Doch eine neue Debatte über Deutschland und EU-Atomwaffen?

In den vergangenen Wochen geisterte ein Gespenst – vor allem in den USA – durch die fachpolitischen Debatten: Denkt Deutschland über Atomwaffen nach, eigene oder im EU-Kontext? Warum Deutschland keine Nuklearwaffen anschaffen sollte (Why Germany Should Not Go Nuclear), überschrieb zum Beispiel Foreign Policy eine Geschichte zum Thema – das aus Sicht des überwiegenden Teils der deutschen Politik keines ist.

Aber weil die Wahrnehmung dieses Themas auch und gerade in den USA die weitere Debatte bestimmen dürfte, ist ein Blick in die New York Times am (heutigen) Mittwoch wichtig:

A review recently commissioned by the German Parliament has determined that the country could legally finance the British or French nuclear weapons programs in exchange for their protection. The European Union could do the same if it changed its budgeting rules, the study found.

(…)
The German assessment comes after months of discussion in Berlin over whether Europe can still rely on American security assurances, which President Trump has called into question. Some have called for considering, as a replacement, a pan-European nuclear umbrella of existing French and British warheads.
The assessment provides a legal framework for such a plan. Britain or France, it finds, could legally base nuclear warheads on German soil.

European Nuclear Weapons Program Would Be Legal, German Review Finds, hat die NYT ihre Geschichte überschrieben, und sie beruft sich im Wesentlichen auf ein Papier des Deutschen Bundestages.

Dessen Wissenschaftlicher Dienst hat im Mai einen Sachstand veröffentlicht, nüchtern überschrieben: Völkerrechtliche Verpflichtungen Deutschlands beim Umgang mit Kernwaffen – Deutsche und europäische Ko-Finanzierung ausländischer Nuklearwaffenpotentiale. Die Kurzstudie, erstellt auf Anforderung des CDU-Abgeordneten Roderich Kiesewetter, ist bislang offensichtlich hierzulande nicht öffentlich zur Kenntnis genommen worden (jedenfalls finde ich bislang nichts dazu), das dürfte sich dank der US-Kollegen nun ändern.

Das Resümee der Ausarbeitung:

Die derzeitigen völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands aus dem NVV [Nichtverbreitungsvertrag, umgangssprachlich Atomsperrvertrag; T.W.] und dem „Zwei-Plus-Vier-Vertrag“ beschränken sich auf das Verbot eines Erwerbs von eigenen Atomwaffen („deutsche Bombe“). Die „nukleare Teilhabe“, wie sie bereits im Hinblick auf die in Deutschland stationierten US-Atomwaffen praktiziert wird, verstößt ebenso wenig gegen den NVV wie die Ko-Finanzierung eines ausländischen (z.B. französischen oder britischen) Nuklearwaffenpotentials. Eine solche Finanzierung ließe sich zwar nicht aus dem EU-Haushalt, wohl aber aus dem deutschen Verteidigungshaushalt bestreiten und auf der Grundlage einer entsprechenden bilateralen völkerrechtlichen Vereinbarung, welche auch die „Gegenleistung“ der Finanzierung regelt, rechtlich ausgestalten.
In diesem Zusammenhang bleibt die Frage, was sich Deutschland von der (kostspieligen) Ko-Finanzierung eines ausländischen Nuklearwaffenpotentials politisch und rechtlich verspricht. Ginge es Deutschland um eine rechtliche und/oder politische Zusicherung des nuklearen Schutzschildes durch Frankreich/Großbritannien, so bliebe festzuhalten, dass die französischen und die (in die NATO-Planung einbezogenen) britischen Atomwaffen immer schon als Teil einer europäischen Abschreckungsstrategie verstanden wurden. Neben Art. 5 des NATO-Vertrages existiert im EU-Vertrag von Lissabon zudem die europäische Bündnisklausel (Art. 42 Abs.7 EUV), die Frankreich – und bis zum Wirksamwerden des „Brexit“ auch Großbritannien – rechtlich verpflichtet, im Falle eines Angriffs auf Deutschland (oder einen anderen EU-Mitgliedstaat) auch militärischen Beistand zu leisten; diese Beistandsverpflichtung würde im Fall eines atomaren Erstschlags als ultima ratio auch den nuklearen Beistand einschließen.

Nun lassen wir an dieser Stelle mal die Frage beiseite, ob die derzeitige Nukleare Teilhabe Deutschlands in der NATO tatsächlich mit dem Atomsperrvertrag vereinbar ist (da gibt es auch andere Meinungen, aber das ist hier nicht das Thema). Entscheidender ist die Schlussfolgerung der New York Times:

… the review is … the first indication that such an idea has escalated from informal discussion to official policy-making channels.

Das trifft zwar bei einer Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes auf Anforderung eines Abgeordneten nicht zu: Die Bundestagsmitarbeiter beantworten eine gestellte Frage, damit bekommt das nicht den Stellenwert einer auch nur informellen Debatte unter Abgeordneten oder eines Regierungsdokuments.

Aber solche Feinheiten spielen vermutlich keine Rolle: Die Debatte darüber, ob Deutschland angesichts der Aussagen von US-Präsident Donald Trump über die Garantien der NATO und in der NATO über Atomwaffen eben nicht der USA nachdenkt, ob deutsch oder europäisch, dürfte damit neu angefacht werden.

(Archivbild 2008: Fliegerhorst Büchel, Standort der Nuklearen Teilhabe Deutschlands – Public Domain via Wikimedia Commons)