Afghanistan: Vormarsch der Taliban im Norden; geschätzt 65 Prozent des Landes unter Kontrolle
Alle Meldungen aus Afghanistan sind derzeit nur eine Momentaufnahme, die schon wenige Stunden später überholt sein kann: Im Norden des Landes haben die Taliban ihren Vormarsch fortgesetzt und weitere Provinzhauptstädte unter ihre Kontrolle gebracht. Nach Einschätzung von EU-Diplomaten kontrollieren sie inzwischen 65 Prozent des Landes.
Am (heutigen) Dienstag gab es immer mehr Berichte über Erfolge der Aufständischen, die seit dem Fall von Kunduz am vergangenen Wochenende jetzt weitere strategisch wichtig gelegene Hauptorte in Nordafghanistan in ihrer Gewalt haben (s. Karte oben). Von einem Vier-Tage-Blitzkrieg sprechen US-Medien: Kunduz, Sheberghan, Taloqan, Aybak in der Provinz Samangan, Sar-e Pol, Pul-e Khumri und Baghlan – und am späten Dienstagabend kam nach letzten Meldungen auch Feyzabad dazu.
Dabei, darauf wies mich ein Bundeswehr-Veteran hin, der selbst im Highway Triangle nördlich von Pul-e Khumri gekämpft hat, dürfte es zum Teil gar nicht um die Städte selbst gehen: eine Provinzhauptstadt wie Aybak hat vergleichsweise wenig Bedeutung. Aber die Städte unter Taliban-Herrschaft ermöglichen auch die Kontrolle über die Straßenverbindungen aus dem Norden nach Kabul – und umgekehrt.
Das hat natürlich auch Auswirkungen auf Mazar-e Sharif, die wichtigste Stadt im Norden (und jahrelang Standort der Bundeswehr): Nachschub und Verstärkung für die afghanischen Sicherheitskräfte auf dem Landweg ist nun tatsächlich unmöglich. Per Flugzeug begab sich deshalb auch ein altbekannter regionaler Warlord auf den Weg aus der Haupstadt Kabul nach Mazar-e Sharif.
Marshal Dostum has left Kabul for Mazar-e-Sharif. Ehsan Nairo, Dostum’s spokesman, says the trip is taking place in coordination with President Ashraf Ghani. pic.twitter.com/J3fSWE5H1p
— Ziar Khan Yaad (@ziaryaad) August 10, 2021
Die überraschenden Eroberungen im Norden haben den Anteil des Landes, der unter Taliban-Kontrolle ist, inzwischen auf 65 Prozent erhöht, wie ein ausländischer Diplomat laut Reuters schätzte:
Taliban forces now control 65% of Afghan territory, are threatening to take 11 provincial capitals and are trying to deprive Kabul of its traditional support from national forces in the north, a senior EU official said on Tuesday.
In Deutschland herrscht, man muss es vermutlich so sagen, angesichts der rasanten Entwicklung im ehemaligen Einsatzgebiet der Bundeswehr eine offene Ratlosigkeit. Die auch Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer bereits am (gestrigen) Montag zwar analytisch sauber, aber ebenso ratlos in einer längeren Stellungnahme via Twitter zusammenfasste:
Die Meldungen aus #Kunduz und aus ganz #Afghanistan sind bitter und tun sehr weh. Wir haben dort gemeinsam mit den Verbündeten gekämpft, Bundeswehrsoldaten sind in Afghanistan gestorben. 1/14
Die aktuelle Lage in #Afghanistan stellt die Frage nach dem „Warum“ noch drängender und geht einher mit dem Wunsch, die Taliban zu stoppen. 2/14
Wie sieht die Lage in #Afghanistan aus? Seit Jahren haben die Taliban ihren Einfluss trotz des internationalen Einsatzes schrittweise ausgebaut. 3/14
Das unselige Abkommen von Trump mit den Taliban war der Anfang vom Ende. Aber es hat auch dazu geführt, dass die Taliban zumindest für eine Weile gegen unsere internationalen Truppen stillgehalten haben. 4/14
Jetzt schlagen die Taliban wieder mit voller Härte zu – das hätten sie auch getan, wenn wir noch im Land wären. 5/14
Wer jetzt ein erneutes Eingreifen in #Afghanistan durch die Bundeswehr verlangt, muss sich fragen lassen: Mit welchem Ziel, mit welcher Strategie, mit welchen Partnern? Mit der Bereitschaft, das Leben vieler unserer Soldatinnen & Soldaten aufs Spiel zu setzen? 6/14
Wer die Taliban dauerhaft besiegen will, müsste einen sehr harten und langen Kampfeinsatz führen. 7/14
Ist die deutsche Gesellschaft, ist das deutsche Parlament wirklich in letzter Konsequenz dazu bereit, in #Afghanistan wieder hart in eine militärische Auseinandersetzung zu gehen? 8/14
Sind Gesellschaft und Parlament dazu bereit, die Bundeswehr in einen Krieg zu schicken und mindestens eine weitere Generation lang mit vielen Truppen dort zu bleiben? Wenn wir das nicht sind, dann bleibt der gemeinsame Abzug mit den Partnern die richtige Entscheidung. 9/14
Die Bundeswehr hat in #Afghanistan alle Aufträge erfüllt, die ihr der Deutsche Bundestag gegeben hat. 10/14
Gemeinsam mit anderen haben wir in #Afghanistan erreicht, dass der Terrorismus von Al-Qaida uns von dort aus nicht mehr bedrohen kann, dass eine ganze Generation von Afghaninnen & Afghanen bessere Chancen bekommen hat, dass Frauen & Mädchen Zugang zu Bildung bekommen haben. 11/14
Was wir augenscheinlich nicht erreicht haben, ist ein dauerhaft und umfassend zum Positiven verändertes #Afghanistan. Für die Ziele künftiger Auslandseinsätze sollten wir daraus lernen. 12/14
Deutschland muss und wird weiterhin viel tun: Die Aufnahme weiterer ehemaliger Ortskräfte der Bundeswehr und ihrer Familien, von denen 1700 bereits in Deutschland angekommen sind, aktive Diplomatie, die Unterstützung des Friedensprozesses, Entwicklungszusammenarbeit, 13/14
humanitäre Hilfe, Ausbildung und die Unterstützung des Aufbaus effektiver Staatlichkeit. 14/14
Unklar ist – aus deutscher Sicht – auch weitgehend, was aus den früheren Mitarbeitern der Bundeswehr und anderen Ortskräften deutscher Institutionen wird. Eine scheinbar positive Bilanz des Verteidigungsministeriums offenbart eher die Schwächen:
Denn so positiv 70 Prozent klingen: Es sind, erste Einschränkung, nur die Bundeswehr-Mitarbeiter der vergangenen zwei Jahre erfasst (obwohl diese Einschränkung bereits im Juni gefallen ist). Und von denen wiederum nur die, die bereits eine Aufnahmezusage haben. Und von denen haben es 70 Prozent bereits geschafft. Ob es die anderen schaffen, ganz zu schweigen von denen, die die Jahre zuvor für die Bundeswehr gearbeitet haben – das bleibt offen.
