Northern Coasts 2023: USA demonstrieren Präsenz, Rot vs. Blau unter deutscher Führung (m. Nachtrag)

Mit ein bisschen Verspätung: Am vergangenen Montag habe ich einen Einblick in die Übung Northern Coasts in der mittleren Ostsee vor Lettland bekommen – die versprochene Geschichte dazu:

Eine gute halbe Stunde dauert der Flug von der lettischen Hauptstadt Riga bis kurz vor die Küste bei Ventspils in der Ostsee. So schnell geht das nur, weil die U.S. Marines ihre Tiltrotor-Flugzeuge vom Typ Boeing MV-22 Osprey geschickt haben, die die Start- und Landefähigkeiten eines Hubschraubers mit der Geschwindigkeit eines Flugzeugs kombinieren. Die Ospreys, die mehrere Admirale und Generale auf das US-Landungsschiff Mesa Verde bringen, haben in diesem Moment ebenso symbolische Bedeutung wie die Anwesenheit des Schiffes selbst: Das größte und wichtigste NATO-Mitglied zeigt unverändert Präsenz auch zur See an der Nordostflanke der Allianz.

Der Befehlshaber der Flotte, Vizeadmiral Frank Lenski, l., nach der Landung auf der Mesa Verde

Dass bei der Marineübung Northern Coasts in diesem Jahr das US-Kriegsschiff Gastgeber für den Besuchertag mit hochrangigen Gästen (im Militärjargon: Distinguished Visitors Day) ist, hat eben nicht nur mit der Größe des Docklandungsschiffs zu tun. Die US-Marine, regelmäßiger Gast bei Northern Coasts, stellte mit ihrer eingeschifften Marineinfanterie eine wesentliche Fähigkeit für das Szenario, das zur Übung gehört: Die Möglichkeit, Kampftruppen an einen beliebigen Ostseestrand anzulanden.

Das hatten die U.S. Marines in den Tagen zuvor geübt, zusammen mit rund 60 Soldaten des Seebataillons der Bundeswehr und italienischen Soldatinnen (ja, die waren auch dabei) und Soldaten der Marineinfanteriebrigade San Marco. Dafür war die Mesa Verde eigens aus ihrem aktuellen Verband, der Bataan Amphibious Ready Group, herausgelöst und zur der Übung in die Ostsee geschickt worden. Ich weiß nicht, wie Sie das hinbekommen haben, lobte der Exercise Director, der deutsche Flottillenadmiral Stephan Haisch, den Kommandeur des U.S. Marine Corps in Europa und Afrika, Generalmajor Frank Sofge.

Der Commander U.S. Marines Europe&Africa, Generalmajor Robert Sofge, r., im Gespräch mit einem Scharfschützen des deutschen Seebataillons
U.S. Marines an Bord der Mesa Verde

Die Distinguished Visitors – neben Marines-Kommandeur Sofge und dem deutschen Befehlshaber der Flotte, Vizeadmiral Frank Lenski, waren unter anderem der stellvertretende Kommandeur der französischen Atlantikflotte Konteradmiral Jean-Marin D’Hebrail und der italienische Marineinfanterie-Kommandeur Konteradmiral Massimiliano Grazioso mit an Bord der Mesa Verde gekommen – sahen an diesem Tag zwar nicht den Einsatz  ihrer Marineinfanterie. Dafür ein wenig U-Boot-Jagd per Hubschrauber, die Seebetankung von gleich zwei Fregatten – der niederländischen Tromp und der französischen Bretagne vom schon etwas älteren deutschen Tanker Spessart – und die kontrollierte Sprengung einer Seemine vom deutschen Tauchereinsatzboot Bad Rappenau.

Der Caïman (NH90)-Bordhubschrauber der französischen Fregatte Bretagne mit Tauchsonar

Die Profis wussten da schon, dass der scharfe Teil der Übung erst danach richtig losgehen würde. Free Play, eine frei laufende Übung anhand der Vorgaben aus dem deutschen Kommando-Gefechtsstand im knapp 1.000 Kilometer entfernten Rostock, würde es erst anschließend geben. Entlang eines Szenarios, dass sich spätestens seit der russischen Invasion der Ukraine im vergangenen Jahr wieder an Blau gegen Rot orientiert – an zwei gleichwertigen Gegnern und an dem Angriff auf ein NATO-Mitglied, den es abzuwehren gilt.

Blick aus einem Osprey auf die dänische Fregatte Nils Juel

Mit einer neuen Bedrohungswahrnehmung sind auch einige Neuerungen gegenüber den früheren Übungen bei Northern Coasts verbunden. Die Führung aus dem entfernten Rostock via Satelliten-Kommunikation – und im Notfall, sagt Übungsdirektor Haisch, auch per Funkfernschreiben – ist eine davon. Erstmals wird nach Angaben der Deutschen Marine auch das verschlüsselte Netzwerk der NATO für die Kommunikation genutzt – auch wenn es keine NATO-Übung ist. Und eben: die Überlegenheit der eigenen Truppe ist nicht garantiert. Rot und Blau sind, so die Theorie, etwa gleich stark; dafür wurden die rund 30 Schiffe und Boote in zwei Gruppen aufgeteilt.

