Trident Juncture: Es geht nicht nur um den Kampf um die Brücke von Telneset

Ein Hägglund-Geländefahrzeug des Gebirgsjägerbataillons 232 fährt vor der Brücke von Telneset auf eine norwegische Pionierfähre über die Glomma

Hier an der Brücke von Telneset beginnt der Krieg, und hier wird er auch zu Ende gehen. Wo die Reichsstraße 720 nördlich der norwegischen Provinzstadt Tynset die Glomma quert, eröffnet der Gegner den Angriff auf die NATO-Truppen. Den Opposing Forces (OpFor), gestellt von zwei norwegischen Bataillonen und dem deutschen Gebirgsjägerbataillon 232, stehen drei NATO-Brigaden gegenüber.

In gut einer Woche werden die Verteidiger, darunter die deutsch geführte Landbrigade der NATO-Speerspitze, der Very High Readiness Joint Task Force (VJTF) 2019, die Angreifer zurückgeschlagen haben. Mit dem erneuten Übergang der ausweichenden Angreifer über die Glomma, dann auf einer norwegischen Pionierfähre, endet die Live Exercise der Großübung Trident Juncture 2018.

Die Brücke von Telneset markiert auf der Übersichtskarte von Norwegen (die Koordinaten: 32VNQ9780813444)

Die LiveEx als Gefechtsphase der Großübung in Norwegen, die die Allianz seit Jahren vorbereitet hat, ist zwar der offensichtlichste militärische Teil des Manövergeschehens bei Trident Juncture. Doch wenn sich die  Einheiten beider Seiten – wie zu Zeiten der Blockkonfrontation ist ganz offen von Rot und Blau die Rede – in Marsch setzen und entlang eines Drehbuchs im unwegsamen Gelände aus Bergen, Wäldern und Sumpf das Gefecht üben, ist ein wesentlicher Teil dieser Übung schon gelaufen. Tatsächlich begannen die ersten Truppenteile bereits zum Start der LiveEx am 25. Oktober mit der Rückverlegung.

In ihrer größten Übung seit 2002 – damals waren ebenfalls in Norwegen rund 40.000 Soldaten an dem Manöver Strong Resolve beteiligt – trainiert die Allianz mit rund 50.000 Soldaten den Beistandsfall: Truppen aller NATO-Staaten kommen einem von einem Angriff bedrohten Mitgliedsland zu Hilfe. Der massive Aufmarsch zu Lande, zu Wasser und in der Luft dient allerdings nur zu einem Teil der tatsächlichen Gefechtsübung in der Mitte Norwegens. Mindestens genau so wichtig ist für das Bündnis die Demonstration, diese Kräfte innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit mobilisieren, in Marsch setzen und auch an ihr Ziel bringen zu können.

Das gilt vor allem für die Deutschen. Die Bundeswehr ist mit rund 8.000 Soldatinnen und Soldaten in Norwegen selbst beteiligt, rund 4.000 Fahrzeuge wurden nach Skandinavien verschifft oder per Bahn über Schweden transportiert. Der zweitgrößte Truppensteller bei Trident Juncture, nach den USA und noch vor dem Gastgeberland Norwegen, hat an dieser Übung ein besonderes Interesse: Im kommenden Jahr stellt die Bundeswehr den überwiegenden Teil der einsatzbereiten NATO-Speerspitze. Die VJTF-Brigade rollte deshalb mit so ziemlich allem, was unter ihrem Kommando steht oder zur Unterstützung gebraucht wird, in den Norden.

Wir wollten zeigen, dass wir das können, sagt Brigadegeneral Ullrich Spannuth, der deutsche Kommandeur der NATO-Eingreiftruppe. Eine ganze Brigade in einer, wie die Militärs es nennen, strategischen Verlegung in ein anderes NATO-Land zu verlegen, diese Fähigkeit zu demonstrieren und damit zur Abschreckung beizutragen – das habe die Bundeswehr noch niemal gemacht, auch nicht zu Zeiten der Blockkonfrontation. Denn damals blieb die Bundeswehr auch bei Großübungen immer auf dem Gebiet der damaligen Bundesrepublik.

Mit der veränderten erneuten Konzentration auf die Landes- und vor allem Bündnisverteidigung nach zwei Jahrzehnten der Auslandseinsätze muss sich dabei nicht nur die Bundeswehr vergessene Fähigkeiten und vergessenes Wissen neu erarbeiten – und auf altes, überflüssig geglaubtes Gerät zurückgreifen. Auf dem Übungsplatz von Rødsmoen nahe der Stadt Rena verlegt Pionier-Oberleutnant Lukas S. mit seinem Zug gemeinsam mit lettischen Soldaten Panzerminen. Das Minenverlegesystem, mit dem die Männer arbeiten, trägt die offizielle Bezeichnung MVS85: Für das Einführungsjahr 1985. Die Übungsminen, die damit in verschiedenen Abständen als Panzersperre ausgelegt werden, tragen das Fertigungsdatum September 1986 und sind damit älter als die meisten Soldaten, die sie verlegen.

Panzersperre mit dem MVS85 – dabei auch ein Soldat aus Lettland (l.)

Doch nicht nur das Gerät ist Jahrzehnte alt (und generalüberholt). Auch die Kenntnisse für den Umgang mit solchen Panzersperren sind im Bündnis verloren gegangen. Irritiert sieht der Oberleutnant zu, wie ein dänischer Leopard-Kampfpanzer die aufgestellten rot-weißen Signalschilder für die freigehaltene Minengasse ignoriert und Kurs auf die Sperre nimmt. Im letzten Moment biegt der Leo ab: Die Schilder kennt ja keiner mehr.

