Gastbeitrag: Tradition in der Bundeswehr? Fragt die Soldaten.

In der laufenden Debatte über die Tradition der Bundeswehr, was sie ausmacht, ob und wie Soldaten auch der Wehrmacht (nicht die Wehrmacht selbst) eine Rolle spielen dürfen, haben sich bereits etliche Generale a.D. zu Wort gemeldet. Dennoch stelle ich hier als Gastbeitrag eine weitere Wortmeldung eines Generals a.D. ein.

Aus Gründen: Helge Hansen, in den 1990-er Jahren Heeresinspekteur und danach als deutscher Vier-Sterne-General Kommandeur in Brunssum (damals als Befehlshaber Allied Forces Central Europe; heute ist es das Joint Forces Command) hat für die Traditionspflege der Bundeswehr einen interessanten Ansatz. Kurz gefasst: Fragt die Soldaten, die in dem fast einem Vierteljahrhundert der Auslandseinsätze Kameraden erlebt haben, die Vorbild sein könnten. Und verordnet nicht vom Grünen Tisch eine Traditionslinie, die für die Truppe abstrakt bleibt.

Ich bin mir bewusst, dass Hansen mit seiner Sicht der Würdigung des Wehrmachts-Feldwebels Diedrich Lilienthal, nach dem eine Kaserne in Delmenhorst benannt ist, auch Widerspruch provozieren dürfte. Auch seine Einschätzung der jüngsten Handlungsweisen von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen wird vermutlich sehr unterschiedlich gesehen. Das Entscheidende an Hansens Argumentation ist aber, dass er für einen bottom up-Ansatz bei der Neuregelung der Traditionslinien der Bundeswehr plädiert.

Sein Text im Wortlaut:

Nach Bekanntwerden der Aktivitäten des „Oberleutnant A.“, fragwürdiger Aufnahmerituale in einem Truppenteil und scheinbarem Fehlverhalten in der Sanitätsausbildung hat die Bundesministerin der Verteidigung, Ursula von der Leyen, in einer ersten Reaktion öffentlich und mehr oder weniger pauschal einen falschen Korpsgeist und einen Mangel an Führung in den Streitkräften festgestellt. Damit hat sie sich als verantwortliche Inhaberin der Befehls-und Kommandogewalt über die Streitkräfte von diesen distanziert – ein bisher beispielloser, öffentlich bekundeter Vertrauensentzug.

Sie hat zwar kurz darauf ihr Bedauern über diese ihre Einlassungen geäußert. Gleichwohl ist durch ihr spontanes Handeln ein ihr offenbar eigener Denk-und Handlungsansatz des pauschalen und spontanen Entzugs des Vertrauens in die militärische Führung und in die geistige Ausrichtung unserer Streitkräfte deutlich geworden.

Sehr viel gravierender sind für mich jedoch die Auswirkungen der von ihr in der Folge veranlassten Maßnahmen: Die Umstände der „Säuberung“ der Kasernen von „Wehrmacht-Devotionalien“ mit einem geradezu kümmerlichen Ergebnis, die Entfernung des Bildes des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt in Wehrmachtsuniform in der Universität seines Namens in Hamburg, inzwischen wieder zurück, aber auch hier vorschnell gehandelt, und weitere „Sofortmaßnahmen“ mit dem offenkundigen Ziel, Handlungsstärke und hartes Durchgreifen zu demonstrieren; und zwar im Blick nach außen für die Öffentlichkeit, jedoch mit negativen Folgen nach innen: Sichtbarer Ausdruck des Misstrauens in die geistige Verfasstheit der Streitkräfte und von Handeln nach dem Motto „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“.

Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General Ulrich de Maiziere, hat einmal darauf hingewiesen, dass jede Armee eine „Seele“ besitzt im Sinne ihres Selbstverständnisses, ihres Selbstwertgefühls. Es sei eine vorrangige Aufgabe der Führung, diese zu wahren und zu schützen, weil die Verletzung dieser „Seele“ schwerwiegende Folgen für die Kohäsion der Streitkräfte habe. Man kann dieses Phänomen auch ganz nüchtern als das „Innere Gefüge“ der Streitkräfte, im zivilen Umfeld als „Corporate Identity“ bezeichnen und es damit in den Kontext der Inneren Führung, das heißt einer zeitgemäßen Menschenführung stellen. Ihr eingangs erhobener genereller Vorwurf den Geist und die Führung der Streitkräfte betreffend war geeignet, das Selbstwertgefühl nachhaltig zu schädigen. Es wird deutlicher Zeichen der Ministerin bedürfen, um das Vertrauen in ihre Führung der Streitkräfte wieder herzustellen.

