Exercise Watch: „Military Mobility“ für die VJTF und erste Logistik-Übung

Kurz nach Mitternacht rollen die ersten Panzer auf die Autobahnraststätte Żarska Wieś, wenige Kilometer hinter der deutsch-polnischen Grenze bei Görlitz. Mit 19 schweren Gefechtsfahrzeugen, vom Leopard2-Kampfpanzer bis zur Panzerhaubitze 2000, sind Teile der NATO-Speerspitze, der Very High Readiness Joint Task Force (VJTF), auf Kette auf dem Weg zum Truppenübungsplatz Zagan im Westen Polens. Die Panzer und die Soldaten kommen im Wesentlichen von der Panzerlehrbrigade 9 der Bundeswehr, die in diesem Jahr Kern und Führung der VJTF stellt. Noble Jump heißt die (regelmäßige) Verlegeübung, mit der die NATO die jeweils aktuellen VJTF-Truppenteile auf den Marsch schickt – um zu zeigen, dass die verlangte Verlegung innerhalb weniger Tage nach Alarmierung auch funktioniert.

Der Autobahn-Stopp in Żarska Wieś dient vor allem der Übergabe der Marschbegleitung von den deutschen Feldjägern an die polnische Militärpolizei. Die Raststätte ist der Übergabepunkt für die, wie es im NATO-Jargon heißt, Movement Control (MOVCON) von Deutschland an Polen – denn eine Grenzstation zwischen beiden Schengen-Ländern gibt es auf der Autobahn A4 gar nicht. Im MOVCON-Zelt der polnischen Armee wird Oberstleutnant Michael Wagner, Marschführer und Kommandeur des Panzerlehrbataillons 93, für die weitere Strecke bis nach Zagan gebrieft. Vor allem über Problemstellen wie Brücken, die von den schweren Gefechtsfahrzeugen nur einzeln passiert werden dürfen.

Zwar hat die deutsche VJTF-Truppe vorab für jedes Fahrzeug schon das Zoll-Formblatt 302 – im Behördendeutsch: den NATO-Versandschein – ausfüllen müssen. Doch an der Grenze geht es nicht mehr um Zollverfahren und die Anmeldung von Gerät: Die Übergabe dient praktisch nur noch der Verkehrssicherheit. Die polnischen Kameraden haben ein Verfahren, da könnte man eine Vorschrift drauf aufbauen, lobt Bundeswehr-Brigadegeneral Ullrich Spannuth, der Kommandeur der VJTF-Brigade. Einzige Formalität in Żarska Wieś: Der mit Kreide auf die Panzer gemalte deutsche Marschkredit wird abgewischt und durch einen polnischen Marschkredit ersetzt. Das gewollte Signal: Die schnelle Verlegefähigkeit der Truppen über nationale Grenzen innerhalb der Allianz, die military mobility, haben die NATO-Truppen schon weitgehend erreicht.

Die ganze Verlegung findet, so der Bundeswehrbegriff, unter Friedensbedingungen statt. Damit gelten, in Polen wie in Deutschland, die üblichen nationalen – zivilen – Bestimmungen für Straßenverkehr und Schwertransporte. Schließlich soll die NATO-Speerspitze, so der Grundgedanke bei ihrer Einrichtung im September 2014 auf dem Gipfel der Allianz in Wales, ein Paket schnell bereitstehender und verlegbarer Truppen sein – die das Bündnis als Zeichen von Entschlossenheit und Abschreckung auch demonstrativ dann einsetzen kann, wenn von der kollektiven Verteidigung der NATO (noch) nicht die Rede ist. Mit anderen Worten: Wenn die VJTF unterwegs ist, gelten noch lange nicht Kriegsbestimmungen.