Dabei kämpfen, fiktiv, auch zwei deutsche Kommandeure und Fregatten gegeneinander: Flottillenadmiral Thorsten Marx, Kommandeur des maritimen Teils der NATO Very High Readiness Joint Task Force (VJTF) mit der Fregatte Hessen als Flaggschiff als Kommandeur der blauen Kräfte – und auf der Gegenseite Fregattenkapitän Jan Fitschen auf der Fregatte Hamburg als Chef von Rot.

Mit der Übung, hatte Marineinspekteur Jan Kaack zuvor betont, sei auch ein klares Signal der Wachsamkeit an Russland verbunden. Auch wenn das Übungsgeschehen in der mittleren Ostsee eben nicht vor der russischen Exklave Kaliningrad stattfand.

Dass die Russen Northern Coasts natürlich dennoch unter Beobachtung haben, ist den Beteiligten klar. Ein russisches Aufklärungsschiff sei gesichtet worden, und bisweilen habe es auch nahe Überflüge russischer Flugzeuge gegeben, sagt Übungsdirektor Haisch. Auch die Alarmübung russischer Fregatten sei als Signal zu verstehen gewesen, allerdings seien alle Begegnungen bislang routiniert und sicher abgelaufen. Er erwarte keine Eskalation von russischer Seite.

Für den deutschen Flottillenadmiral und seine Teilstreitkraft insgesamt geht es bei Northern Coasts aber nicht nur um die Übung selbst, sondern auch um ein für die Deutsche Marine wichtiges Projekt: Mit einer erfolgreichen Übungssteuerung will sie unter Beweis stellen, dass ihr DEU MARFOR in Rostock als NATO-Kommando für den Ostseeraum von der Allianz in die Kommandostruktur eingebaut wird. Darum bewirbt sich allerdings auch Polen – vielleicht beschränkte sich deshalb auch die polnische Präsenz beim Tag in See auf der Mesa Verde auf den polnischen Brigadegeneral Bogdan Rycerski, Stabschef des Multinationalen Korps in Stettin und als Heeresoffizier nicht der Ansprechpartner für Maritimes.

Für Haisch steht aber erst noch ein anderer Schritt an: Direkt nach der Übung rückt der 56-jährige am 21. September vom Stellvertreter zum Kommandeur von DEU MARFOR auf. Und, so verriet sein Chef Lenski beim Besuch von Northern Coasts, erhält dann seinen zweiten Stern.

Update: Die Übung wurde wegen der schlechteren Wetterbedingungen am (heutigen) Mittwoch vorzeitig beendet, wie die Marine mitteilte:

Rund 40 Stunden früher als geplant konnte die Übung Northern Coasts 23 heute erfolgreich beendet werden.
„In der Freeplay-Phase der Übung konnten alle beteiligten Einheiten, trotz teilweise schlechter Wetterbedingungen, die Ausbildungserfolge der ersten Manöverwoche vertiefen und die operativ-taktische Zusammenarbeit auf Verbandsebene deutlich verbessern. Als Exercise Director kann ich schon heute sagen: Alle Teilnehmer haben großen Nutzen für die eigene Einsatzbereitschaft sowie das Zusammenwirken im multinationalen Verbund aus NOCO 23 gezogen. Ich bin mit den Ergebnissen sehr zufrieden“, so Flottillenadmiral Stephan Haisch. Auch der Stab DEU MARFOR in Rostock hat seine Führungsfähigkeit erfolgreich unter Beweis stellen können. Die Deutsche Marine hat damit gezeigt, dass sie bereit und in der Lage ist, mehr Führungsverantwortung im Ostseeraum zu übernehmen.
Das Manöver im Seegebiet vor den Küsten Estlands und Lettlands ist laut Haisch zudem durch die russische Marine wahrgenommen und beobachtet worden: „Insgesamt haben sich die russischen Schiffe und Flugzeuge wie erwartet verhalten, es gab keinerlei Provokation oder Eskalation. Wir haben unsere Einsatzbereitschaft demonstriert und wir waren wachsam. Ich denke, dass die russische Marine dies sehr wohl wahrgenommen hat.“
Angesichts der positiven Bilanz der Übung und des weiterhin schlechten Wetters im Seegebiet hat Flottillenadmiral Haisch sich entschlossen, die Übung 40 Stunden früher als geplant zu beenden, nicht zuletzt um Personal und Material zu schonen.

Nachtrag 21. September: Die Hessen hat technische Probleme:

Am Freitag, den 22. September 2023 gegen 7 Uhr, wird die Fregatte „Hessen“ für einen kurzen Instandsetzungsstop im Marinearsenal Rostock festmachen.
Grund für den Stop ist der Austausch eines Sensorkopfes der Multisensorplattform. Dieser wird voraussichtlich nachmittags beendet sein, woraufhin die „Hessen“ ihren Auftrag als Flaggschiff der Very High Readiness Joint Task Force (VJTF M) fortsetzen wird.

(Foto oben: In Kiellinie – die deutsche Fregatte Hessen, die französische Fregatte Bretagne und die dänische Fregatte Niels Juel)