wir von der Friedensdividende profitiert. Jetzt aber geht es um Kapitalerhöhung.
Eine Forderung nach Wiedereinführung von oder Rückkehr zur Wehrpflicht findet sich da allerdings nicht.
(Archivbild: Pistorius bei der Generaldebatte zum Bundeshaushalt im Deutschen Bundestag in Berlin am 06.09.2023 – Florian Gärtner/photothek.de)
Mal abgesehen von der allgemeinen Diskussion über die Wehrplicht…ob und in wie weit sie gerecht wäre oder nicht, ab wann sie wieder aktiv ist. Durch wehrpflichtige kann das Wachpersonal gestellt werden…. Es wird immer gesagt LV/ BV..Ja, gut.aber was ist mit asymmetrischer Kriegsführung. Was ist, wenn kleinere Anschläge auf Kasernen durchgeführt werden. Wozu einen großen angelegte Krieg führen, wenn man durch Anschläge mehr erreichen kann. Beispiel: Über den Rhein hier eine Brücke zu beschädigen, die dann Jahrelang nicht genutzt werden kann, ist viel schlimmer für die Bevölkerung, als es einen Anschlag mit einem Toten gib. Das ist schnell vergessen. Aber wenn tausende Pendler 50 km Umweg fahren müssen, jeden Tag. das bleibt im Kopf. Somit müssten hunderte Soldaten nach einem Anschlag auf eine Kaserne den Wachdienst übernehmen. Wie lange soll denn das Personal aus anderen Standorten herkommen ? Das würde jetzt doch schon nicht klappen, Fazit.: Man braucht einfach wieder die Menge an Soldaten ,alleine für den Heimatschutz. Die Reserve kann das nicht leisten. Dazu braucht man eben die Wehrpflicht, um die Masse an Menschen in den Dienst zu bekommen.
Und mal abgesehen davon, der zilvile Arbeitsmarkt würde davon auch profitieren,wenn wieder mehr „Zivis“ in den Firmen Einzug halten würden
Die „Attraktivität“ des Wehrdienstes kann wenig mehr sein, als eine in der Regel kaum zureichende Kompensation für die gegenüber nicht gezogenen Personen erlittenen Lebensnachteile. Das liegt aber in der Natur der Sache. Eine gesetzlich (hier sogar grundgesetzlich) normierte Pflicht ist nunmal kein Handel, oder will am Ende noch jemand Tankcoupons fürs generelle Einhalten von Geschwindigkeitsbegrenzungen oder Überholverboten vorschlagen? So als „Attraktivitätssteigerung“ für die aus Autofahrersicht nicht so kommoden Regelungen in der StVO?
Jetzt mal ehrlich. Wie stellen sich manche Leute eigentlich eine nachhaltig organisierte und langfristig durchhaltefähige Landesverteidigung vor? Basteln wir uns die künftig nach dem morgendlichen Gesprächskreis durch gemeinsames Basteln mit grünem Karton und der flinken Flasche?
Oder, und einige Mitkommentatoren stellen es ja als Frage an die Gesellschaft in den Raum, wollen wir uns als Gesellschaft und unsere grundlegende Rechtsverfassung (mit allem was so dazugehört) eigentlich gar nicht mehr wirklich effektiv verteidigen? Sind dann Grundrechte, Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip eher so „Grundempfehlungen“ und „Staatsstrukturrichtlinien“?
Wer eine freiheitlich-demokratische Rechtsordnung will, der muss sie zur Not auch verteidigen wollen. Geht ohne nicht.
Nochmals, die Wehrpflicht ist durch einfache Gesetzesänderung wieder in Kraft zu setzen. Bestenfalls bestimmt man Übergangsfristen damit sich alle Beteiligten wieder darauf einstellen können.
Eine irgendwie geartete „Kompensation“ muss da nicht statt finden. Solange die Personalersatz Zahlen pro Quartal gehalten werden können kann man mehr oder weniger locker mit KDV Anträgen umgehen…
Dazu hier Mal eine kleine übersicht über KDV Anträge in der alt BRD …
Jahr Anträge insgesamt
1956–1961. 14.947
1962 4.489
1963 3.311
1964 2.777
1965 3.437
1966 4.431
1967 5.963
1968 11.952
1969 14.420
1977 69.969
1983 66.334
1989 77.400
1990 74.569
1991 151.212
Aus eigener Erinnerung. Morgens um 08:00 im KWEA gewesen. Um zehn nach acht wurde verkündet… „wer KDV Antrag stellen will, nimmt das Blatt hier mit und kann dann gehen.“ Zack stand ein Drittel des Raumes auf… draußen schien die Sonne.
Das war 2002… da brauchte die Bundeswehr eigentlich keine GWDLer mehr. Der gesamte Jahrgang 1985 wurde in NRW erst garnicht zur Musterung eingeladen.
