Gefährliche Funkstörung, die Fortsetzung: 80er Jahre, bitte kommen
Weil die Ausrüstung der Bundeswehr mit modernen digitalen Funkgeräten nur schleppend vorankommt, geht die Beschaffungsbehörde der Truppe einen ungewöhnlichen Weg: Alte analoge Funkgeräte aus den 1980er Jahren, die langsam altersschwach werden und für die es keine Ersatzteile mehr gibt, sollen eins zu eins nachgebaut werden.
Seit Jahren arbeitet die Bundeswehr daran, vor allem die Landstreitkräfte mit digitalen Funkgeräten auszustatten – diese Technik ist nicht nur nötig, um den Funkverkehr besser vor Abhören und Störungen zu schützen, sondern vor allem für die Datenübertragung, die so genannten Battle Management Systeme. Schon vor fünf Jahren zeichnete sich ab, dass dieses Riesenprojekt, inzwischen umbenannt in Digitalisierung Landbasierter Operationen (DLBO) weit hinter dem Zeitplan liegt. Inzwischen ist die Lücke allerdings so groß geworden, dass die Streitkräfte zu einem Notbehelf greifen – und ihre alten Funkgeräte einfach unverändert neu bauen lassen wollen.
Das Projekt, über das am (heutigen) Freitag zuerst der Spiegel berichtete (Bericht hinter Paywall), sieht nach einem Akt der Verzweiflung aus und ist seit Anfang September offiziell: Da veröffentlichte das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Beschaffung der Bundeswehr (BAAINBw) die Bekanntmachung eines Lieferauftrags: Rahmenvertrag Fähigkeitserhalt Funkgerätefamilie SEM 80/SEM 90 zur Aufrechterhaltung der Einsatzfähigkeit der bestehenden Funkgeräte SEM 80/SEM 90 unter Beibehaltung aller bisherigen Fähigkeiten.
Hinter der bürokratischen Formulierung verbirgt sich eine einfach zu erfüllende technische Forderung: Die Auftragsvergabe hat das Ziel der Aufrechterhaltung der Einsatzfähigkeit der SEM 80/ SEM 90 Funkgeräte unter Beibehaltung der bisherigen Fähigkeiten. Nur der Originalhersteller der bisherigen Geräte kann die einzelnen Funkgeräte so in das Gesamtfunkgerätesystem der SEM 80/SEM 90 Funkgerätefamilie einsetzen und damit in die Fahrzeuge/Plattformen der Bundeswehr integrieren, dass unter Berücksichtigung komplexer technischer Abhängikeiten und Kompatibilitätsvorgaben, zwingende Erfordernisse einer sicheren und zuverlässigen Funktions- und Bertriebssicherehit eingehalten werden können.
Mit anderen Worten: Die Geräte vom Typ Sender/Empfänger, mobil SEM80/90, in den 1980-er Jahren in die Bundeswehr eingeführt und längst nicht mehr produziert, sollen genau so wie bisher neu gebaut werden. Etwa so, als würde ein Telefon-Nutzer für seinen Anschluss ein Original Wählscheiben-Telefon A1 mausgrau bestellen. Zusätzliche Extras (aus dem Beispiel übertragen: ein Tastentelefon oder Wahlwiederholung) werden ausdrücklich ausgeschlossen.
Der absurd erscheinende Auftrag hat vor allem vergaberechtliche Gründe. Weil die geplante Neuausstattung mit digitalen Funkgeräten längst nicht so schnell geht wie erhofft, müssen die alten Funkgeräte so lange wie möglich in Betrieb gehalten werden – oder durch baugleiche Geräte ersetzt werden. Denn ein Funkgerät mit zusätzlichen Fähigkeiten, so erläutert ein Sprecher des Verteidigungsministeriums, müsste europaweit ausgeschrieben werden. Das wiederum würde möglicherweise zu spät kommen und die Truppe zum Teil ohne jegliche Funkanbindung dastehen lassen.
