Woche des Missvergnügens: Alte Kanonen, neue Vorwürfe und ein Admiral (Nachtrag)

Vor mehr als einem halben Jahrhundert wurden in der Sowjetunion Haubitzen des Typs D-30 entwickelt, vor mehr als 30 Jahren erbte die Bundesrepublik mit Übernahme der Nationalen Volksarmee der DDR etliche dieser 122mm-Geschütze. Das alte Kriegsgerät befeuert in diesen Tagen einen bizarren Streit über die Frage, ob Deutschland mit der Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine aus der Einheit des Westens ausschert – in einer Woche, die mit Vermeidung deutschen Luftraums durch britische Militärtransporte, der wieder aufgewärmten Lieferung eines Ausbildungszentrums an Russland und am Ende den Worten eines deutschen Admirals auf ein kommunikatives Desaster für Berlin hinausläuft.

Auf der diplomatischen Ebene, so wirkte es jedenfalls, vermochte die deutsche Außenpolitik beim Thema Russland und Ukraine in dieser Woche dabei durchaus zu punkten. Nicht zuletzt die neue Außenministerin Annalena Baerbock erntete Respekt, wenn nicht sogar Bewunderung für ihr souveränes Auftreten beim schwierigen Antrittsbesuch in Moskau und ihren Umgang als Neuling mit dem erfahrenen russischen Außenminister Sergej Lawrow.

Innerhalb der westlichen Länder, oder vielleicht auch: in der NATO wurde und wird dagegen die harte Haltung Deutschlands, keine Waffen an die Ukraine zu liefern, zu einem Streitpunkt. Und jedes Verhalten Berlins, selbst wenn die neuen Ampel-Regierung für eine Entwicklung nicht die Verantwortung trägt, wird aus dieser Perspektive gesehen – und negativ bewertet.

Das begann schon Anfang der Woche. Kaum hatte der britische Verteidigungsminister Ben Wallace am vergangenen Montagnachmittag im Unterhaus in London angekündigt, sein Land werde die Ukraine mit Panzerabwehrwaffen unterstützen, starteten vom Stützpunkt Brize Norton die ersten C-17-Transporter der Royal Air Force mit der brisanten Ladung, schultergestützen Raketen (KORREKTUR: nicht Lenkraketen) des Typs Next Generation Light Anti-Tank Weapon (NLAW). Allerdings nahmen die Maschinen nicht den direkten Kurs auf Kiew, über die Benelux-Staaten und Deutschland: Sie flogen hinaus auf die Nordsee, um dann nördlich von Sylt in den dänischen Luftraum einzuschwenken – und dann über Dänemark und Polen die Ukraine anzufliegen.

Eine britische C-17 vermutlich mit den Waffen an Bord am 18.1.2022 auf dem Weg über Dänemark und Polen (oben), während ein britisches Aufklärungsflugzeug ohne Fracht (unten) den direkten Kurs über Deutschland nimmt – Grafik ADSBexchange.com

Der Umweg fiel natürlich sofort auf, in Großbritannien wie auch in den anderen westlichen Ländern. Und sofort kam, bis hin zur renommierten Nachrichtensendung NewsNight der BBC, der Verdacht auf: Die Vermeidung Deutschlands sei nötig geworden, weil Deutschland nicht nur selbst die Lieferung von Waffen an die Ukraine verweigere – sondern auch die Lieferungen von Verbündeten blockieren wolle und seinen Luftraum dafür nicht freigegeben habe.

Erst am Dienstagmorgen beeilte sich das deutsche Verteidigungsministerium zu versichern, von einer Blockade könne keine Rede sein: Großbritannien habe schlicht nicht den nötigen Antrag für den Transport explosiver Fracht quer über Deutschland gestellt. So ähnlich erläuterte das auch Ministeriumssprecher Christian Thiels dann am Mittwoch:

Die britische Regierung hat keinen Antrag auf Überflug gestellt. Es gibt eine grundsätzliche Erlaubnis für militärische Flüge der Verbündeten auch über deutsches Staatsgebiet. Aber bei dem Transport von ganz bestimmten Gütern – zum Beispiel Explosivstoffen, Waffen, Sprengstoff etc. – muss eine Sondergenehmigung erteilt oder auch angefordert werden. Das hat einen ganz einfachen Grund: Wenn so ein Flugzeug vielleicht einmal eine Notlandung macht oder abstürzt, sollten die Rettungskräfte ziemlich genau wissen, mit was sie es dabei zu tun haben.
Die Briten haben aber einen solchen Antrag gar nicht gestellt. Ich kann über die Gründe der Briten nichts sagen. Man müsste in London nachfragen. Ich würde einmal als Idee in den Raum stellen, dass man sich einmal die Karte von Europa anguckt und dann sieht, über welche Länder sie hätten fliegen müssen, um den direkten Weg zu machen. Dann müsste man sich vielleicht auch einmal die Mühe machen, zu schauen – ich denke zum Beispiel an die Beneluxstaaten -, welche Regelungen herrschen. Auch da müssten dann möglicherweise solche Genehmigungen eingeholt werden. Ist es schlicht vielleicht eine Frage der Praktikabilität und der Schnelligkeit gewesen, die die Briten zu diesem Weg bewogen hat? Das ist von meiner Seite aus aber nicht belastbar. Das müsste man tatsächlich in London nachfragen. Sie machen ihre Flugrouten so, wie sie für sie am praktischsten und sinnvollsten sind.

Das lässt allerdings weiterhin die Frage offen, warum das britische Verteidigungsministerium für die Flüge, die die Woche über weitergingen, nie einen solchen Antrag stellte. Aus London gab es dazu auch wenig erhellendes – außer der Ansage, von einer verweigerten Überfluggnehmigung durch Deutschland könne nicht die Rede sein. Ob sich die Royal Air Force von der Begrenzung der nötigen Genehmigungen auf Dänemark und vor allem Polen eine schnellere Abfertigung erhoffte, ob aus den Niederlanden ablehnende Signale kamen oder ob schlicht auf Arbeitsebene vereinbart wurde, dieses Problem bitte nicht auf den Tisch zu bringen, bleibt also offen.

Zwischendurch, das Narrativ Deutschland blockiert ist einfach zu schön, kam in den USA eine alte Geschichte wieder hoch: Süffisant verwiesen einige Medien auf die – bereits 2017 veröffentlichte – Meldung, Deutschland habe ja mit der Lieferung eines High-Tech-Zentrums für die Ausbildung russischer Truppen zu deren Kampfkraft beigetragen. Nur am Rande, wenn überhaupt, wurde dabei allerdings erwähnt, dass der damalige SPD-Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel die Lieferung bereits 2014 gestoppt hatte.

Der eigentliche Aufreger zündete dann allerdings mit Verzögerung erst kurz vor dem Wochenende. So hatte der Beauftragte für internationale Zusammenarbeit im Verteidigungsministerium Estlands, Peeter Kuimet, bereits Anfang Januar von geplanten Lieferungen der 122mm-Haubitzen aus den Beständen des baltischen Landes an die Ukraine berichtet. Allerdings, so sagte Kuimet damals schon, sei dafür die Genehmigung der Herkunftsländer nötig.

Und die sind, rechtlich gesehen, nicht etwa die Sowjetunion als Herstellerland oder deren Rechtsnachfolger Russische Föderation, sondern Deutschland und Finnland. Die Bundesrepublik hatte die von der NVA übernommenen Geschütze in den 1990-er Jahren an Finnland weitergegeben, wie üblich mit der Vorgabe, eine Weiterlieferung genehmigen zu lassen. Ebenso verfuhr dann Finnland 2009 bei der Weitergabe an Estland: Berlin und Helsinki müssten also für die Lieferung nach Kiew grünes Licht geben.

Nun ist dieses Verfahren, auch wenn es nach Jahrzehnten für noch älteres Material vielleicht merkwürdig wirkt, nicht ungewöhnlich. So hatte die Bundesregierung auch erst nach Prüfung 2015 die Lieferung von 280 Schützenpanzern des russischen, zuvor sowjetischen Typs BMP-1 an den Irak gebilligt: Das Gerät stammte ebenfalls aus Beständen der Nationalen Volksarmee der DDR, wurde von Deutschland an Schweden abgegeben, von Schweden an ein Unternehmen in Tschechien verkauft, das sie wiederum für den Kampf gegen den Islamischen Staat an den Irak liefern wollte – und jeder dieser Schritte musste mit einer deutschen Genehmigung abgesichert werden.

