Auf Wiedervorlage: Die SPD und die nukleare Teilhabe in der NATO

Auch wenn die Außen- und Sicherheitspolitik in den Debatten über eine mögliche künftige Ampelkoalition von SPD, Grünen und FDP nicht das Topthema ist: Wesentliche Teile wie die nukleare Abschreckung der NATO und damit verbunden die deutsche Nukleare Teilhabe werden gleich zu einem Beginn einer solchen Koalition eine wichtige Rolle spielen und seit zehn Tagen teils heftig debattiert. Deshalb, auf Wiedervorlage, die Aussagen des SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich von diesem Wochenende.

Es war die letzte Frage im Interview der Woche des Deutschlandfunks, und besonders interessant ist die abschließende Antwort von Mützenich:

Ich glaube, der entscheidende Punkt, warum ich mich auch so deutlich bei der nuklearen Teilhabe geäußert habe, ist eine Situation, dass das alte Konzept, dass angeblich wir Mitbestimmungsrechte haben durch die neue Waffenentwicklung und auch die Bewaffnung von Cruise-Missiles, die seegestützt sind, eben auch gar nicht mehr funktioniert. Und ich finde, alleine unter militärischen Gesichtspunkten ist es notwendig, über diese nukleare Teilhabe zu sprechen. Und zum anderen bin ich jemand, der am liebsten so wenig wie möglich Atomwaffen auf der Welt sehen will. Und deswegen setze ich mich auch sehr stark dafür ein, dass wir möglicherweise dazu kommen, das Moratorium, was die USA und Russland sich gegeben haben, auch hier in Deutschland akzeptieren, dass wir sagen, wir wollen jetzt mal vier Jahre Ruhe, fünf Jahre Ruhe haben. In dieser Situation soll verhandelt werden. Und vielleicht kriegen wir dann diese Dinger ja auch letztlich raus – am liebsten so schnell wie möglich.

(Ich hoffe, die Kolleg*innen des DLF sehen mir das sehr ausführliche Zitieren nach)

Der Frage und Mützenichs Antwort waren in den vergangenen Tagen etliche andere Äußerungen zu dieser nuklearen Teilhabe vorausgegangen, die ja beinhaltet, dass in Deutschland lagernde US-Atombomben von deutschen Kampfjets mit Bundeswehrpiloten ins Ziel gebracht werden sollen. Entzündet hatte sich das an den Aussagen der (zum Zeitpunkt des Interviews noch amtierenden, inzwischen geschäftsführenden) Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, ebenfalls im Deutschlandfunk:

Wir müssen Russland gegenüber sehr deutlich machen, dass wir am Ende – und das ist ja auch die Abschreckungsdoktrin – bereit sind, auch solche Mittel [gemeint sind Atomwaffen, T.W.] einzusetzen, damit es vorher abschreckend wirkt und niemand auf die Idee kommt, etwa die Räume über dem Baltikum oder im Schwarzmeer NATO-Partner anzugreifen. Das ist der Kerngedanke der NATO, dieses Bündnisses, und das wird angepasst auf das aktuelle Verhalten Russlands.

Mützenich reagierte hart. Die jüngsten Gedankenspiele der Verteidigungsministerin zum Einsatz von Nuklearwaffen in einem Konflikt mit Russland sind verantwortungslos. … Frau Kramp-Karrenbauer unterscheidet sich leider nicht von den ebenso haltlosen Drohungen der russischen Seite, sagte der SPD-Fraktionschef der Deutschen Presse-Agentur.

Der Grünen-Außenpolitiker Jürgen Trittin setzte via Twitter noch etwas drauf:

Nun kann breit diskutiert werden (aber bitte nicht hier an dieser Stelle), ob der Vorwurf der Androhung eines nuklearen Erstschlags gerechtfertig ist, ob es sich um Gedankenspiele der scheidenden CDU-Verteidigungsministerin handelt und, um einen streitigen Diskussionsstrang in der SPD aufzugreifen, ob die immer wieder angeführte Politik eines Bundeskanzlers Willy Brandt und des Verteidigungsministers Helmut Schmidt nicht eben auch die nukleare Abschreckung der NATO mit einbezogen hat. Im Hinblick auf die mögliche künftige Regierungskoalition geht es zunächst um etwas anderes: Zeichnen die Aussagen von Mützenich (und evtl. auch Trittin) schon vor, wie sich die absehbare neue Regierung zur nuklearen Abschreckung der NATO und zur deutschen nuklearen Teilhabe positioniert?

