Kabinett billigt Entwurf für Afghanistan-Evakuierungsmandat, Rekord-Flug mit 229 Menschen(Updates)

Das Bundeskabinett hat die formale Beschlussfassung über den Evakuierungseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan auf den Weg gebracht. Das Mandat soll nachträglich vom Parlament gebilligt werden, der Einsatz selbst war wegen Gefahr im Verzug ohne die Zustimmung der Abgeordneten begonnen worden. Die Evakuierungsflüge aus Kabul wurden am Mittwoch fortgesetzt.

Das Mandat (Bundestagsdrucksache 19/32022), das in der kommenden Woche im Bundestag abgestimmt werden soll, sieht als Obergrenze 600 Soldatinnen und Soldaten für eine militärische Evakuierung deutscher Staatsangehöriger, von Personal der internationalen Gemeinschaft sowie weiterer designierter Personen aus Afghanistan vor. Interessant ist die vom Kabinett am Mittwoch vormittag beschlossene Rechtsgrundlage für den bewaffneten Einsatz deutscher Streitkräfte:

Der Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte erfolgt auf Grundlage der fortgeltenden Zustimmung der Regierung der Islamischen Republik Afghanistan zum Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Evakuierung deutscher Staatsangehöriger, Personal der internationalen Gemeinschaft sowie weiterer designierter Personen, wie zuletzt mit Notenwechsel vom 15. August 2021 bestätigt, sowie aufgrund des gewohnheitsrechtlich anerkannten Rechts zur Evakuierung eigener Staatsangehöriger.

Ergänzung: Außenamtssprecher Christopher Burger erläuterte vor der Bundespressekonferenz, die Vereinbarung mit der früheren afghanischen Regierung sei am 15. August in einem Notenwechsel zwischen der Bundesregierung und der damaligen Regierung in Kabul noch einmal bestätigt worden. Völkerrechtlich gelte das weiter, so lange es nicht von einer neuen Regierung widerrufen werde.

(Und KORREKTUR-Hinweis: Zuvor hatte ich eine Passage zitiert, aus der nicht deutlich wurde, dass es um die fortgeltende Zustimmung geht.)

Die Zustimmung der Islamischen Republik Afghanistan gilt damit nach Ansicht der Bundesregierung weiterhin – obwohl die Regierung dieser Republik faktisch nicht mehr existiert, seitdem die Taliban die Macht in Kabul übernommen haben. Damit hätte eigentlich die Rechtsgrundlage aus dem noch bestehenden – und bis Januar 2022 laufenden – Mandat für den bisherigen Afghanistan-Einsatz herangezogen werden können: Darin ist mit der Formulierung, der Einsatz beruhe unter anderem auf Grundlage der Zustimmung der Regierung der Islamischen Republik Afghanistan zum NATO-geführten Einsatz Resolute Support in Form des
durch die NATO und Afghanistan unterzeichneten Truppenstatutes vom 30. September 2014 ebenfalls das Einverständnis der früheren Regierung in Kabul Voraussetzung.

Dennoch fiel in der Bundesregierung die Entscheidung, nicht auf Basis des bisherigen Mandats zu handeln. Ob das die Entsendung der Evakuierungstruppen beschleunigt hätte, ist eine Frage, die vermutlich noch in der politischen Debatte eine Rolle spielen wird.

Die Begründung für die Mission lieferten Außenminister Heiko Maas und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer im Vorblatt des Kabinettsentwurfs – und, das kam in den öffentlichen Äußerungen bislang nicht so deutlich rüber: Ausgeflogen werden sollen auch besonders schutzbedürftige Repräsentantinnen und Repräsentanten der afghanischen Zivilgesellschaft. Aus dem Begründungstext:

In den letzten Wochen hat sich die Sicherheits- und Bedrohungslage in Afghanistan dramatisch verschlechtert. Mit der Implosion der afghanischen Regierung und der Machtübernahme durch die Taliban sind die örtlichen Sicherheitsstrukturen in der Hauptstadt Kabul weggebrochen. Die Lage ist außerordentlich unübersichtlich.
Damit hat sich die Bedrohung für Luftfahrzeuge im An- und Abflug auf afghanische Flughäfen, insbesondere Kabul, spürbar erhöht.
Die Bundesregierung muss in dieser Situation eine militärische Evakuierung deutscher Staatsangehöriger aus Afghanistan sicherstellen. Im Rahmen verfügbarer Kapazitäten soll sich die Evakuierung auch auf Personal der internationalen Gemeinschaft sowie weitere designierte Personen, inklusive besonders schutzbedürftige Repräsentantinnen und Repräsentanten der afghanischen Zivilgesellschaft, erstrecken.
Die Sicherheitslage in Afghanistan hat ein sofortiges Eingreifen von Kräften der Bundeswehr, auch in Abstimmung mit den internationalen Verbündeten und Partnern, erforderlich gemacht. Es kommt im Kern darauf an, Leib und Leben deutscher Staatsangehöriger und jenes Personals der internationalen Gemeinschaft sowie weiterer designierter Personen zu schützen, für welche Deutschland eine besondere Verantwortung trägt.
Die Verlegung erster Einsatzkräfte und damit der Beginn des Einsatzes erfolgte bereits vor der Zustimmung des Deutschen Bundestages auf der Grundlage von § 5 des Parlamentsbe- teiligungsgesetzes. Es liegt Gefahr im Verzug vor, die Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte duldet keinen Aufschub. Jedes weitere Zuwarten, bis der Deutsche Bundestag abschließend entschieden hat, könnte eine erfolgreiche Durchführung des Einsatzes der deutschen Kräfte in Frage stellen oder jedenfalls deutlich erschweren und damit auch Leib und Leben der zu schützenden Personen gefährden. Die Präsenz wichtiger Partner vor Ort muss jetzt für die Verlegung genutzt werden.