Der Genehmigungsprozess für die Lieferung der Haubitzen aus Estland zieht sich also schon eine Weile hin, wurde dann aber erst in der ohnehin laufenden Debatte dieser Woche zum Thema. So hatte das US-Magazin Politico im Zusammenhang mit den – von den USA zu genehmigenden Lieferungen von Javelin-Panzerabwehrraketen ebenfalls aus Estland – auch am Rande  das Problem dieser Geschütze erwähnt. Richtig Fahrt bekam es aber am (gestrigen) Freitag mit einem Bericht des Wall Street Journal unter der Überschrift Germany Blocks NATO Ally From Transferring Weapons to Ukraine:

Germany is blocking North Atlantic Treaty Organization ally Estonia from giving military support to Ukraine by refusing to issue permits for German-origin weapons to be exported to Kyiv as it braces for a potential Russian invasion.
Unlike the U.S., Britain, Poland and other allies, the German government has declined to export lethal weapons directly to Ukraine.
In the case of Estonia, a small country on Russia’s northern border, Berlin is also refusing to allow a third country to send artillery to Ukraine because the weaponry originated in Germany, according to Estonian and German officials.

Zuvor hatte in Berlin für das Verteidigungsministerium Kapitän z.S. David Helmbold in der Bundespressekonferenz auf meine Frage zwar bestätigt, dass der Genehmigungsprozess noch laufe – aber keinen Zeitrahmen dafür in Aussicht gestellt:

Frage: Ich komme leider auch noch einmal zum Stichwort der Waffenlieferungen. Es gab, auch wenn es schon ein paar Tage her ist, die Aussage aus dem Baltikum – ich meine, aus Estland -, dass die geplante Lieferung von Waffen aus diesen baltischen Ländern an die Ukraine deswegen hänge, weil für Komponenten oder Systeme eine deutsche Zustimmung erforderlich sei. Hat jemand einen Überblick darüber, ob und, wenn ja, wie viele Verfahren noch anhängig sind oder ausstehen, hinsichtlich der keine entsprechende Bewilligung beziehungsweise Entscheidung getroffen wurde?

SRS’in Hoffmann: Das ist eine Frage an Sie.

Helmbold: Ja, vielleicht in Teilen an mich. – Ich habe keinen Überblick über Systeme. Was ich Ihnen aber bestätigen kann, ist, dass es eine Anfrage der estnischen Regierung gegeben hat, und zwar mit Blick auf die Lieferung beziehungsweise Weitergabe von Haubitzen. Zu dem Thema befinden wir uns im Moment in der Ressortabstimmung, und auch die Abstimmung mit Finnland darüber ist geplant.

Zusatzfrage: Gibt es einen Zeitrahmen? Ich glaube nämlich, diese Anfrage läuft schon seit etlichen Wochen.

Helmbold: Einen konkreten Zeitrahmen kann ich Ihnen nicht nennen. Wir stimmen das, wie gesagt, ressortübergreifend ab. Ich kann im Moment auch nicht darüber spekulieren, was der Inhalt oder Ausgang dieses Verfahrens sein wird. Aber ich kann Ihnen eben sagen, dass die Anfrage eingegangen ist und sich bei uns in der Ressortabstimmung befindet.

Das, wiederum, bedient nun auch die Erzählung von den blockierenden Deutschen – obwohl unklar ist, welche Rolle Finnland dabei spielt und ob aus Helsinki grünes Licht absehbar ist. Mit anderen Worten: Ob es an Deutschland und seinen langen Entscheidungswegen liegt.

Und gar keine Rolle mehr spielt die Frage, ob diese 42 alten Kanonen über den symbolischen Wert der Unterstützung für die Ukraine hinaus tatsächlich einen Gefechtswert haben. Oder ob sie als nicht besonders weitreichende gezogene Haubitzen, die im Unterschied zu selbstfahrenden Geschützen keinen schnellen Stellungswechsel erlauben, für einen Gegenangriff auf eine erkannte Feuerstellung nicht eher eine leichte Beute wären.