Interessant ist deshalb der Verweis Mützenichs

Und deswegen setze ich mich auch sehr stark dafür ein, dass wir möglicherweise dazu kommen, das Moratorium, was die USA und Russland sich gegeben haben, auch hier in Deutschland akzeptieren, dass wir sagen, wir wollen jetzt mal vier Jahre Ruhe, fünf Jahre Ruhe haben.

und ich verstehe es ehrlich gesagt nicht wirklich. Was soll bedeuten, dass Deutschland ein Moratorium der beiden Nuklearmächte USA und Russland akzeptieren soll – und wird es von der bisherigen Bundesregierung nicht akzeptiert? Mit welchen Folgen?

Wahrscheinlicher scheint mir, dass der SPD-Fraktionsvorsitzende einfach nur sagen will: Wir packen das Thema die nächsten vier, fünf Jahre einfach nicht an – und das zielt auf eine Entscheidung, die die neue Bundesregierung treffen muss: Sollen die betagten Tornado-Kampfjets, die bislang für die nukleare Teilhabe und damit den Einsatz von Atomwaffen ausgerüstet sind, durch neue Flugzeuge ersetzt werden? (Die geplante, nicht beschlossene Beschaffung dieser Maschinen hat übrigens nicht allein mit Atomwaffen zu tun. Zum Nachlesen dazu eine Zusammenfassung in der Bundestagsdrucksache 19/32618.)

Mit anderen Worten: Es klingt sehr danach, dass Mützenich dafür plädiert, jenseits von politischen Initiativen zur Reduzierung oder langfristig Abschaffung von Atomwaffen in Deutschland erst mal schlicht gar nix zu entscheiden. Deshalb auf Wiedervorlage – für einen Koalitionsvertrag demnächst.

Randbemerkung: Unter denen, die in Deutschland eben nicht über die nukleare Teilhabe reden wollen, tut sich das Verteidigungsministerium besonders hervor. Schon vor fast sechs Jahren erklärte dessen damaliger Sprecher Jens Flosdorff wortreich, warum schon der Begriff in der damaligen militärischen Luftfahrtstrategie noch nicht mal erwähnt wurde:

Frage: An das Verteidigungsministerium – und gegebenenfalls auch an Herrn Schäfer -: Sie haben ja gestern die Militärische Luftfahrtstrategie 2016 vorgestellt. Im Entwurf vom Dezember war noch die nukleare Teilhabe als vorzuhaltende erforderliche Fähigkeit aufgelistet; jetzt ist sie es nicht mehr. Warum?
Flosdorff: Die Militärische Luftfahrtstrategie ist ein wichtiger Teil des Modernisierungsprozesses der Bundeswehr. Sie enthält klar und transparent, welche Fähigkeiten wir in der Dimension Luft haben, was wir künftig brauchen, welche Anforderungen wir haben. Das ist ein Erklärstück, das für die interessierte Öffentlichkeit gedacht ist, soll aber auch als Orientierungspunkt für die Industrie weit in die Zukunft hinein dienen.
Dass der von Ihnen angesprochene Punkt darin nicht aufgeführt ist, heißt nicht, dass das keine Rolle spielt, sondern hat einfach damit zu tun, dass das ein öffentlich zugängliches Dokument ist und wir es hier mit Informationen zu tun haben, bei denen wir sehr schnell in einen Bereich hineinkommen, der der Geheimhaltung unterliegt.

Diese Haltung hat sich bis heute nicht geändert. Vor gut einer Woche, am 25. Oktober, erklärte Sprecherin Fregattenkapitän Christina Routsi für das Ministerium:

Frage: Eine Frage an das Verteidigungsministerium. Hatte die Ministerin bei ihrer ausgesprochenen Drohung in Sachen Einsatz von Atomwaffen auch an die in Deutschland lagernden Atomwaffen gedacht? Das würde ja automatisch ein Ziel der Gegenseite bedeuten und damit Deutschland auslöschen.
Routsi: Sie wissen, dass wir uns zum Thema Nuklearpolitik nicht weiter einlassen. Das hat Geheimhaltungsgründe. Das ist hier eine gute Tradition, mit der ich nicht brechen werde.