Jetzt offiziell: USA liefern Streumunition an die Ukraine

Die USA haben – wie erwartet – angekündigt, Streumunition an die Ukraine zu liefern. Das kündigten das US-Verteidigungsministerium und der Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden an. Diese Munition ist wegen der Gefährdung von Zivilisten durch Blindgänger umstritten und durch eine internationale Konvention geächtet – allerdings haben weder die Ukraine noch die USA diese Konvention unterschrieben. Ebensowenig Russland, das bereits Streumunition in der Ukraine einsetzte. Die Bundesregierung reagierte zurückhaltend auf die US-Absicht, verurteilte sie aber nicht.

Die Freigabe von Artilleriegranaten, die nach dem Abfeuern Sub-Munition freisetzt, aus Beständen der US-Streitkräfte an die Ukraine war bereits seit Tagen erwartet worden. Am (heutigen) Freitag billigte der US-Präsident die Abgabe eines neuen Waffenpakets an die ukrainischen Streitkräfte, das auch die so genannte Dual-purpose improved conventional munition (DPICM) enthält. Die 155mm-Granaten werden von Geschützen wie der M777 der US-Armee verschossen.

Die Mitteilung des US-Verteidigungsministeriums:

Today, the Department of Defense (DoD) announced additional security assistance to meet Ukraine’s critical security and defense needs. This authorization is the Biden Administration’s forty-second drawdown of equipment from DoD inventories for Ukraine since August 2021. This package will provide Ukraine with additional artillery systems and ammunition, including highly effective and reliable dual-purpose improved conventional munitions (DPICM), on which the Administration conducted extensive consultations with Congress and our Allies and partners. It also includes additional air defense munitions, armored vehicles, anti-armor weapons, and other equipment to help Ukraine protect its people and counter Russia’s ongoing war of aggression.
The capabilities in this package include:
Additional munitions for Patriot air defense systems;
AIM-7 missiles for air defense;
Stinger anti-aircraft systems;
Additional ammunition for High Mobility Artillery Rocket Systems (HIMARS);
31 155mm Howitzers;
155mm artillery rounds, including DPICM, and 105mm artillery rounds;
32 Bradley Infantry Fighting Vehicles;
32 Stryker Armored Personnel Carriers;
Mine clearing equipment;
Tube-Launched, Optically-Tracked, Wire-Guided (TOW) missiles;
Javelin and other anti-armor systems and rockets;
Precision aerial munitions;
Penguin Unmanned Aerial Systems;
27 tactical vehicles to recover equipment;
10 tactical vehicles to tow and haul equipment;
Demolitions munitions and systems for obstacle clearing;
Small arms and over 28 million rounds of small arms ammunition and grenades;
Spare parts and other field equipment.

Die Ukraine hatte bereits seit längerem um die Lieferung von Streumunition gebeten. Unter anderem hatte das Land im Januar versucht, ehemals deutsche Streumunition aus früheren Bundeswehrbeständen zu erhalten, die Deutschland an Estland abgegeben hatte. Die Bundesregierung hatte diese Weitergabe jedoch abgelehnt, weil Deutschland die so genannte Oslo-Konvention, das Übereinkommen über Streumunition, unterzeichnet hatte und sich damit an das Verbot von Herstellung, Einsatz und Weitergabe gebunden fühlt.

Die völkerrechtliche – wenn auch nicht durchgreifend gültige – Ächtung von Streumunition kam vor allem durch die Auswirkungen zustande, die nicht explodierte Blindgänger unter den einzelnen Sprengsätzen auf Unbeteiligte haben. In zahlreichen Konflikten explodierten sie oft Jahre später und verletzten oder töteten Zivilisten. Die USA argumentieren bei ihrer angekündigten Lieferung allerdings damit, das die Blindgängerquote (dud rate) bei ihrer Munition bei 2,35 Prozent liege und damit weit unter den Fehlerraten der Streumunition, die Russland in der Ukraine einsetze.

Im andauernden russischen Angriffskrieg begründet die Ukraine ihren Wunsch nach dieser umstrittenen Munitionsart damit, dass nur so die russischen Streitkräfte im Land effektiv bekämpft werden könnten. Hinzu kommt offensichtlich die für das ukrainische Vorgehen zu langsame Lieferung konventioneller Munition – ein Grund, den auch US-Sicherheitsberater Jake Sullivan öffentlich nannte:

Jake Sullivan, the president’s national security adviser, told reporters at the White House that he would “leave it to the Pentagon to make a formal announcement” later on Friday afternoon, but said that the administration would continue arming Ukraine as stockpiles of conventional artillery dwindle. He defended the use of the weapons by saying that Russia had been using them since the beginning of the war and Ukraine was running out of artillery rounds.

Nach Darstellung des Pentagon akzeptierte die Ukraine Einschränkungen für den Gebrauch der Munition:

Nach Angaben der US-Regierung (s. in der Pentagon-Mitteilung oben) war die Lieferung der Streumunition mit den Verbündeten abgesprochen – also sehr wahrscheinlich auch mit Deutschland. Das erklärt unter anderem, warum sich Bundeskanzler Olaf Scholz bereits am vergangenen Dienstag zurückhaltend zu dem Thema geäußert hatte: Auf alle Fälle weiß ich genau, dass sich alle Entscheidungen, die die amerikanische Regierung vorbereitet, entlang der internationalen Regeln, die wir alle miteinander vereinbart haben, bewegen werden.