(Weiter ggf. nach Entwicklung)
(Karten: OpenStreetMap)
Ouh Mann, das tut echt weh!
Die Diskussion um die ganze sicherheitspolitische Gemengelage werden hier sicher andere erschöpfend führen.
Meine Frage an Herrn Wiegold und die Mitlesenden:
Wie sieht es aus mit der in einem vorherigen Post mal beworbenen Spenden-initiative für die Unterstützung der Aufnahme der Ortskräfte?
Ist das noch aktuell oder schon auf verlorenem Posten? Wenn da noch Potential besteht, wäre hier ein erneuter Aufruf vielleicht angebracht. Ich kann mir vorstellen, dass das Überleben der einst so wichtigen Ortskräfte nun mittlerweile am seidenen Faden hängt. Wenn das Zeitfenster noch offen ist, in welchem wir, hier aus unserer Wohlfühlzone heraus, noch etwas tun können, dann schließt es sich gerade rapide!
In der Tat ist man über den raschen Vorstoß der Taliban, der teilweise auf unerwartet wenig Widerstand trifft, überrascht, die Gesamtannexion des Landes scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein.
Weniger überraschend finde ich allerdings die Entwicklung hin zur erneuten Machtübernahme der Taliban nach dem Abzug der Amerikaner. Diese kommt nicht unerwartet, und zeichnete sich eigentlich schon seit langem ab, ein entstehendes Machtvakuum wird stets rasch wieder aufgefüllt.
Fragezeichen entstehen natürlich, warum die afghanische Armee, die ja angeblich über Jahre von den Amis, aber auch von der Bundeswehr ausgebildet wurden, so wenig Gegenwehr leisten kann, obwohl ihnen zumindest teilweise Mittel zur Verfügung stehen, die die Talibankämpfer nicht aufweisen können.
Wie kann es dazu kommen? Aus meiner Sicht ist es die enge Verknüpfung der Taliban oder ähnlicher Gruppen mit der Bevölkerung, die tiefe Verwurzelung in der Gesellschaft, die eine wirksame Bekämpfung unmöglich macht. Afghanistan ist nur auf den Landkarten ein eigenständiges Land, in Wirklichkeit ist es ein vielschichtiges Stammesterritorium, welches sich über Jahrhunderte gebildet hat, und mit Animositäten zu kämpfen hat, die die Taliban bei der Rekrutierung neuer Kämpfer geschickt ausnutzen.
Der Westen muss sich erneut eingestehen, dass bestimmte Länder nicht den westlichen Werten unterzuordnen sind, da eigene Traditionen, Kultureigenschaften, und religiöse Leitlinien ihre Dominanz in Denken und Handeln der Leute nicht verlieren werden.
Wir müssen mit der Entwicklung, den Konsequenzen, und den Verlusten leben, die uns unser Engagement am Hindukusch eingebracht hat.
Schon die Idee einer erneuten Intervention mit Bundeswehrsoldaten aus politischen Kalkül ins Spiel zu bringen, halte ich persönlich für absurd!
Das Statement von AKK ist sehr klar formuliert. Klingt wie die Ministeriums-Version einer ag-Posts. *SCNR*
„Für die Ziele künftiger Auslandseinsätze sollten wir daraus lernen. 12/14“. Zum Beispiel hinsichtlich Ausbildung und Ausrüstung. Zwanzig Jahre langes Bemühen und dann der Eindruck, dass alles in ein paar Wochen zusammenbricht. Sollten wir uns bei Interventionen in ähnlich schwachen Staaten künftig darauf beschränken, nur kurzfristige eigene Ziele zu erreichen und dann wieder herauszugehen? Deklinieren wir ein paar Beispiele durch: Vietnam, Kuweit, Panama, Irak, Libyen, Mali.
Kann man dem Biden denn nicht Mal sagen, dass Aussagen wie „Ich bereue den Abzug nicht“ nicht hilfreich sind, um die Schuld Trump zuzuschieben?
„Mit welchem Ziel, mit welcher Strategie, mit welchen Partnern?“
Anscheinend hat man den Briten eine Abfuhr erteilt, als sie nach einer Koalition der Willigen gesucht haben.
Sie Kräfte des 217 Pamir Corps die sich aus Kunduz auf den Flughafen zurückzogen haben kapituliert. Soviel zum Gegenstoß nach taktischem Rückzug
https://mobile.twitter.com/bsarwary/status/1425343311246729218
Es ist ein Missverständnis, das die Ortskräfte der Bundeswehr geholfen habe. Die Bundeswehr hat den Afghanen geholfen, ihren Staat aufzubauen und zu verteidigen. und dabei mit Afghanen zusammengearbeitet. Deutschland hat seit dem Ende des Einsatzes keine Verpflichtungen mehr gegenüber Afghanistan und den entsprechenden Afghanen, aber diese haben weiterhin eine Verpflichtung dazu, für ihr Land zu kämpfen. Jeder Afghane im wehrfähigen Alter, der das Land verlässt, ist einer weniger, der das Land gegen die Taliban verteidigen kann. Man hilft dem Land durch die Aufnahme also nicht.
[Ah, nach langer Pause zurück, und im alten Geist. T.W.]
Must Read:
Rethinking U.S. Efforts on Counterterrorism: Toward a Sustainable Plan Two Decades After 9/11
Cite as Levitt, 12 J. NAT’L SECURITY L. & POL’Y __ (forthcoming 2021)
https://jnslp.com/wp-content/uploads/2021/06/Rethinking_US_Efforts_on_Counterterrorism.pdf
Gretchenfrage: Inwiefern gehören Missionen vergleichbar mit Afghanistan, Irak, Mali in eine derartige Strategie?