Verweigern zuviele, muss man halt wieder strenger die Anträge prüfen… dann reicht ein einfaches… ich lehne Autorität ab vielleicht ehr nicht mehr. Oder Unis dürfen nur noch immatrikulieren wenn ein Bescheid vom Amt vorliegt das Mann…
a) Wehrdienst geleistet hat.
b) Zivildienst geleistet hat.
c) Ersatzdienst geleistet hat oder noch leistet.
d) vom Wehrdienstbefreit ist aus xy Gründen.
e) vom Wehr-& Zivildienst zurück gestellt wurde.
Ohne Bescheid gibt’s dann keinen Studienplatz oder darf kein Ausbildungsvertrag geschlossen werden und die Jobcenter können auch ganz flott die verfügbarkeit ihrer Volljährig gewordenen Kunden melden und die Weiterzahlung von Leistungen an den Bescheid vom Wehrersatzamt knüpfen.
Ich denke, dass Modell der Wehrpflicht aus den vergangenen Jahrzehnten würde unserer heutigen Zeit nicht mehr gerecht. Dieses war primär darauf ausgerichtet, eine hohe Anzahl von Soldaten für die LV/BV verfügbar zu halten. Daher auch die relativ lange Wehrpflichtzeit in den Zeiten des Kalten Krieges.
Aktuell sollte es aber darum gehen, unsere Gesellschaft resilenter gegen die Herausforderungen der Zukunft zu gestalten. Dazu zählt neben der äußeren Sicherheit auch:
– innere Sicherheit
– Gesundheitswesen
– Katastrophenschutz
– kritische Infrastruktur (Energie, Daten, Wasser, etc.)
– Versorgung mit Nahrungsmitteln und andere Waren
– etc.
Es kann aber nicht darum gehen, die jungen Menschen für ein Jahr zwangszuverpflichten, um die personellen Lücken zu füllen, die wir überall haben. Der Grundbetrieb muss auch ohne die auskommen. Sonst haben wir bald auch Grunddienst-Lehrer. :o)
Es sollte vielmehr darum gehen, eine personelle Reserve für echte Notfälle zu schaffen. Was für die Streitkräfte die Reservisten sind, wäre auch für andere Bereiche denkbar.
Es kommt wieder ein Virus um die Ecke, diesmal vielleicht mit einer höheren Todesrate als bei Corona (war ja schon schlimm genug)? Da wäre es gut, auf gut ausgebildete Reserve-Krankenpfleger und -innen zurück greifen zu können.
Wenn das nächste Hochwasser halbe Ortschaften verwüstet, sollte der Katastrophenschutz genug Manpower in der Hinterhand haben, um auch kurzfristig und durchhaltefähig Hilfe leisten zu können. Man kann ja nicht immer darauf vertrauen, dass es genügend Freiwillige gibt, die helfen und auch Hilfe organisieren.
Und auch die Bundeswehr braucht nicht Hunderttausende von Soldaten ständig im Dienst, sondern nur im Falle eines Falles.
Daher finde ich es sinnvoll, die jungen Leute für ein paar Monate in bestimmten Bereichen auszubilden (Militär, THW, Feuerwehr, Gesundheitsdienst, etc. – vielleicht auch bei der Polizei) und diese dann mit einer hochwertigen Inübungshaltung (1-2x im Jahr) für den Ernstfall vorzubereiten. So hält man die persönlichen Einschnitte klein und hätte trotzdem Reserven zur Verfügung. Wichtig ist die permanente Weiterbildung und Übung. Denn keinem nützt es, mit einem 20 Jahre altem Wissen in den Ernstfall geworfen zu werden.
@kuddel-fl sagt:
11.12.2023 um 13:08 Uhr
…Es kann aber nicht darum gehen, die jungen Menschen für ein Jahr zwangszuverpflichten, um die personellen Lücken zu füllen, die wir überall haben….
Genau so funktioniert Wehrpflicht. Die Rekruten werden ausgebildet und in IHRER VERWENDUNGSREIHE verwendet. Die länge der Wehrpflicht schwankte über die Jahrzehnte und Jahrhunderte. Heute sagt ihnen jeder 12 Monate sind Untergrenze damit erlerntes auch im Kopf bleibt. Es steht und fällt natürlich damit ob regelmäßig auch verpflichtend Reserveübungen abgehalten werden.
….Und auch die Bundeswehr braucht nicht Hunderttausende von Soldaten ständig im Dienst, sondern nur im Falle eines Falles….
Ganz genau im Fall der Fälle braucht man Ausgebildetes Personal. Israel ist ein gutes Beispiel. Da waren binnen 48h mehrere hunderttausend Reservisten in ihren Bereitstellungsräumen und auch die wurden meist erstmal wieder ausgebildet, im Sinne das man fast einen Monat von Morgens bis Abends drillte. Aber jeder von denen hatte eine Grundlage und das waren 3 Jahre Wehrdienst + regelmäßige Reserveübungen, in Israel meist etwa zwei bis vier Wochen pro Jahr.
Auch der Zivilschutz braucht Personal im Fall der Fälle… beim THW waren zu Wehrdienstzeiten 120h pro Jahr abzuleisten. Wer rechnen kann kommt auf etwa zwei Abende pro Monat.