Aus dem gleichen Grund wurde der Auftrag auch ohne Ausschreibung vergeben, und aus Sicht des BAAINBw kam nur eine Firma infrage: Der deutsche Ableger des französischen Unternehmens Thales. Denn Thales hatte Teile der Firma Standard-Elektrik Lorenz (SEL) übernommen, die vor rund 40 Jahren die Funkgeräte gebaut hatte – und dieses Unternehmen existiert nicht mehr. Aus technischen Gründen konnte der Auftrag nur an die Firma Thales vergeben werden, heißt es in der Bekanntmachung.
Zunächst ist mit dem Rahmenvertrag nur vorgesehen, dass Thales demonstriert, dass es auch Funkgeräte auf dem technischen Niveau der 1980-er Jahre bauen – und dann auch bis weit ins nächste Jahrzehnt liefern kann: Der Rahmenvertrag hat eine Vertragslaufzeit bis zum 31.12.2032 und beinhaltet Verlängerungsoptionen bis zum 31.12.2035. (…) Zum einen ist die Laufzeit notwendig, um ausgehend von einer Gerätestückzahl von bis zu 30.000 Geräten den notwendigen Gerätezulauf sukzessive sicherzustellen. Zum anderen liegt die geplante Nutzungsdauer der Geräte bei mindestens 10 Jahren. Ein Wechsel des Herstellers würde zu technischen Schwierigkeiten beim Erhalt der bisherigen Schnittstellen, hinsichtlich technischer Abhängigkeitem, Außenmaße und Funktionalitäten der Bestandsfunkgeräte SEM 80/SEM 90 führen und ist daher nicht möglich.
Über eine Beschaffung soll erst danach entschieden werden, deshalb wird in der Bekanntmachung der Wert zunächst auch nur mit 0,01 Euro angegeben. Danach könnte es aber richtig ins Geld gehen: Sollte die Bundeswehr tatsächlich alle maximal geforderten 30.000 neuen alten Funkgeräte bestellen, geht es um ein Volumen von rund 600 Millionen Euro.
Eine solche Beschaffung müsste dann allerdings, im Umfang abhängig nicht zuletzt vom Fortschritt der Digitalisierung des Truppenfunks, dem Haushaltsausschuss des Bundestages zur Billigung vorgelegt werden. Die Parlamentarier müssen dann entscheiden, ob sie die, wie es im Ministerium heißt, von den schlechten Lösungen die beste akzeptieren wollen. Und ob sich die Bundeswehr 2035 noch eine technische Ausstattung auf dem Niveau von 1980 leisten soll.
Ergänzung: In den Kommentaren der richtige Hinweis, dass es bereits am 4. September einen Beitrag dazu in der Fachpublikation Soldat&Technik gab, der allerdings auch hinter Paywall steht und den ich nicht kenne. Aber dazu passt auch ein Hinweis aus deren Schwesterpublikation Europäische Sicherheit&Technik, Ausgabe September 2021:
Am Beispiel der Führungsfähigkeit wird das Ausmaß des Versäumten deutlich. Während damals mit der durchgängigen Einführung AUTOKO90, BIGSTAF und SEM93 ein mit den damaligen techno- logischen Mitteln effektiver Führungsverbund umgesetzt wurde, sind die Führungsmittel heute entweder noch dieselben, nicht (mehr) durchgängig vorhanden oder mittlerweile vollkommen veraltet. Bedauerlicherweise ist das Heer damit nicht in der Lage, auf Basis beispielsweise der analogen Funkgerätebaureihe SEM 70/80/90 die Interoperabilitäts- und Kryptostandards verbündeter Streitkräfte mit SDR-Funk (Software Defined Radio) zu erreichen.
(Archivbild Juli 2020: Soldaten bei einer Übung mit dem Funkgerät SEM70, der tragbaren Version des SEM80/90 – Christoph Loose/Bundeswehr)
Diese ganze Technikdiskussion hier ist doch für die Katz. Die Auftragsvergabe ist da doch ganz eindeutig, ein Blick in den Text des Hausherrn hilft da weiter. Der Auftrag: Nachbau der alten SEM80/90. Keine Verbesserungen, keine Vorrichtungen für Verbesserungen, ganz stumpf nachbauen.