Gemäß https://afghanistan.liveuamap.com/en/2021/11-august-protb-sources-claim-tb-has-captured-aliabad-district befinden sich neben Dostum auch Ghani und ATA Mohammed in MEZ um zu mobilisieren.
In meinen Augen wird die Frage, ob von MEZ aus von vorne geführt wird oder nicht die Zukunft Afghanistans entscheiden. Werden die TB aufgrund der Anwesenheit der Hochkaräter, sicherlich HVT aus deren Sicht, ihre Offensive auf MEZ konzentrieren? Was bedeutet dies für das Bild der Kampagnen und die Großlage AFG, wenn in drei Monaten der Winter beginnt.
@AoR
Ghani hat überhaupt keinen Rückhalt im Volk und bei den Powerbrokern, und Dostum wird seine Schäfchen ins Trockene bringen wollen.
Vielleicht kommt es zum Putsch? Jedenfalls scheint Ghani Dostum nich über den Weg zu trauen sonst wäre er wohl in Kabul geblieben.
Nachbrenner Quelle zu MEZ https://mobile.twitter.com/metesohtaoglu/status/1425375197738291203
Aus fem Tweet: Public uprising forces? Also doch Mobilisieren zum „all out civil war“? Das kann niemand wollen.
Besser ein Ende mit Schrecken (wobei das auf die konkrete Ausgestaltung ankommt) als ein Schrecken ohne Ende.
@AoR – im Endeffekt haben die Taliban jetzt den gesamten Nordosten überrannt. Aus Taloqan haben sich die Regierungskräfte noch nach Farkhar und Worsaj zurückgezogen, eine langjährige Jamiat-Hochburg, die die TB zwischendurch eingenommen hatten (wohl weil viele dortige Kämpfer nach Taloqan abgezogen waren). Ein deutscher StOffz würde vielleicht eine gute Gelegenheit sehen, den TB von hier aus in die ungesicherte Flanke zu fallen. Zumal es ganz im Süden von Worsaj eine (nicht-asphaltierte) Straßenverbindung zum Panjshir gibt (den Sard Kotal). ABER – ganz ehrlich, der Sard Kotal wird in vier bis sechs Wochen aufgrund des einsetzenden Schneefalls unpassierbar; es ist eher wahrscheinlich dass die meisten Regierungstreuen jetzt noch weiterziehen ins Panjshir. Die letzten, nicht-lokalen Verteidiger von Feyza dürften auch eher via Keshem auf dem Weg in den Süden sein. In Baghlan wird das Andarab-Tal sicher noch eine Weile zu halten sein und die dortige Passverbindung ins Panjshir bleibt auch länger offen,. Aber alles in allem dürften die TB nicht mit einer „Gegenoffensive“ rechnen müssen. Und das gibt den TB die Gelegenheit, massiv Kräfte aus dem gesamten Nordosten nach Mazar zu verlegen. Schlimmer noch: bisher waren die Angriffe auf Mazar ja von Westen, aus den alten TB-Hochburgen Chemtal und Char Bulak, z.T. auch von Nordwesten (via Dawlatabad). Jetzt können sie via PeK und dem schon gefallenen Aibak (und zusätzlich auch noch über die… ähemm… von DEU auf persönliches Drängen von BM Niebel aus strategischen Gesichtspunkten gebaute Straße Kunduz – Kholm) ihre Verstärkungen heranführen, mit dem Rückenwind den ihre Erfolge ihnen gegeben haben. D.h. Mazar ist jetzt auch von Osten bedroht. Noch schlimmer: genau da liegt dann ja auch der FLughafen – wenn die TB irgendwann mal drohen den Flughafen einzunehmen ist die Moral in Mazar komplett im Eimer. Soviel zum strategischen Setting – „Führung von vorn“ durch die drei genannten kann da nur sehr bedingt was ausrichten: Ghani hat keinerlei Charisma, Dostum steht blamiert da, nachdem die Talibs sein Wohnzimmer erobert haben – und für einen afghanischen Kriegsherrn ist Ehre und Ansehen nunmal fast alles. Atta hat dasselbe Problem, er ist in den letzten Jahren von Ghani systematisch demontiert worden. Sieht einfach nicht gut aus. Und weil viele kleine und mittlere Akteure jetzt genau diese Rechnung machen werden (so wie Senator Asif Azimi in Aibak), sieht es für Mazar momentan ziemlich übel aus. Ist sicherlich noch nicht alles verloren, dazu gibt es zuviele Unbekannte. Aber das Mazar (und Maimana) in naher Zukunft fallen werden ist momentan wohl leider wahrscheinlicher als das Gegenteil.
[Ah, die Straße nach Kholm… da gab’s doch ne heftige Debatte damals.
https://augengeradeaus.net/2010/12/rc-n-watch-feiertags-zusammenfassung/
T.W.]
@Thomas Melber: Bedeutet soviel wie, dass der größte Gefallen, den wir den Afghanen noch tun können der ist, dafür zu sorgen, dass sich da keiner absetzt. /SCNR
Die gute Nachricht ist, es kann uns egal sein, wir sind raus und nehmen Freunde (Ortskräfte) mit.
„Die Taliban sind auf dem Vormarsch.“
Meine Frage ist, lässt sich das nicht konkretisieren? Da muss doch mittlerweile bekannt sein, wie viele Kämpfer die Taliban derzeit mobilisiert haben? Wie die Abstimmung des Vorgehens erfolgt? Wer in welcher Region den Vormarsch der Taliban koordiniert, führt? Welcher dieser Anführer, Kommandeure welche Interessen verfolgt, welcher Partei zugehörig ist? Und wie sind diese Tailbankämpfer tatsächlich in der Bevölkerung verankert? Rekrutieren sich die Kämpfer aus der Bevölkerung selber, oder aus einzelnen Regionen? Reagieren diese Taliban allein auf der Grundlage purer Gewalt? Oder unterstützt die Bevölkerung diese Kämpfer auf breiter Ebene? Und, wo bekommen diese Kämpfer ihre Waffen her? Die klöppeln ihre Gewehre und Munition doch nicht selber zusammen? Sind all diese Sachen nicht bekannt? Oder werden diese Informationen nicht preisgegeben?