Und der Zivi der dann im V-Fall als Hilfspfleger in ein Lazarett eingerufen werden konnte, ja auch der bräuchte etwas Ausbildung um auf seinen Posten zu sitzen.
Ohne eine essenziell Erhöhung des Wehretats wird sich so gut wie gar nicht finanzieren lassen. Mit Schulden und einem auf Kante genähten Etat lässt sich kein Staat machen. Wo sollen bitte das Material und Geld für so eine Mammutaufgabe herkommen?
Selbst wenn man auf diese Sonderschulden zurückgreift ist dieser Topf irgendwann auch leer und dann müsste der Wehretat erhöht werden. Da wieder gespart werden muss wird dies wohl nicht geschen.
Natürlich spielt auch die verfassungsrechtliche Seite eine Rolle. Aus welchem Grund soll wieder ein Zwangsdienst eingeführt werden?
@Thomas Melber: Die Anrechnung erfolgte a) juristisch sauber über die Wartezeit b) an manchen Unis / in manchen Bundesländern über grauzonigen Vorzug des Gedienten bei Notengleichheit in der Warteliste c) zusätzlich später nach dem Studium in Form einer Anrechnung auf das Besoldungsdienstalter bei Einstellung in den öffentlichen Dienst. Die Summe angerechnet aus Grundwehrdienst, Zeitsoldat und Reserveübungen hat mir bei Einstellung als Beamter ein nettes Gehaltsplus gegenüber anderen in der Einstellungskohorte gebracht. [Hatte dies so ähnlich schon einmal geantwortet, aber dieser Kommentar ging vermutlich verloren]
@Wandersmann sagt:
11.12.2023 um 16:50 Uhr
…Natürlich spielt auch die verfassungsrechtliche Seite eine Rolle. Aus welchem Grund soll wieder ein Zwangsdienst eingeführt werden?…
Durch den Angriff der Russischen Föderation auf die Ukraine und der wiederholt unverhohlen Drohungen gegen UNS UND UNSERE VERBÜNDETEN durch offizielle Vertreter der Russischen Föderation! Ist die Grundlage mehr als hinreichend gegeben. Verfassungsrechtlich hat und hatte das Bundesverfassungsgericht auch nie Probleme mit der Wehrpflicht, selbst 20 Jahre nach Ende des Ost-West Konflikts nicht. Lediglich mit der Wehrgerechtigkeit, da zum Schluss jeder der nicht wollte um die Pflicht herum kam. Mein älterer Bruder hat erst verweigert mit einem Mustertext, was ohne weitere Prüfung angenommen wurde. Dann den Zivildienst Jahre verschleppt und letztendlich sich mit einem Nachweis das er in der 10. Klasse genau eine Stunde bei einem Jugendpsychologen in Behandlung war auch um den Zivildienst gedrückt… war das erste Mal das ich einen Bescheid gesehen hab auf dem Bescheinigt wurde das eine „ernsthafte Zivildienst Beschädigung“ zu erwarten ist. Unter solchen Umständen hatte Karlsruhe natürlich die Wehrgerechtigkeit in Zweifel gezogen.
@Wandersmann: Die Wehrpflicht hat Bestand! Lesen Sie Artikel 12a Grundgesetz! Da steht das alles immer noch drin. Die Durchführung ist zwar derzeit ausgesetzt, aber es wäre gerade keine „Wiedereinführung“, wenn man die verfassungsrechtlich normierten Dienstpflichten nun wieder durchführte.
@Nur so:
Da hier weder PolBil-Unterricht noch verfassungsrechtliches Seminar ist, belasse ich es unter Rücksicht auf den Hausherrn bei einem schlichten „Grundgesetz sagt: Nein!“ und einigen allgemeinen Ausführungen.
Die Bewachung von zivilen Objekten durch Soldaten geht wohl eher im Spannungs- oder Verteidigungsfall. Zur Vermeidung von Ungemach für Pendler in jenem Fall dann doch aber eher nicht. Und dass gewisse Branchen sich über billige Zivis freuen, mag ja sein, löst aber z.B. die gesellschaftlich hausgemachte Pflegemisere auch nicht. Und ist schon gar keine Rechtfertigung für eine Wiederaufnahme der Wehrpflicht.
Im Gegenteil. Die Ersatzdienste sind lediglich der Reflex aus der Verfassungsbestimmung dass man zum Dienst an der Waffe gegen sein Gewissen nicht gezwungen werden darf, um dann aber die Gerechtigkeit unter den Dienstpflichtigen herzustellen.
Die eindeutige Uneindeutigkeit des Ministers spiegelt das Meinungsbild in der Regierung, Teilen der militärischen Führung sowie der Gesellschaft wieder. Man will nicht. Dazu werden verschiedene Gründe genannt. Letztlich scheitert es am Willen. Am Willen Verantwortung für den Fortbestand Deutschlands und auch seiner Partner zu übernehmen. Dieser Befund macht nachdenklich, wofür wir eigentlich keine Zeit mehr haben, denn die Bedrohung ist da und sie wächst. Das ist jedem klar, der nicht den Kopf in den Sand steckt. Heute die Ukraine, morgen Moldawien dann das Baltikum usw.