Das ist doch der eigentliche Skandal hinter der Geschichte. Man kauft sich 10 Jahre Zeit, weil man es die letzten 10 Jahre nicht hinbekommen hat, ein Nachfolgesystem zu finden. Für geschätzt 600 Millionen Euro, das sind bei geplanten 30.000 Geräten rd. € 200.000 pro Gerät! Um das Technikniveau von ungefähr Mitte der 1980er Jahre zu halten!
Das reicht doch mindestens für den Preis als Irrsinn des Jahres, alleine schon die Idee dazu. Und wozu? Um in 10 Jahren wieder vor dem selben Problem zu stehen?
@PioFritz
Absolut richtig!!!
In dem Zusammenhang und mit der Begründung könnten wir dann ja auch gleich noch ein paar „neue“ Tornados für die NT und G3s als Überbrückung bis zum nächsten Gewehr anschaffen. Solange wir nur genug Geld dafür verballern findet sich auch jemand der das nachbauen will. Hauptsache extra teuer. und möglichst mit Knebelverträgen die die Abnahme bis mindestens 2035 garantieren.
Auf der einen Seite phantasiert unsere Führung über Multidimensionale Operationen der Landstreitkräfte (den Aktiven empfehle ich das lesenswerte Gedankenpapier des AHEntwg dazu) und auf der anderen Seite geben wir 600 Millionen für neue veraltete Technik aus. Wer findet den Fehler???
Wenn hier einige von einfachem, billigen SDR – für militärische Zwecke… – reden:
was passiert damit bei einem EMP? Hint: nichts gutes.
Es ist ja schön wie hier technische Parameter von Adam bis Eva diskutiert werden.
Daher nochmal deutlicher: Was benutzen all die Verbündeten, bei denen das mutmaßlich funktioniert? Und mag keiner von denen den Bestellkatalog rüberfaxen und das korrekte Produkt gleich mit anstreichen …?
Es muss nicht jeder Schnürsenkel eine Eigenentwicklung sein. Und gerade bei u.a. der NATO-Kompatibilität ist es überhaupt kein Fehler sich in ein funktionierendes System einzukaufen. Für die Wirtschaftsförderung und politische Zugeständnisse gibt es wahrlich genug Milliardenprojekte.
@IamGroot
„… auf der anderen Seite geben wir 600 Millionen für neue veraltete Technik aus.“
Man beschafft quasi neuwertige obsolete Technik. Vielleicht haben wir ja unter den Verantwortlichen Liebhaber des „Vintage-“ bzw. „Retro-Stils“. Obwohl, das Wachbataillon nutzt ja auch noch die Knobelbecher und den 98k.
@ThomasMelber…LOL
ggf. könnten wir dann wenigstens an einer „Reenactment“ Veranstaltung mit Orginalgerät aus dem Kalten Krieg teilnehmen, wenn es zu VJTF nicht mehr reicht weil wir bei der CREVAL durchfallen. Ich habe noch irgendwo das alte Grünzeug, inclusive dem Koppeltragegestell und der großen/kleinen Kampftasche sowie den braunen Kampfstiefeln. Großgerät aus der Zeit gibt es ja auch noch genug. Und vielleicht finden sich ja noch ein paar Kameraden aus der NVA mit ihrem Plunder ein, dann könnten wir bei EPA Früchtereis und Jägerschnitzel-OST über die gute alte Zeit reden…;-))
Was mich so wundert: heisst es nicht immer ‚Comms are everything!‘? Kommunikation ist so ziemlich das Wichtigste überhaupt, deshalb muss es doch auch als Schlüsseltechnologie bewertet werden. Wie konnte es sein, das man nicht schon vor 20 Jahren und spätestens nach den Erfahrungen in Afghanistan und den vielen Übungen mit den Partnernationen, die Comms als Priorität 1 einordnete? Ich begreife einfach nicht, wie man da über die Jahrzente so halbherzig aktiv war….
Was haben eigentlich die Niederländer für eine Ausrüstung – auch von Thales?