Ich stelle mir diese Fragen, weil ich auf der Grundlage der Berichterstattung das Gefühl habe, es mit einem teuflischen Gegner zu tun zu haben. Nur, das ist der doch nicht. Da stecken stecken doch reale Menschen hinter. Und wenn man diese Menschen, gerade die Führungskräfte und ihre Interessenlagen, ihre Finanzierung und Waffenlieferanten klar benennt, erst dann kann man doch gezielt gegen diese Personen und ihre Kämpfer vorgehen, oder?
Oder sind diese Informationen frei verfügbar, nur habe ich sie bisher noch nicht gefunden?
Der Einsatz, das Momentum und der Wille der Taliban binnen Tagesfrist bis entlegene Ecken wie Feyzabad zu gehen, hört sich für mich so an, als wollte man der Entwicklung und Entstehung einer irgend wie gearteten Nordallianz zuvor kommen. Von dem her scheinen alt bekannte Granden solcher Ideen – wie Herr Dostum – wohl einfach zu spät zu kommen. Das nächste Ziel wird Masar sein – andere Ziele sind ja schon kaum mehr übrig. Das erklärt dann wohl auf dem Bild auch den recht leeren Flieger – rückwärts dürfte der deutlich voller gewesen sein. Ob er da noch etwas bewegen kann, um den Fall der Stadt zu verhindern? Er war lange außer Landes; schwer zu sagen ob seine Machtbasis – die Privatarmee – noch intakt ist, auf sein Kommando hört und willens ist mit den Taliban zu kämpfen. Offensichtlich kann man sich ja auch freies Geleit und/oder Privilegien für eine Anerkennung der Taliban Herrschaft aushandeln. So scheinen es zumindest viele der ANA Kommandeure gehandhabt zu haben…
Wer kontrolliert die letzten nicht TB Grenzübergänge, wenn MEZ fällt?
Wer hat dann die polit-ökonomischen Stellschrauben in Afghanistan in der Hand?
Wer liefert im Winter Handels- und Hilfsgüter auf dem Landweg?
Wo ist der Rückzugsraum der Taleban während der COIN/SURGE gewesen?
Wer hat Bin Laden versteckt?
Wer hat im Rahmen des Kreditfinanzierten Konsums Berge an Schulden in China?
6xPAKISTAN
Wer finanziert das dann alles mehr oder minder indirekt über Pakistan und hat Interesse an den natürlichen Ressourcen Afghanistans? China
Wer hat die Lunte gerochen und hofiert jetzt auch die Taleban? Türkei
„Oder sind diese Informationen frei verfügbar, nur habe ich sie bisher noch nicht gefunden?“
Wenn man Informationen veröffentlicht, weiß der Gegner auch welche Informationen (und welche Informationen sie nicht haben) und möglicherweise auch welche Informationsquellen sie haben.
Überlegt man sich immer zweimal, ob man das macht.
@ turan saheb:
Erstmal herzlichen und respektvollen Dank für ihre Analysen.
Bin ich bestärkt in der Annahme, dass MEZ noch vor dem Winter die entscheidende Weichenstellung für das zukünftige Afghanistan bereitet? Mit oder ohne zentrale Schlacht? Und wenn Ansehen alles ist, können sich die Eliten von einem Verlust von MEZ politisch erholen?
[Ehe sich das festsetzt: Bitte für Mazar-e Sharif, abgekürzt MeS, nicht immer MEZ verwenden, die Mitteleuroäische Zeit verwirrt nicht nur an der Stelle, sondern macht auch Suchen schwierig. T.W.]
Etwas politischer Hintergrund zu den Anrainerstaaten findet sich hier:
https://asiatimes.com/2021/08/all-roads-lead-to-the-battle-for-kabul/
Eine ziemliche Gemengelage. Ich schätze ‚mal, daß keiner die Türkei dabei haben möchte.
@ T. Melber. Wie ist Public uprising Forces zu verstehen? Aus der Öffentlichkeit aufwachsende Streitkräfte? Ist da sowas wie „Volkssturm“ MeS gemeint?
MeS, Jawohl.
Am Rande das chinesisch-pakistanische Playbook lanciert auf Xinhua-News: https://mobile.twitter.com/XHNews/status/1425378078251884546
Man sieht sich als Opfer des westlichen Dilettantismus in Form des unorganisierten „Rückzugs“. Nettes Framing …
@T. W.
Mein „alter Geist“ sagt mir eben, dass es unklug ist, die Probleme der Welt unbedingt zu den eigenen machen zu wollen, wenn man nicht über die Mittel verfügt, die Folgen zu bewältigen. Die Probleme Afghanistans sind nun einmal in erster Linie das Problem der Afghanen. Wenn es eine Lehre aus dem gescheiterten Einsatz gibt dann m.E. auch die, dass Deutschland und andere NATO-Staaten sich besser um ihre eigenen Probleme kümmern sollten anstatt sich immer wieder unnötig an Aufgaben zu verheben, die wir nicht lösen können, von denen wir uns aber zumindest isolieren können. Die in Deutschland vorherrschenden Reaktionen auf die Entwicklungen in Afghanistan, die alle nach verstärktem deutschen Engagement rufen, zeigen mir, dass man aus dem Scheitern von ISAF/RS keinerlei Lehren gezogen zu haben scheint.
Die ANA Air Force, taugt noch als Rettungsanker, oder auch nicht?
Rotorflieger
@oryxspioenkop
Taliban forces just captured their first Mi-35 attack helicopter at Kunduz airport.
https://twitter.com/i/status/1425389421944352770
Flächenflieger.
@RisboLensky
Allegedly even pilots surrendered #Kunduz via @shahabLewal.
Seine EMB-314 Super Tucano hat er mitgebracht?
Wenn jetzt schon Piloten von der Fahne gehen, die hinsichtlich persönlicher Lebensumstände sowie der ihrer Familien kaum Anlass zu Klagen haben dürften, zeichnet sich tatsächlich das Ende noch in 2021 ab.