Die nachträgliche Zustimmung des Bundestages ist eindeutig im erwähnten Paragraph 5 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes geregelt:

§ 5 Nachträgliche Zustimmung
(1) Einsätze bei Gefahr im Verzug, die keinen Aufschub dulden, bedürfen keiner vorherigen Zustimmung des Bundestages. Gleiches gilt für Einsätze zur Rettung von Menschen aus besonderen Gefahrenlagen, solange durch die öffentliche Befassung des Bundestages das Leben der zu rettenden Menschen gefährdet würde.
(2) Der Bundestag ist vor Beginn und während des Einsatzes in geeigneter Weise zu unterrichten.
(3) Der Antrag auf Zustimmung zum Einsatz ist unverzüglich nachzuholen. Lehnt der Bundestag den Antrag ab, ist der Einsatz zu beenden.

Die Abstimmung des Bundestages über dieses Mandat wird voraussichtlich in der geplanten Sondersitzung am 25. August stattfinden.

Unterdessen setzte die Bundeswehr ihre Evakuierungsflüge nach Kabul wieder fort, nachdem in der Nacht der Flughafen der afghanischen Hauptstadt aus Gründen der Flugsicherheit zeitweise gesperrt war. Am Mittwochvormittag (KORREKTUR, nicht Donnerstag) landete nach Angaben des Einsatzführungskommandos ein A400M; für diesen Tag sind nun insgesamt vier Flüge zwischen Kabul und der usbekischen Hauptstadt Taschkent vorgesehen.

Update: Nach Angaben des Verteidigungsministeriums (um 11.15 MESZ) startete die Maschine mit rund 180 Passagieren von Kabul:

Update: Die Luftwaffe brachte am Mittwoch einen weiteren A400M auf den Weg nach Afghanistan, unter der Flugnummer GAF302:

Es ist wohl noch offen, ob dieses Flugzeug als zusätzliche Kapazität für die Evakuierungsflüge aus Kabul genutzt wird oder eine der vorhandenen Maschinen ersetzen soll.

Zur Übersicht – derzeit sind im Einsatz:

A400M 54+23
A400M 54+28
A400M 54+27 (das dürfte die MedEvac-Maschine sein)
A400M 54+32 (seit 17. August)
A310 MRTT 10+23
A400M 54+34 (im Zulauf 18. August)

(Danke für die Leserhinweise auf die heute in Deutschland gestartete Maschine)

Update – aus der Bundespressekonferenz vom Sprecher des Auswärtigen Amtes, Christopher Burger:

Ausgeflogen bisher:
189 deutsche Staatsbürger
59 Staatsbürger weiterer EU-Nationen
51 Staatsbürger von Drittstaaten
202 afghanische Staatsbürger (incl. Familienangehörigen von Deutschen)

Und das ernüchternde Zitat: Es ist so, dass wir nur in Kabul die Möglichkeit haben, Menschen auszufliegen – und auch dort nur, wenn sie es zum Flughafen schaffen.

… allerdings werden die Chancen, es zum Flughafen zu schaffen, immer geringer, wie CNN aus Kabul berichtet:

Update: Es gab (auch schon hier in den Kommentaren) Hinweise darauf, dass britische Soldaten auch außerhalb des Flughafens von Kabul bei der Evakuierung aktiv sind. Das bestätigte der britische Botschafter, wie Reuters meldet:

Britain is working with the Taliban in Kabul on a „tactical, practical level“ to evacuate citizens and eligible Afghans, Britain’s ambassador to Afghanistan said on Wednesday, adding the evacuation programme would last days, not weeks. (…)

Update: Mit dem fünften Evakuierungsflug eines A400M hat die Luftwaffe am Mittwochnachmittag (KORREKTUR: nicht Donnerstag) die bisher höchste Zahl an Personen ausgeflogen, wie das Verteidigungsministerium mitteilte: 229 Menschen waren in der Maschine.

Für den heutigen Tag sind noch zwei weitere Flüge geplant.

Wie Außenminister Heiko Maas am Abend nach einer Sitzung des Krisenstabes der Bundesregierung mitteilte, sollen frühere Ortskräfte der Bundeswehr und anderer deutscher Institutionen auch in den Nachbarländern die Aufnahme in Deutschland beantragen können. Die deutschen Botschaften in diesen Ländern hätten inzwischen die Listen der Personen, die ohne Visum und Sicherheitsüberprüfung eine sofortige Aufnahme in Deutschland bekämen, sagte der Minister: Sie kriegen gleich einen Aufenthaltstitel.

Das Pressestatement von Maas zum Nachhören; die Aussage zu den Nachbarländern ist in der Antwort auf die erste Frage bei Minute 06:40:

Maas_AFG_18aug2021     

 

(Weiter ggf. nach Entwicklung)

(Foto: Ein Bundespolizist und Vertreter des Auswärtigen Amtes am 17. August 2021 vor einem A400M der Bundeswehr in Taschkent/Usbekistan – Marc Tessensohn/Bundeswehr; Karte ADSBexchange.com)