Offiziell ist der Verschuss der DICPM-Grananten mit der Panzerhaubitze 2000, die an die Ukraine geliefert wurde, nicht vorgesehen. Allerdings passt das Kaliber – als NATO-Standardmaß – auch in diese Geschütze aus deutscher Fertigung. Die Munitionsart ist zwar im Waffenrechner der Haubitze nicht hinterlegt; die ukrainischen Streitkräfte hatten jedoch bereits im vergangenen Jahr auch den Einsatz eigentlich nicht kompatibler Munitionsarten verschiedener NATO-Länder mit diesem Geschützen technisch umgesetzt.

Am (heutigen) Freitag, vor der offiziellen Bekanntgabe in Washington, äußerten sich Sprecher der Bundesregierung ebenfalls dazu – wie zuvor der Kanzler sehr zurückhaltend. Die Aussagen in der Bundespressekonferenz von Regierungssprecher Steffen Hebestreit und Oberstleutnant Mitko Müller vom Verteidigungsministerium:

Frage: Eine Frage an die Bundesregierung. Die amerikanische Regierung steht offenbar kurz davor, Streumunition an die Ukraine zu liefern. Wie ist dazu die Position der Bundesregierung? Ändert das etwas an der Unterstützung der Ukraine?

Hebestreit: Die Bundesregierung ist dem Übereinkommen über Streumunition im Jahr 2010 beigetreten. Ich glaube, damit ist die Haltung der Bundesregierung, was diese Waffen betrifft, ausreichend dokumentiert.
Anders als die Bundesrepublik Deutschland gehören die USA und auch die Ukraine nicht dem Osloer Übereinkommen über Streumunition an. Wir sind uns sicher, dass sich unsere US-Freunde die Entscheidung über eine Lieferung entsprechender Munition nicht leicht gemacht haben. Wir haben es hier mit einer besonderen Konstellation zu tun. Die Ukraine setzt ihre Munition zum Schutz der eigenen Zivilbevölkerung ein. Es geht um einen Einsatz durch die eigene Regierung zur Befreiung des eigenen Territoriums. Wir sollten uns also auch noch einmal vergegenwärtigen, dass Russland in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine bereits in großem Umfang Streumunition eingesetzt hat.

Zusatzfrage: Eine Nachfrage an das Verteidigungsministerium aus militärischer Sicht: Welchen Nutzen hat diese Munition?

Müller: Ich mag mich hier nicht zu Spekulationen über den Nutzen dieser Art von Munition äußern. Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Sie wissen, dass wir diese Munition nicht einsetzen.
Für die Bundeswehr kann ich nur hinzufügen, dass wir bereits 2001 begonnen haben, die während des Kalten Krieges umfangreich vorhandenen Bestände an Streumunition umweltgerecht zu entsorgen und die Vernichtung dieser Munition bereits im November 2015 abgeschlossen haben, zwei Jahre eher, als es das Abkommen vorsieht. Zu weiteren Punkten dieser Art Munition habe ich mich nicht zu äußern.

Frage: Herr Hebestreit, Sie haben gesagt, dass die Position der Bundesregierung gegenüber dieser Art von Munition ablehnend ist. Setzt sich die Bundesregierung für eine weltweite Ächtung dieser Munition ein?

Hebestreit: Ich glaube, ich möchte mich dazu jetzt nicht weiter einlassen, weil das sofort in einen Sachzusammenhang zu möglichen aktuellen Entscheidungen der US-Administration gestellt werden könnte. Dazu habe ich mich ja eben ausführlich geäußert. Dass die Bundesregierung seit mehr als 13 Jahren diesem Übereinkommen angehört, zeigt unsere Position in dieser Frage.

Zusatzfrage: Aber deshalb frage ich ja. Sieht sich die Bundesregierung hier in der Zwickmühle? Auf der einen Seite lehnt sie diese Art von Munition selbst ab, und auf der anderen Seite wird sie von einem Verbündeten an einen anderen Verbündeten geliefert.

Hebestreit: Ich sehe die Zwickmühle nicht. Wir verfügen über solche Waffen nicht. Wir haben internationale Verträge abgeschlossen, dass wir diese Waffen nicht benutzen und auch nicht haben. Insofern stellt sich für uns die Frage nicht.

Frage: Ich würde gerne nachfragen, Herr Hebestreit, weil ich Ihrer Argumentation ein bisschen entnommen haben, dass der Hauptkritikpunkt an dieser Munition ist, dass sie wegen der vielen Blindgänger die Zivilbevölkerung in Gefahr bringt. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann ist es eine Entscheidung der Ukraine selber, ihre eigene Bevölkerung in Gefahr zu bringen, und der Nutzen dieser Lieferung ist dann aus Ihrer Sicht größer, weil der Schaden, der zum Beispiel durch die russische Invasion bei der Zivilbevölkerung angerichtet wird, noch größer als der durch die Munition ist.

Hebestreit: Ich glaube, ich muss da auf einen der berühmten (Sätze) aus dem BPK-Bingo kommen: Meine Worte habe ich sehr wohl gewählt. Wie Sie sie interpretieren, bleibt Ihnen überlassen.

(Wird ggf. ergänzt)

(Archivbild 2016: Artilleriegranaten der US-Armee vom Typ M864 im Kaliber 155mm „Base Burn Dual Purpose Improved Conventional Munitions“ DPICM auf einem Übungsplatz in Südkorea –  U.S. Army photo by 2nd Lt. Gabriel Jenko)