Ähnlich geht es den Pionieren aus Minden, die als einzige deutsche Einheit – zusammen mit ebenfalls in Minden stationierten britischen Pionieren sogar als einzige in den europäischen NATO-Ländern – amphibische Schwimmbrücken betreiben. Vom Morgengrauen bis tief in die Nacht setzen die Spezialisten Fahrzeuge der Verbündeten über die Rena, vom Geländewagen bis zum Kampfpanzer. Zum Üben – für die Fahrer.

Da kommt es schon mal vor, dass die Pioniere in tiefster Dunkelheit zur Sicherheit nur mit roten und grünen Knicklichtern zur Einweisung der Fahrer und Signalisierung an die eigenen Bediener arbeiten – und dann doch der polnische T-72-Panzer oder ein dänischer Lastwagen mit voller Beleuchtung auf die Schwimmbrücke zurumpelt. Unter den Flüchen der deutschen Soldaten.

 

Auch wenn beim Blick auf militärische Übungen und erst recht bei einem solchen Großmanöver wie Trident Juncture meist die Kampftruppen im Fokus stehen: In Norwegen übt eigentlich in viel größerem Ausmaß die Truppe, die das Gefecht erst ermöglicht. Wie das Combat Service Support Batallion (CSS) der VJTF, das seinen Gefechtsstand bei Trysil aufgebaut hat, mitten im größten Wintersportgebiet des Landes. Das ist was anderes als Einsatzunterstützung, sagt Oberstleutnant Alexander Eisentraudt, sonst Kommandeur des Bundeswehr-Versorgungsbataillons 141. Wir sind da, wo die Kampftruppe uns braucht. Das müssen die Soldaten neu lernen.

Das bedeutet für die Versorger nicht nur, rechtzeitig und an jedem Ort während der LiveEx den Nachschub an Sprit, Munition und Verpflegung sicherzustellen. Sondern unter den Bedingungen des einbrechenden norwegischen Winters auch, rund um die Uhr einen Abschlepptrupp in Bereitschaft zu haben: Die Straßenbedingungen in Eis und Schnee sind bei dieser Übung eine reale Gefahr.

Die ersten Unfälle, wenn auch ohne Personenschaden, gab es bereits. Um verunglückte Fahrzeuge bis hin zum Transportpanzer Boxer bergen zu können, hat das Bataillon eines der – in der Bundeswehr raren – Bergefahrzeuge Bison. Und einige der ebenfalls seltenen Spezialisten, die das schwere Gerät überhaupt bedienen können und dürfen.

Das Versorgungsbataillon greift für seine Arbeit auch auf Gerät zurück, das wie der Minenleger aus alten Zeiten stammt: Die Feldküchen, ein wichtiger Teil der Versorgung neben den Arctic Field Rations der Norweger, stammen ebenso aus den 1980-er Jahren und werden Stück für Stück wieder aus dem Depot bei Karlsruhe geholt. (Ein bisschen Unmut, so ist zu hören, gab’s bei den Norwegern, weil die Deutschen ihre Feldküchen mit Wasser aus dem Kanister betreiben und nicht mit norwegischem Wasser. Allerdings, so versicherte mir der Leitende Sanitätsoffizier der Bundeswehr bei dieser Übung, hatte das in der Region um Trysil damit zu tun, dass das norwegische Oberflächenwasser mit Keimen belastet war.)

Feldküche des Combat Service Support Batallion

Das Herz der deutschen Logistik schlägt allerdings deutlich weiter südlich, im deutschen National Support Element (NSE) nahe dem Osloer Flughafen Gardermoen. Auch wenn der gesamte Nachschub für die Übung von einer multionationalen Joint Logistics Support Group koordiniert wird: Angesichts der schieren Größe des deutschen Anteils an Trident Juncture und  der Vorbereitung auf die Einsatzphase der VJTF im kommenden Jahr hat die Bundeswehr allein dafür 1.200 Frauen und Männer aufgeboten.

Auch wenn diese Truppe überwiegend einige hundert Kilometer vom eigentlichen Übungsgeschehen entfernt agiert – für Oberstleutnant Thomas Henschke, daheim Kommandeur des Logistikbataillons in Beelitz, ist der Auftrag nicht anders als bei der Kampftruppe: Wie die ganze NATO-Speerspitze werden auch er und seine Soldaten ab dem 1. Januar kommenden Jahres bereit stehen, in wenigen Tagen abmarschbereit zu sein, falls die Allianz die Eingreiftruppe losschickt.

Für die Logistiker ist das nach Trident Juncture fast noch mehr Herausforderung. Seit Ende August sind sie in Norwegen präsent, am 5. Dezember werden sie das letzte Schiff im Hafen von Frederikstadt mit Material zur Rückverlegung nach Deutschland abfertigen. Gerade noch rechtzeitig für einen kurzen Weihnachtsurlaub, ehe am Neujahrstag die neuen Bereitschaftsregeln greifen. Dazu sagt Henschke nur lakonisch: Bloß weil wir Logistiker sind, heißt das nicht, dass wir keine Soldaten sind.

Anlage zum Reinigen und Befüllen von Betriebsstoffkanistern im Camp Gardermoen bei Oslo