Der Vorrang ziviler Sicherheitsvorschriften hatte sich zuvor schon auf der deutschen Seite gezeigt, auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz wenige Kilometer vor der Grenze. Das Trainingsgelände hatte die Bundeswehr als nationales Aufmarschgebiet definiert, wo die deutschen VJTF-Truppen zusammengezogen, verpflegt und ausgestattet wurden – mit einer wichtigen Ausnahme: Munition wurde an die Soldaten der Speerspitze dort nicht ausgegeben. Da sprechen die Bestimmungen im Frieden dagegen, sagt Oberstleutnant Thorsten Hamann, Referatsleiter im Kommando Streitkräftebasis (SKB) der Bundeswehr.

Auch ohne Munitionslieferungen hatte die Streitkräftebasis in der Oberlausitz genug zu tun – denn, überraschend genug: Dort probierte die Bundeswehr erstmals aus, wie deutsche VJTF-Verbände denn bei Bedarf von der eigenen Truppe logistisch unterstützt werden können. Das haben wir noch nie gemacht, gibt Hamann zu: Die konkrete Organisation der Logistik für die NATO-Speerspitze unter den anspruchsvollen Zeit- und Alarmierungsbedingungen der NATO hatte die Bundeswehr bislang schlicht nicht geübt.

Moment. War nicht die Großübung Trident Juncture in Norwegen im vergangenen Jahr nicht genau der Test für Speerspitze und ihre Unterstützer? Trident Juncture darf keine Blaupause sein für den Einsatz der VJTF, warnt Hamann. Da habe es jahrelange Vorbereitung gegeben, und es sei einzig und allein um den Beweis gegangen, dass die NATO eine solch große Verlegung rechtzeitig hinbekommt. Aber das wirkliche Zusammenspiel, das wir hier üben, hat da nicht stattgefunden.

Und so hat die SKB den Aufmarsch der VJTF zu ihrer eigenen Übung erklärt: Brave Departure wurde das Vorhaben getauft, ein rein nationales Manöver, mit dem Material und Personal der Speerspitze praktisch bis an die Grenze eines Einsatzlandes gebracht werden. Schließlich, sagt Hamann, sei das für einen Einsatz deutscher VJTF-Truppen das wahrscheinlichste Szenario.

Ausführlich erläutert das Generalleutnant Peter Bohrer, der stellvertretende Inspekteur der Streitkräftebasis:

Bohrer SKB Brave Departure 03jun2019     

 

Die dafür vorgesehenen Einheiten und Verbände, vor allem das Logistikbataillon 172 aus Beelitz, stehen zwar schon seit mehr als einem Jahr fest, als die Vorbereitung der deutsch geführten VJTF begann. Und wie die Kampftruppen sind auch die Unterstützungseinheiten seit Januar 2019 in Bereitschaft, innerhalb weniger Tage zu verlegen – eigentlich sogar ein bisschen mehr, weil die Logistik schon parat sein muss, wenn die Kampftruppe ankommt.

Doch die Steuerung für diese nationale Unterstüzung wurde, auch das überraschend, erst im Herbst vergangenen Jahres eingerichtet: Das so genannte Aufmarschführende Kommando, angesiedelt im Kommando der Streitkräftebasis in Bonn. In der Oberlausitz gab es damit jetzt den ersten Anlauf, im realen Leben zu testen, ob diese Dinge funktionieren, sagt Oberstleutnant Torsten Wiegel, Referatsleiter der Einsatzabteilung in der SKB und der Kommandeur der deutschen VJTF-Unterstützungskräfte.

Da war es dann aus deutscher Sicht ganz gut, dass Norweger und Niederländer, eigentlich integraler Bestandteil der von Spannuth geführten VJTF-Brigade, für Noble Jump ihren eigenen Anmarsch nach Zagan geplant hatten. Das mit der Logistik multinational zu organisieren, räumt Wiegel ein, hätte uns vor Probleme gestellt.

Nachtrag: Die Norweger verlegten, s. oben, direkt nach Zagan:

(Fotos: Briefing der Panzerkommandanten für den Weitermarsch in Żarska Wieś / Briefing durch die polnische MOVCON / Deutscher und polnischer Marschkredit auf einem Dingo / Entladung eines Pionierpanzer Dachs auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz – mehr Fotos:
Brave Departure
Noble Jump )