@ AoR – Ja, MeS ist jetzt der aktuell größte Brocken. Es ist eines der vier traditionellen Regionalzentren (außerdem: Herat, Kandahar, Jalalabad). Fällt Mazar ist das psychologisch ein existentieller Schlag für die Regierung. Klar, historische Vergleiche sind immer fragwürdig, aber es war eben Anfang 1992 auch schon der Verlust von Mazar (damals ironischerweise durch den Seitenwechsel von Dostum), der die Kettenreaktion zum Fall von Kabul einleitete. Deshalb kein Zufall, dass Ghani jetzt da ist. Aber Herat, ebenso ein traditionelles Zentrum, ist halt auch schon seit Wochen belagert, dort hält mein „Namensvetter“ Turan Ismail (aka Ismail Khan) mit seinen Milizen noch irgendwie den Deckel drauf. Und auch in Lashkargah ist die Regierung in äußerster Bedrängnis, Fällt Lashkargah könnte als Nächstes Kandahar fallen.
Es gibt also verschiedene Pfade, die realistisch mittelfristig zum Totalkollaps der Republik führen können. Die Regierung muss alle davon abwehren, das macht die Situation so kniffelig. Und eben das (nicht nur, aber doch sehr) afghanische Prinzip der „rollenden Ladung“: neigt sich die Waagschale erkennbar einer Seite zu, rollen immer mehr Akteure auf diese Seite: je frühzeitiger man sich ergibt, umso konzilianter wird man behandelt. Und auch die Zivilbevölkerung ist nicht nur passives, bedauernswertes „Kaninchen“ vor der „Taliban-Schlange“: Teile von z.B. Kunduz haben zuletzt in Flammen gestanden , das wollten dann irgendwann die Wortführer der Bevölkerung nicht mehr ertragen und haben die Regierungstruppen auch moralisch unter Druck gesetzt, den Widerstand einzustellen. Solche Vermittlungen lokaler Ältester hat es zuletzt ziemlich viele gegeben – so sind eigentlich die meisten Distrikte gefallen.
Ich will hier gar nicht irgendwelchem „die Afghanen sollen alle bleiben wo sie sind“ das Wort reden, aber ganz überwiegend verhalten sich die Taliban gegenüber Regierungsanhängern (und sowieso den Ortskräften der Staaten mit denen man in Doha spricht) sehr diszipliniert und entgegenkommend. Die bekannt gewordenen, echten Übergriffe sind fast schon weniger, als es an einem normalen Tag in Afghanistan früher Übergriffe durch Pro-Regierungs-Milizen gab (ich habe lange da gelebt, immer noch viele Kontakte und sag das nicht nur aufgrund Medienberichterstattung). Das soll nicht zynisch klingen sondern das Rational lokaler Akteure verdeutlichen: die Macht-(Wieder-) Übernahme durch die Taliban ist zwar für viele Afghanen eine Katastrophe, aber für eine noch größere Menge aktuell das kleinere Übel.
Wenn Mazar und/oder Herat und/oder Kandahar in den nächsten Wochen fallen, wäre noch nicht einmal das Überleben eines TB-freien Kernafghanistan rund um Kabul garantiert; viele Akteure würden dann wohl das Ende mich Schrecken gegenüber dem endlosen Schrecken bevorzugen und den Widerstand einstellen.
Zitat aus einem Artikel von Zeit-Online:
„US-Präsident Joe Biden sagte, die Afghanen müssten nun „selbst kämpfen, um ihren Staat kämpfen“. Ihre Streitkräfte seien den Taliban militärisch überlegen, auch in Bezug auf die Truppenstärke. „Aber sie müssen auch kämpfen wollen.“ “
Im Prinzip sagt das alles aus, offenbar hat sich das 217. Korps mitsamt Ausrüstung kampflos ergeben. Und das scheint kein Einzelfall zu sein. Dann braucht man sich auch über das schnelle vorrücken der Taliban nicht zu wundern. Nachschub brauchen die auch keinen, den bekommen sie ja frei Haus hingestellt.
Da braucht man über „eingreifen von außen“ oder „Truppen entsenden“ gar nicht nachzudenken. Offensichtlich will die Mehrheit nicht ernsthaft gegen die Taliban kämpfen. Warum sollten wir das tun?
@Dante
https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-08-09/afghan-leader-views-peace-talks-as-dead-prepares-for-civil-war
Übrigens, der AFG Finanzminister hat sich ins Ausland abgesetzt. Hier ein Liveticker:
https://www.aljazeera.com/news/2021/8/11/afghanistan-provinces-city-taliban-ghani-mazar-i-sharif-live-news
Bidens Qualifizierung der afghanischen Soldaten und Polizisten – die von so Vielen kritiklos übernommen wird – „Aber sie müssen auch kämpfen wollen“ ist an arroganter Großmäuigkeit im Angesicht der Tatsachen, dass die afgahnistischen Soldaten und Polizisten – neben den Zivilisten und den Feindkräften – die Hauptlast des Krieges in Todes- und Verletztenzahlen tragen – nicht mehr zu überbieten. Die sind bis heute für ihr Land zu Tausenden gestorben (man Vergleiche nur die Gesamtzahlen der Eigenverluste der Allianz im Verhältnis zu den Gesamtverlusten der ANA und ANP) und haben die ganz Zeit „gekämpft“. Vielleicht hilft es ja, Biden eineNamensliste jener afgahnistischen Soldaten und Polizisten zur Kenntnisnahme zu reichen.
Ich komme mittlerweile zu der Einschätzung, der rasende, sich fast überschlagende Vormarsch und die Übernahme der Macht durch die Talibs ist und war politisch – mit der gesamtstrategischen Neuausrichtung auf China und Rußland als Hauptfeinde – gewollt, dessen Machtergreifung China und Rußland essentiell an ihren weichen Grenzregionen für das Jetzt, für die kommende Jahre und die kommenden Jahrzehnte bedroht und sie zu militärischen Reaktionen zwingt.
Fakt ist, wenn es eine neue Deobandiherrschaft in Kabul geben sollte, wird sie politisch ebenso grausam sein, wie die letzte Herrschaft in Kabul und sie wird wieder sich wieder auf das Hier im politischen „Westen“ auswirken.
Die Bundeswehr beriet die Führung dieses 217. Korps der Afghanischen Armee (ANA) bei der Planung und Durchführung militärischer Operationen.
„Wir arbeiten daran, die afghanischen Sicherheitskräfte so zu ertüchtigen, dass sie selbst auf Dauer für Sicherheit im Land sorgen können“, sagt AKK voller Blauäugigkeit 2019 nach dem Treffen mit dem Kommandeur von Resolute Support, Austin S. Miller. Das haben ihr nicht Politiker sondern Soldaten aufgeschrieben!
