Afghanistan: Vormarsch der Taliban im Norden; geschätzt 65 Prozent des Landes unter Kontrolle

Alle Meldungen aus Afghanistan sind derzeit nur eine Momentaufnahme, die schon wenige Stunden später überholt sein kann: Im Norden des Landes haben die Taliban ihren Vormarsch fortgesetzt und weitere Provinzhauptstädte unter ihre Kontrolle gebracht. Nach Einschätzung von EU-Diplomaten kontrollieren sie inzwischen 65 Prozent des Landes.

Am (heutigen) Dienstag gab es immer mehr Berichte über Erfolge der Aufständischen, die seit dem Fall von Kunduz am vergangenen Wochenende jetzt weitere strategisch wichtig gelegene Hauptorte in Nordafghanistan in ihrer Gewalt haben (s. Karte oben). Von einem Vier-Tage-Blitzkrieg sprechen US-Medien: Kunduz, Sheberghan, Taloqan, Aybak in der Provinz Samangan, Sar-e Pol, Pul-e Khumri und Baghlan – und am späten Dienstagabend kam nach letzten Meldungen auch Feyzabad dazu.

Dabei, darauf wies mich ein Bundeswehr-Veteran hin, der selbst im Highway Triangle nördlich von Pul-e Khumri gekämpft hat, dürfte es zum Teil gar nicht um die Städte selbst gehen: eine Provinzhauptstadt wie Aybak hat vergleichsweise wenig Bedeutung. Aber die Städte unter Taliban-Herrschaft ermöglichen auch die Kontrolle über die Straßenverbindungen aus dem Norden nach Kabul – und umgekehrt.

Das hat natürlich auch Auswirkungen auf Mazar-e Sharif, die wichtigste Stadt im Norden (und jahrelang Standort der Bundeswehr): Nachschub und Verstärkung für die afghanischen Sicherheitskräfte auf dem Landweg ist nun tatsächlich unmöglich. Per Flugzeug begab sich deshalb auch ein altbekannter regionaler Warlord auf den Weg aus der Haupstadt Kabul nach Mazar-e Sharif.

Die überraschenden Eroberungen im Norden haben den Anteil des Landes, der unter Taliban-Kontrolle ist, inzwischen auf 65 Prozent erhöht, wie ein ausländischer Diplomat laut Reuters schätzte:

Taliban forces now control 65% of Afghan territory, are threatening to take 11 provincial capitals and are trying to deprive Kabul of its traditional support from national forces in the north, a senior EU official said on Tuesday.

In Deutschland herrscht, man muss es vermutlich so sagen, angesichts der rasanten Entwicklung im ehemaligen Einsatzgebiet der Bundeswehr eine offene Ratlosigkeit. Die auch Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer bereits am (gestrigen) Montag zwar analytisch sauber, aber ebenso ratlos in einer längeren Stellungnahme via Twitter zusammenfasste:

Die Meldungen aus #Kunduz und aus ganz #Afghanistan sind bitter und tun sehr weh. Wir haben dort gemeinsam mit den Verbündeten gekämpft, Bundeswehrsoldaten sind in Afghanistan gestorben. 1/14
Die aktuelle Lage in #Afghanistan stellt die Frage nach dem „Warum“ noch drängender und geht einher mit dem Wunsch, die Taliban zu stoppen. 2/14
Wie sieht die Lage in #Afghanistan aus? Seit Jahren haben die Taliban ihren Einfluss trotz des internationalen Einsatzes schrittweise ausgebaut. 3/14
Das unselige Abkommen von Trump mit den Taliban war der Anfang vom Ende. Aber es hat auch dazu geführt, dass die Taliban zumindest für eine Weile gegen unsere internationalen Truppen stillgehalten haben. 4/14
Jetzt schlagen die Taliban wieder mit voller Härte zu – das hätten sie auch getan, wenn wir noch im Land wären. 5/14
Wer jetzt ein erneutes Eingreifen in #Afghanistan durch die Bundeswehr verlangt, muss sich fragen lassen: Mit welchem Ziel, mit welcher Strategie, mit welchen Partnern? Mit der Bereitschaft, das Leben vieler unserer Soldatinnen & Soldaten aufs Spiel zu setzen? 6/14
Wer die Taliban dauerhaft besiegen will, müsste einen sehr harten und langen Kampfeinsatz führen. 7/14
Ist die deutsche Gesellschaft, ist das deutsche Parlament wirklich in letzter Konsequenz dazu bereit, in #Afghanistan wieder hart in eine militärische Auseinandersetzung zu gehen? 8/14
Sind Gesellschaft und Parlament dazu bereit, die Bundeswehr in einen Krieg zu schicken und mindestens eine weitere Generation lang mit vielen Truppen dort zu bleiben? Wenn wir das nicht sind, dann bleibt der gemeinsame Abzug mit den Partnern die richtige Entscheidung. 9/14
Die Bundeswehr hat in #Afghanistan alle Aufträge erfüllt, die ihr der Deutsche Bundestag gegeben hat. 10/14
Gemeinsam mit anderen haben wir in #Afghanistan erreicht, dass der Terrorismus von Al-Qaida uns von dort aus nicht mehr bedrohen kann, dass eine ganze Generation von Afghaninnen & Afghanen bessere Chancen bekommen hat, dass Frauen & Mädchen Zugang zu Bildung bekommen haben. 11/14
Was wir augenscheinlich nicht erreicht haben, ist ein dauerhaft und umfassend zum Positiven verändertes #Afghanistan. Für die Ziele künftiger Auslandseinsätze sollten wir daraus lernen. 12/14
Deutschland muss und wird weiterhin viel tun: Die Aufnahme weiterer ehemaliger Ortskräfte der Bundeswehr und ihrer Familien, von denen 1700 bereits in Deutschland angekommen sind, aktive Diplomatie, die Unterstützung des Friedensprozesses, Entwicklungszusammenarbeit, 13/14
humanitäre Hilfe, Ausbildung und die Unterstützung des Aufbaus effektiver Staatlichkeit. 14/14

Unklar ist – aus deutscher Sicht – auch weitgehend, was aus den früheren Mitarbeitern der Bundeswehr und anderen Ortskräften deutscher Institutionen wird. Eine scheinbar positive Bilanz des Verteidigungsministeriums offenbart eher die Schwächen:

Denn so positiv 70 Prozent klingen: Es sind, erste Einschränkung, nur die Bundeswehr-Mitarbeiter der vergangenen zwei Jahre erfasst (obwohl diese Einschränkung bereits im Juni gefallen ist). Und von denen wiederum nur die, die bereits eine Aufnahmezusage haben. Und von denen haben es 70 Prozent bereits geschafft. Ob es die anderen schaffen, ganz zu schweigen von denen, die die Jahre zuvor für die Bundeswehr gearbeitet haben – das bleibt offen.

(Weiter ggf. nach Entwicklung)

(Karten: OpenStreetMap)