Das Schöne ist, diese Geräte wurden verschenkt (Mali, Afghanistan, Kurden), verschrottet (von 1990 bis 2012 fast 9.000 Geräte) oder über die VEBEG verkauft (SEM52SL, ganzer LW Bestand, wurden bis vor zwei Jahren teilweise in neuem Depotbestand für 300 Euro auf Ebay verkauft).
Ein Firma aus Düsseldorf kauf seit rund 3 Jahren auf dem freien Markt (u.a. bei sammlern) alle verfügbaren Geräte im Auftrag von Thales auf (rund 2.000 Euro nur für das VHF Teil).
26-06-2019: Ursula von der Leyen und ihr NLD Pendant Ank Bijleveld unterzeichnen ein Abkommen zur digitalen Ausstattung beider Streitkräfte.
„Um die Zusammenarbeit vor Ort zu verbessern, werden Deutschland und die Niederlande ihre Streitkräfte sehr weitreichend digital integrieren. Noch nie haben 2 Streitkräfte ihre digitalen Streitkräfte so weit gebündelt wie jetzt. Beide Verteidigungsminister haben heute die neue deutsch-niederländische Organisation TEN (Tactical Edge Networking) mit einer Vereinbarung besiegelt“. …
„Die Organisation wird künftig einen Hauptsitz in Koblenz haben. In der Bernhard-Kaserne in Amersfoort wird ein Design- und Prototypenzentrum errichtet. Von hier aus werden praktische Initiativen mit Partnern entwickelt“.
Kennt jemand den derzeitigen Sachstand hierzu?
Wenn ich das richtig erinnere, war unmittelbare Auswirkung, dass die KPz des (DEU/NLD) PzBtl 414 digitale niederländische Funkgeräte erhielten, die jedoch derart angepasst wurden, dass Kommunikation auch mit analogen bisherigen DEU Geräten (SEM 25/35-Reihe) ermöglicht war. Das NLD Heer hat beginnend mit 44 Pantserinfanteriebataljon den Einstieg in vollständige Digitalisierung 2020 beschritten.
Kern des Programms ist die Integration des Combat Net Radio (CNR), das auch für das Battlefield Management System geeignet ist.
Zur Erinnerung, die 4./414 ist eine rein NLD PzKp. Das Btl ist der (NLD) 43. MechBrig ustl, die wiederum der 1. PzDiv angehört.
https://www.defensie.nl/actueel/nieuws/2019/06/26/duitsland-en-nederland-integreren-krijgsmachten-digitaal (alles Niederländisch)
@KPK
TEN ist zunächst krachend gescheitert – es wird aber auf Sparflamme weiterhin vor sich hin dilettiert.
Das Scheitern ist z.B. daran erkennbar, dass die Ausschreibung für ein „Führungsfunksystem“ ohne NLD Anteile abläuft: https://ted.europa.eu/udl?uri=TED:NOTICE:450406-2021:TEXT:EN:HTML&src=0&tabId=1
Die Ausstattung des PzBtl 414 mit NLD Führungsausstattung war davon unabhängig und ein ohnehin geplantes und durchgeführtes Vorhaben.
@Friedrich N.
Danke.
@KPK und FN
TEN ist auf Grund unüberbrückbarer Differenzen gescheitert. NLD wollte von Grund auf neue Funkgeräte entwickeln während DEU „of the shelf“ kaufen will. Ausnahmsweise scheint mir unser Ansatz da besser zu sein. Problem ist das das Geld das für die Anschubfinanzierung so reduziert wurde das Anstelle von fast 900 Plattformen jetzt weit weniger als 200 ausgerüstet werden können. Aber bis 2035 haben wir dann sicher auch die VJTF Brig digitalisert.
TEN ist tot, wie eine Anfrage vom März 2021 zeigt.
(https://www.fdpbt.de/anfrage/kleine-anfrage-aktueller-stand-deutsch-niederlaendischer-kooperation-im-tactical-edge)
@Dieter7710:
Die Begründung ist offensicht: Fotos mit ein paar „Handgurken“ sind nicht so prestigeträchtig, wie die Kiellegung einer Fregatte oder das Unterzeichnen von Verträgen für Milliardengräber (FCAS)….