Hat also niemad ahnen können, was man so für „Verbündete“ ausbildet? Haben alle Frühwarnsysteme versagt? Haben wir also keine Möglichkeiten gehabt, Anzeichen eines völligen Versagens der Ausbildungsunterstützug zu erkennen. Die NATO traute den Kapazitäten der afghanischen Regierung und auch der afghanischen Armee nicht. Aber trotzdem haben alle weitergemacht und schön geredet. Jetzt schiebt man die komplette Verantwortung auf die „Politik“ und redet von „erfüllten Aufträgen“. War man den blind? Keine Fehler gemacht als Bundeswehr? Ist man in Mali wieder blind? Alles „alternativlos“? Nun warten wir auf die angekündigte Aufbereitung, mal sehen was daraus wird…..
@turan saheb: Auch die Taleban haben sich entwickelt und es ist anzunehmen, dass diese tatsächlich eine @Melbersche „Hearts and Minds“ Kampagne starten.
Es ist weitreichend bekannt wie brutal die Warlords mit z.B Kriegsgefangenen umgehen und wie afghanische Militär die eigenen Soldaten behandeln. Auch wie Korrupt sie sind.
In zwanzig Jahren haben die von uns unterstützten Kreise es nicht geschafft ein Vertrauen in den republikanischen Gedanken, die zugrundeliegende Idee und Ideal des Gesellschaftsvertrages zu etablieren hin zu einem Punkt wo Menschen dem Prinzip „Tot oder Freiheit, Freiheit oder Tot“ folgen. Wie bereits betont, Soldaten der BW erobern eine afghanische Ortschaft in NIEMAND kommt um eine politische Strategie zu implementieren.
@Pio-Fritz hat Biden hier ja zitiert und die lokalen Eliten müssen es jetzt für sich selbst richten. In meinen Augen ist das alles die gesunden Knochen keines einzigen Pommerschen Grenadiers mehr wert.
Aber eine Frage treibt mich um: Werden die Taleban tatsächlich die großen Zentren einnehmen? Wie wollen die das alimentieren? Oder werden die einen Rumpfstaat am Leben erhalten mit Kabul in der Mitte welchen der Westen alimentiert um das Gesicht zu wahren? So ein bisschen Hezbollah-like…
Immerhin tut sich etwas seitens des GIRoA – man plant Gegenschläge:
https://www.aljazeera.com/news/2021/8/11/afghanistans-interior-minister-reveals-plan-to-push-back-taliban
Hier wird auch etwas über die „uprising forces“ berichtet, lokale Milizen.
@dieandereMeinung
Ich war zunächst auch ihrer Meinung, allerdings: was hätte das 217. Korps tun sollen? Sich – kämpfend – zurückzuziehen? Dazu sollte man auch eigenbeweglich sein, und die Versorgungslage könnte angespannt gewesen sein. Von daher war die Kapitulation durchaus eine Option, wobei das Bleiben vor Ort bzw. Operieren von der Basis aus sicher TB Kr gebunden hätte.
Daß Material nicht unbrauchbar gemacht wurde ist wohl Teil des Deals mit den TB.
Mal eine Frage, in den Medien lassen sich ja Politiker und Ex Generäle aus. Wie ist aber die Stimmung in den unteren Rängen, die selbst vor Ort waren und nun sehen, dass nach 20 Jahren in kürzester Zeit nur noch ein Scherbenhaufen übrig bleibt?
@Andreas
Das hängt wohl stark von der Motivation zum Einsatz und dem Involvement ab. Ich denke, die niedrigeren Ränge (insb. Mannschafter) und die höheren (a15 aufwärts) berührt das eher wenig, bei den unteren gilt vielleicht „stumpf ist Trumpf“ und oben sieht man das professionell (Auftrag bekommen und abgearbeitet).
Die mittlere Ebene nimmt das wohl stärker mit, insbesondere natürlich wenn Kameraden vor Ort geblieben sind oder Schäden davon getragen haben.
Wie gesagt, das ist eine persönliche Einschätzung. Es ist immer die frage, wie weit man einen Einsatz an sich herankommen lassen darf (so wie in den sozialen / medizinischen Berufen). Man muß „loslassen“ können.
Tatsächlich ein Hauch von Saigon?
https://www.politico.com/newsletters/national-security-daily/2021/08/11/us-weighing-possible-evacuation-of-kabul-embassy-sources-say-493941
Sollte die U.S. Botschaft wirklich geräumt werden, käme dies dem Hissen der weißen Flagge gleich.
Die derzeit erkennbare Lage ist Folge der Biden-Entscheidung zum Rückzug bis 11. September. Diese enge Terminsetzung ist fahrlässig, die konkrete Terminierung laienhaft aus strategischer Sicht.
Der bedingungslose Rückzug der verbündeten Truppen untergrub die Moral der ANA und jegliche Verhandlungsposition mit möglicher Einflussnahme auf die TB, Weder besteht ein politischer, noch gar ein bedeutsamer militärischer Hebel zur Gegensteuerung.
Die Fragmentierung des Staates nimmt Fahrt auf. Nicht wundern sollte daher, wenn die TB nach der Machteroberung erkennen müssen, es gibt Konkurrenz.
fortressonathehill sagt:
11.08.2021 um 17:48 Uhr
„Ich komme mittlerweile zu der Einschätzung, der rasende, sich fast überschlagende Vormarsch und die Übernahme der Macht durch die Talibs ist und war politisch – mit der gesamtstrategischen Neuausrichtung auf China und Rußland als Hauptfeinde – gewollt, dessen Machtergreifung China und Rußland essentiell an ihren weichen Grenzregionen für das Jetzt, für die kommende Jahre und die kommenden Jahrzehnte bedroht und sie zu militärischen Reaktionen zwingt.“
Dumm nur, wenn diese Idee auch in China, Russland und bei den Taliban bekannt ist und diese 3 sich alle einig sind gemeinsam gegen den Westen zu agieren.
Dann hat man als Westen (USA) eigentlich alles verloren und die Gegner alles gewonnen.
Und so blöde sind die Taliban auch nicht, wie man sie immer darstellt.
Die haben immerhin sich mit den richtigen verbrüdert (beispielsweise Pakistan), denn sonst wären sie nicht da wo sie jetzt sind.