Allerdings: Wenn der Ruf erstmal ruiniert ist, ist dagegen schwer anzukommen. So wurde auch das Interview der Welt (Ausgabe am heutigen Samstag, Link aus bekannten Gründen nicht) mit Verteidigungsministerin Christine Lambrecht zu diesem Thema international mit ein wenig, nun ja, fast Häme aufgenommen. Ihre Aussage

Ich kann verstehen, dass man die Ukraine unterstützen will. Aber genau das machen wir schon. So wird im Februar ein komplettes Feldlazarett übergeben, inklusive der nötigen Ausbildung, alles von Deutschland mit 5,3 Millionen Euro kofinanziert. … Wir müssen jetzt alles tun, um zu deeskalieren. Waffenlieferungen wären da aktuell nicht hilfreich – das ist Konsens in der Bundesregierung.

passte dann wieder genau ins Narrativ: Keine Waffen. Aber ein Feldlazarett. Dass die Ministerin auch noch diesen veralteten Begriff   für ein Rettungszentrum mit moderner Technik gebrauchte, machte es nicht besser. Auch nicht, dass aus militärischer Sicht vermutlich ein solches modernes Rettungszentrum bedeutsamer ist als alte Kanonen – das Bild ist gesetzt.

Als hätte das alles nicht für eine Woche gereicht, kam dann am späten Freitagabend noch ein Vortrag von Marineinspekteur Kay-Achim Schönbach hinzu. Der Vizeadmiral hatte sich bei einem Vortrag vor dem Think Tank Manohar Parrikar Institute for Defence Studies and Analyses in der indischen Hauptstadt Neu Delhi geäußert – unter anderem zum Verhältnis zu Russland und zum Ukraine-Konflikt. Seine These dabei: Es geht nicht um ein bisschen Land für Russland, sondern vor allem um Respekt für dessen Präsidenten Wladimir Putin – und den könne man ihm doch getrost geben, zumal Russland als Partner gegen China gebraucht werde.

Das ganze Video von Schönbachs Rede und der anschließenden Frage-und-Antwort-Runde ist hier zu sehen.

Die Passage, die Aufmerksamkeit erregt, ist keine fünf Minuten lang; ich habe sie mal gesondert hier als Audio-Datei eingestellt. In diesem Audio fallen die entscheidenden Sätze ab Minute 2:00 (die Tonqualität ließ sich leider nicht weiter verbessern):

20220121 Schoenbach India Putin Russland     

 

Unklar ist zwar, ob Schönbach sich in dem Institut in einer Runde off the record wähnte – allerdings stellte der Think Tank das Video von Rede und Fragerunde schnell online und sorgte für öffentliche Verbreitung, bis hin zur Hindustan Times. Unabhängig davon kam das in Berlin nicht gut an: Am Samstagvormittag vereinbarten die Verteidigungsministerin und Generalinspekteur Eberhard Zorn, Schönbach solle zunächst zum Rapport bei Zorn antreten, ehe über weitere Schritte entschieden werde.

Der Vizeadmiral entschuldigte sich inzwischen via Twitter und bezeichnete die Aussagen als seine persönliche Meinung:

Wie das weitergeht, ist also noch offen. Immerhin: Diese Woche ist schon fast zu Ende.

Nachtrag am Sonntag, denn es war voreilig, diese Woche am Samstagnachmittag als praktisch beendet anzusehen:

Am Samstagabend wurde der Marineinspekteur von seinem Posten entbunden, nachdem er zuvor die Verteidigungsministerin darum gebeten hatte.

Am Sonntag äußerte sich der frühere Präsident Estlands und immer noch prominente estnische Politiker Toomas Hendrik Ilves via Twitter zu dem von der deutschen Verteidigungsministerin als Ukraine-Hilfe genannten Feldhospital:

Ich sag‘ jetzt mal vorsichtig: Ggf. noch weiter nach Entwicklung, aber langsam könnte die Woche wirklich rum sein.

(Archivbild: U.S. and Afghan national army 203rd Corps soldiers shield themselves from a D-30 Soviet 122 mm towed Howitzer percussion blast during field weapons training, Oct. 26 2009, in Gardez, Afghanistan – TSgt Patrick Hyde/NATO Training Mission Afghanistan)