Neues Luftverteidigungssystem TLVS: Jetzt Ausstieg der Industrie?

Das geplante neue Taktische Luftverteidigungssystem (TLVS) für die Bundeswehr lässt seit Jahren auf sich warten, ein Vertragsabschluss ist nicht in Sicht – und jetzt scheint es, dass die Industrie das milliardenschwere Projekt nicht weiter verfolgen will. Das Unternehmen MBDA Deutschland kündigte eine Restrukturierung an, weil absehbar für das neue Luftverteidigungssystem keine Mittel im Haushalt bereitstünden. Ob das das Aus für TLVS bedeutet, ist formal noch unklar.

In einer Mitteilung am (heutigen) Donnerstag verweist MBDA Deutschland, eine Tochterfirma der Rüstungsunternehmen Airbus, BAE Systems und Leonardo, auf die Bereinigungssitzung für den Verteidigungshaushalt des kommenden Jahres. Darin wurden, eher symbolisch, zwei Millionen Euro für TLVS eingestellt. Angesichts der Vorleistungen, die das Unternehmen in den vergangenen fünf Jahren erbracht habe, reiche das nicht aus, die Entwicklung weiterzuführen.

Aus der MBDA-Mitteilung:

Nach der Bereinigungssitzung am 26. November 2020 ist das Taktische Luftverteidigungssystem (TLVS) lediglich mit einem sehr geringen Sockelbetrag im Bundeshaushalt vorgesehen. Ein Vertragsschluss zur Realisierung TLVS ist in 2021 nicht mehr geplant. Die Bundesverteidigungsministerin kündigte stattdessen an, die Luftverteidigung in ihrer Gesamtheit prüfen und bewerten zu wollen. Ein Ergebnis der Bewertung soll in den ersten Monaten des nächsten Jahres vorliegen.
Thomas Gottschild, Geschäftsführer MBDA Deutschland, kündigte daraufhin eine Restrukturierung des Unternehmens an: „Wir nehmen die Vertagung der Entscheidung zur Kenntnis. Trotz eines entscheidungsreifen Angebots, sind die für TLVS notwendigen Haushaltsmittel weder für 2021 noch im mittelfristigen Finanzplan ausgewiesen. Aufgrund dieser Entwicklung sind wir gezwungen eine Restrukturierung des Unternehmens durchzuführen. Die notwendigen Maßnahmen werden derzeit erarbeitet und in den nächsten Wochen mit den zuständigen Gremien, dem Betriebsrat, den Führungskräften und Vertretern der Kundenseite diskutiert. Dies schließt die Diskussion über die Möglichkeiten der Fortführung des Vergabeverfahrens TLVS und den Erhalt der Schlüsselqualifikationen im Bereich Luftverteidigung für Deutschland mit ein.“
Seit der Auswahlentscheidung 2015 arbeitet MBDA Deutschland mit dem deutschen Kunden an der Realisierung von TLVS. Das Unternehmen hat insgesamt 150 Millionen Euro in das Projekt investiert, um über diesen langen Zeitraum Kernkompetenzen im Bereich Luftverteidigung zu erhalten und auszubauen sowie die geforderten Angebote zu erstellen und zu verhandeln.

Der MBDA-Geschäftsführer bezieht sich dabei auf die Aussagen von Ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer  in der Regierungsbefragung des Bundestages am 25. November:

Wir werden uns über die Frage bodengebundener Luftverteidigung unterhalten müssen. Das ist nicht nur eine Frage der technischen Fähigkeiten mit Blick auf das Thema TLVS, sondern es bedarf einer Gesamtbetrachtung der unterschiedlichen Schichten – wenn Sie so wollen –, in denen Verteidigung stattfindet. Dazu gehören auch die Fragen, wo wir Fähigkeitslücken haben, wo wir in die Modernisierung gehen, wie wir in den internationalen Kooperationen stehen und wie das Ganze über die Zeitachsen finanziert werden könnte.Ich habe im Haushaltsausschuss angekündigt, dass ich diese Entscheidungsmatrix in den ersten Monaten des nächsten Jahres vorlegen werde.

In den Aussagen zu den Konsequenzen bleibt MBDA noch vage – Restrukturierung ist zunächst mal keine konkrete Aussage über den Fortgang des Projekts. Ein Unternehmenssprecher machte auf Anfrage allerdings deutlich: MBDA Deutschland sei nach fünf Jahren Entwicklung nicht in der Lage, die weiteren Arbeiten aus eigener Tasche zu finanzieren. Bei einer Restrukturierung gehe es darum, die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens und das Know-how zu erhalten.

Was – noch – nicht so offen gesagt wird: Dabei geht es natürlich auch um Arbeitsplätze. Rund 6.000 Mitarbeiter, sowohl bei MBDA selbst als auch bei Zulieferern, wären nach den offiziellen Angaben von einem Aus für TLVS betroffen.

Das Taktische Luftverteidigungssystem soll nach der bisherigen Planung im kommenden Jahrzehnt das Flugabwehrsystem Patriot ablösen – auch und gerade mit der Fähigkeit zur Abwehr ballistischer Raketen. Das Projekt beruht auf Vorarbeiten des früheren amerikanisch-deutsch-italienischen Vorhabens MEADS (Medium Extended Air Defense System). Nach dem Ausstieg der USA hatte Deutschland die Fortführung in Angriff genommen.

Allerdings zieht sich dieses Projekt seit Jahren hin und wird zunehmend teurer. Im September 2016 hatte MBDA Deutschland ein Angebot mit einem Umfang von fünf Milliarden Euro vorgelegt;  kurz danach zeichneten sich allerdings bereits doppelt so hohe Kosten ab. Zusätzlich erschwert wurde das Projekt durch die Abhängigkeit von bestimmten Teilen des Systems, über die nur die USA verfügen.

Mit der Ankündigung von MBDA Deutschland steht das Gesamtsystem infrage – und damit auch das weitere Vorgehen der Luftwaffe für den Ersatz der derzeitigen Patriot-Systeme.

(Grafik: MBDA Deutschland)