@ AoR
Die Bundeswehr hat in AFG zu keinem Zeitpunkt „eine Ortschaft erobert.“ Hört doch endlich auf mit diesem bombastischen Selbstbetrug. Die Bilanz der BW in AFG ist ernüchternd. Man ist etwas rumgefahren (Patrouille) und die ‚Taliban‘ standen als Zivilisten am Strassenrand und haben zumeist teilnahmslos zugeguckt. (Hierüber gibt es eine gute TV-Dokumentation aus Sicht der Taliban.) Mich erinnert dieses Narrativ „Die-BW-hat-den-Job-gemacht-aber-die-Zivilisten-haben-versagt“ stark an die Dolchstosslegende nach dem 1.WK (Im-Felde-unbesiegt). Die BW sollte sich im Interesse von Einsatzauswertung lieber eingestehen, dass sie den Krieg in AFG krachend verloren hat (Krieg im Sinne Von COIN / „La Guerre Moderne“ (Roger Trinquier, 1961)) und die notwendigen Konsequenzen ziehen. Stattdessen erleben wir alle, wie sich die BW selbst feiert (Grosser Zapfenstreich!) und mit den selben falschen Operativen Konzepten und Taktischen Einsatzverfahren nun in Mali rumdilletiert.
TaDa 1+
Stimme ihnen vollumfänglich zu. Die Argumentation für die Aufnahme von ehem. Ortskräften ist unlogisch. Es ergeben sich ja schließlich auch Soldaten und Milizkräfte, die offen gegen die Taliban gekämpft haben. Wieso sollten da nichtkämpfende Ortskräfte nun stärker bedroht sein. Unlogisch, die ganze Debatte und mal wieder typischer unreflektierter DEU ‚Gutmenschen‘-Aktionismus.
Must Read:
Bilanz zum Afghanistan-Einsatz
„Da sind CIA-Teams mit Geldkoffern eingeflogen“
N-TV.de Mittwoch, 11. August 2021
„Massive Fehler der Alliierten ließen den Afghanistan-Einsatz scheitern, so sieht es Experte Thomas Ruttig und erklärt, wo die Gründe liegen.“
Nach Lektüre doch bitte nochmal Präsident Bidens Ansage „sie müssen kämpfen wollen“ auf der Zunge zergehen lassen, die Welt aus den Augen eines afghanischen 20 jährigen sehen.
Auf die Gefahr hin, dass mich die Altmännerriege wieder der einseitigen Parteinahme, der Voreingenommenheit, gar der Beschränkung der Meinungsfreiheit zeiht: Wir fangen jetzt nicht mit den ideologischen Bewertungen im Stil von „Gutmenschen-Aktionismus“ an. Ich rede ja auch nicht von einer Herrenmenschen-Attitüde bei solchen Ansichten.
@TaDa
Vielen Dank, aber so ist das Diskussionsklima in Deutschland leider. Vor einigen Jahren stieß ich auf ähnliche Reaktionen, als ich auf die oben von „Sindbad“ angesprochenen Probleme hinwies. In Deutschland wird eben nicht argumentiert, sondern mit Vorliebe moralisiert. Damals war man ein böser Mensch wenn man auf den von Sindbad erwähnten Selbstbetrug hinwies, und heute ist man ein böser Mensch, wenn man darauf hinweist, dass man die auch in Folge dieses Selbstbetrugs entstandenen sicherheitspolitischen Probleme nicht durch die Ausreise möglichst vieler Afghanen gelöst werden.
Dem Vernehmen nach soll aber demnächst eine Plattform reaktiviert werden, auf der sicherheitspolitische und militärische Profis sich aus professioneller (und nicht aus moralisierender) Sicht mit den entsprechenden auseinandersetzen werden. Hier besteht in Deutschland eine echte Lücke.
[Ich sehe mit gewisser Belustigung, dass sich jetzt einige hier zusammenfinden, um darüber zu diskutieren, wie mies es hier ist. Niemand wird gezwungen, hier mitzulesen und zu -kommentieren, wenn er es nur für eine „moralisierende“ Plattform hält. T.W.]
@Sindbad: Nur weil es hinkt ist es noch kein Vergleich. Der Vormarsch der Taleban ist für mich nur insofern – bei Kräfteverhältnissen 75.000 zu 300.000 – nachzuvollziehen, als dass die am Straßenrand stehenden irgendwie keinen Unterschied zwischen TB-Shariah und ANA/Zentralregierung-Korruption und Despotismus sehen. @turan bringt es da ganz gut auf den Punkt; die lokals wollen den Friedhof klein halten.
Und wenn die Eliten in Kabul den Jungen aus MeS und Kundus keinen drifteten Grund liefern, für den sie ihr Leben aufs Spiel setzen sollen, dann tun die es nicht, weder in Zivil noch in Uniform.
Ich verweise nochmals auf den Presseklub mit @T.W., das Interview mit @Thomas Ruttig.
P.S: Die Kameraden der BW haben gekämpft.
@Orontes:
Why America Loses Wars
By George Friedman – August 10, 2021
https://geopoliticalfutures.com/why-america-loses-wars/
Sie meinen eine Plattform auf Ebene des oben verlinkten Stils?
Höflicher Hinweis: Das Zitat „einen Krieg zu gewinnen und den Frieden zu verlieren „ ist nicht moralisierend, sondern SiPo-Analyse auf höchstem Niveau und beschreibt treffend, was in Afghanistan passiert ist.
P.S: Lassen sie die ehemaligen Ortskräfte mal 3 Jahre in Deutschland sein und die Taleban in ihrem Sud kochen. Dann reden wir „Strategy“
@ AoR
„Die Kameraden der BW haben gekämpft.“
Ich finde es hochinteressant wie sie es mit diesem Fazit nach wie vor partout vermeiden wollen, von einer NIEDERLAGE der BW in AFG zu sprechen.
Was jeder einzelne BW-Angehörige in AFG gemacht hat, das weiss jeder selber. Die meisten sind aber ehrlicherweise nie aus dem Lager rausgekommen und in so manchem „Logistik-Container“ in MeS befand sich ein Swimming Pool mit Sandstrand.
NICHT jeder BW Angevörige hat in AFG gekämpft.
;-)
Zum Wiederfinden mal hierhin: DLF-Interview mit der Verteidigungsministerin am 12. August, u.a. Aussagen zu Ortskräften:
https://www.deutschlandfunk.de/verteidigungsministerin-kramp-karrenbauer-es-ist-nicht.694.de.html?dram:article_id=501588
@Sindbad: Exakt! Nicht jeder Kamerad hat direkt gekämpft.
Ich würde vorschlagen, dass man sich die Mandate des Bundestages nochmal vor Augen hält und den Auftrag subsumiert.
Z.B war es der Auftrag dort Soldaten / der BW auszubilden. Das hat man erfolgreich getan.
Es war nicht der Auftrag, den Eliten Good Governance einzutrichtern. Es war auch nicht der Auftrag, den ausgebildeten Soldaten zu vermitteln, für etwas zu kämpfen, an was sie womöglich nicht glauben.
Und so könnten wir das jetzt für 20 Jahre fortsetzen und kämen zu den Ergebnissen, welche im Sicherheitshalber zum Thema Afghanistan bereits vorgestellt wurden.
Der Bundestag hat nie den Auftrag erteilt, als Teil einer Allianz von 1.000.000 Soldaten der NATO für unbestimmte Zeit vor Ort zu bleiben und kämpfend (COIN/SURGE) State- und Nationbuilding zu zementieren bis zu dem Punkt ab dem die NGO Freedom House AFG als „Free“ einstuft.
Denn das implizieren sie, wenn sie von NIEDERLAGE sprechen. Es liegt jetzt in der Hand Kabuls. Und wenn Kabul nicht funktioniert, dann müssen wir damit leben.
Was mir weh tut ist, dass Kameraden dort ihr Leben gelassen haben, seelische und körperliche Verwundungen mitgebracht haben. Denn bei denen liegt unsere eigentliche Schuld.
@ TW Interview AKK
Sorry, Frau BM, aber wieso sollen wir Leute die in unserem Lager Ziviljobs geleistet haben nun nach DEU holen, aber gleichzeitig unsere Waffenbrüder der ANDSF die mit uns und für ihr Land nicht mit dem Putzlappen, sondern mit der Waffe in der Hand und unter Einsatz ihres Lebens gefochten haben in AFG zurücklassen?!
Ihr Statement ist für mich unlogisch. Entweder holen sie alle raus die mit uns zusammengearbeitet haben oder keinen. Im ersteren Fall umfasst das dann selbstverständlich ALLE ANDSF des TAAC N von 2003 bis 2021 und ihre Angehörigen.
Sindbad sagt: 12.08.2021 um 8:36 Uhr
„Hört doch endlich auf mit diesem bombastischen Selbstbetrug.“
Sie müssen endlich lernen, die Dinge im richtigen Kontext zu betrachten. DIE Bundeswehr (allein) hat in Afghanistan gar nichts gemacht. Das Handeln der Bundeswehr (wenn man das so nennen kann) ist also im Kontext der NATO zu sehen. DIE Bundeswehr hat deshalb dort auch keinen Krieg oder Brunnenbohren oder sonstwas, auf alleiniges Geheiss der deutschen Politik betrieben. Wenn, dann war das „Umsetzung von Bündnisentscheidungen“ und das Bündnis ist gescheitert. Das ist ein wichtiger Unterschied. Die Strategie dieses Einsatzes war eben nicht durch die deutsche Politik zu entscheiden, sondern auf der politischen Ebene der NATO. Also mit deutscher Beteiligung, aber eben nicht von Deutschen allein.
Ebenso wichtig. Die operative Führung dieses Einsatzes erfolgte durch ein multinational besetztes NATO-HQ im Einsatzland (Kabul). Die falschen operativen Konzepte, die dann wohl dort (HQ ISAF/HQ RS) erarbeitet wurden, sind also auch nicht DER Bundeswehr anzulasten. Die operatven Konzepte wurden eben mit deutscher Beteiligung, aber nicht von Deutschen allein entwickelt.
Diese beiden Dinge werden hier immer wieder „vergessen“. Stattdessen wird das immer gleiche Narrativ vom Versagen deutscher Politik und der Bundeswehr in Endlosschleifen wiederholt. das ist falsch
Ergo: Feiert sich die Bundeswehr nicht scheinheilig selbst, nur weil ein Großer Zapfenstreich stattfindet.
@ Sindbad
Das Gleiche gilt übrigens für MINUSMA bzw. EUTM in Mali.
Streiche nur jeweils NATO und setze UN bzw. EU (MPCC).
Legen Sie einfach Ihre nationalen Scheuklappen ab.
ich würde bezüglich der Ortskräfte ebenfalls anführen, dass sie
1.) Für Ihre Tätigkeit nach afghanischen Verhältnissen ordentlich entlohnt wurden.
2.) Es sich bei Ihnen um Hochwertpersonal handelt, dass auch ein afghansicher Staat unter Taliban herrschaft gut gebrauchen kann und daher eher schonen wird
3.)Die „moralische Verantwortung“ sich mir nicht so recht erschließen will da es doch Deutschland war, das mehr als eine Dekade Unsummen und das Leben eigener Soldaten dafür investiert hat in Afghanistan bessere Lebensbedingungen (neben den eigenen Sicherheitsinteressen) zu schaffen. Eingentlich wären daher doch die Afghanen den Deutschen moralisch verpflichtet sind und nicht umgekehrt.
4.) Es wie Orontes/Sindbad richtig anführen völlig unlogisch ist, warum deutsches Hilfspersonal ohne aktive Kampfbeteiligung besonders gefährdet sein soll. Selbst Afghanische Soldaten die aktiv gekämpft haben werden von den Taliban nach Kapitulation bisher, von Ausnahmen abgesehen, doch schlicht entwaffnet und nach Hause geschickt.
Das Narrativ man müsse schnellstmöglich Tausende Ausfliegen weil die sonst sofort massakriert würden ist objektiv nicht von der Realität gedeckt.
Schlussendlich haben westliche Streitkräfte vor in unterschiedlichen Einsatzländern, schon aus ökonomischen Gründen, immer hilfsbereites Personal gefunden egal wie bei vergangenen Einsaätzen mit Personal verfahren wurde. Das Argument man werde nie wieder lokale Kräfte rekrutieren könne sofern man jezt nicht Alle aus Afgh ausfliegt trägt also auch nicht.
Alles in allem erscheint mir die Debatte zu diesem Thema daher tatsächlich eher gesinnungsethisch und weniger argumentativ rational zu verlaufen.