Frau von der Leyen hat veranlasst, dass der zur Zeit gültige Traditionserlass überprüft und überarbeitet wird, vermutlich mit dem Ziel, künftig eine veränderte, zeitgemäße Traditionspflege als Teil der Inneren Führung unserer Streitkräfte zu verankern. Es ist zu hoffen, dass sie nicht der Versuchung erliegt, quasi „top down“, dazu noch wissenschaftlich selektiert durch das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr , einen Traditionskatalog erarbeiten zu lassen. Dieser Ansatz der Aufarbeitung der Grundlagen einer zeitgemäßen Traditionspflege wäre aus meiner Sicht genau der falsche!

Immer wieder wird in der Diskussion um die Traditionspflege der Bundeswehr darauf hingewiesen, dass es eines Rückgriffes auf Personen oder Ereignisse aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges nicht bedarf, da die Bundeswehr in den mehr als 60 Jahren ihres Bestehens eigene Traditionen entwickelt habe. Frau Ministerin, welche bitte?

Stets kommt auf diese Frage der stereotype Hinweis auf die Preußischen Heeresreformen und den militärischen Widerstand im Dritten Reich. Es ist unstrittig, dass beide historischen Vorgänge zu den ethischen Grundlagen unserer Streitkräfte zählen, aber sie sagen einem jungen Soldaten im Einsatz in Afghanistan, im Kosovo oder in Mali wenig bis gar nichts, weil viel zu abstrakt. Sie genügen ganz offensichtlich nicht den emotionalen Bedürfnissen des jungen „Kämpfers“ oder der „Rettungssanitäterin“ im Einsatz auf deren Suche nach Beispielen, Richtpunkten für Mut, Tapferkeit und kameradschaftliches Eintreten angesichts der Gefahren für Leib und Leben. Es kann also nicht darum gehen, einen eventuellen „braunen Sumpf“ trocken zulegen, sondern vielmehr einem berechtigten und wichtigen Anliegen zu genügen.

Ich habe in den Siebzigerjahren als Bataillonskommandeur in der Feldwebel Lilienthal-Kaserne in Delmenhorst Dienst getan, die zur Zeit noch seinen Namen trägt und hoffentlich behalten wird. Dieser Feldwebel hat im Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion, nachdem sein Kompaniechef gefallen war, im Alter von 23 Jahren die Kompanie übernommen und durch seinen Einsatz seine Einheit vor der Vernichtung bewahrt. Ich habe sein Handeln stets bei Gelöbnisfeiern für wehrpflichtige Soldaten unter Hinweis auf die Pflicht, „Recht und Freiheit tapfer zu verteidigen“, als beispielhaft hervorgehoben, ohne den Krieg zu verherrlichen oder dessen Völkerrechtswidrigkeit zu verschweigen.

Ich empfehle daher, ganz bewusst einen anderen, einen „bottom up“- Ansatz zu wählen: In einem strukturierten Prozess sollten aktive und ehemals aktive Soldatinnen und Soldaten aller Dienstgrade, die in Afghanistan, im Kosovo, in Mali oder anderen Einsatzgebieten der Streitkräfte Dienst getan haben, beispielhaftes Handeln sammeln, quasi als nachprüfbare Augenzeugenberichte, die die traditionswürdigen militärischen Tugenden verdeutlichen. Damit wäre der Ausgangspunkt für eine zeitgemäße Traditionspflege in unseren Streitkräften geschafft. Die Bundeswehr würde so eine in jeder Hinsicht „bedarfsgerechte“ und damit auch von unseren Soldaten akzeptierte Grundlage für eine praktische Traditionspflege erhalten. Dann müssen künftig nicht mehr neu zu benennende Kasernen mit nichtsagenden Landschaftsbezeichnungen versehen werden, nur um politisch korrekt zu sein, sondern können durch deren Namensgebung beispielhaftes militärisches Handeln in Erinnerung rufen und würdigen.

Kriterium für die Auswahl solcher Beispiele sollte die Erklärung des damaligen Verteidigungsministers, Volker Rühe, in einer Debatte zur Traditionspflege in der Bundeswehr vor dem Deutschen Bundestag sein: „Die Werteordnung des Grundgesetzes ist dafür Orientierungsrahmen. Ein solches Verständnis lässt Raum, vorbildliche soldatische Haltung und hervorragende militärische Leistungen aus allen Epochen der deutschen Militärgeschichte in die Tradition der Bundeswehr zu übernehmen.“

Auf dieser Grundlage könnte die Feldwebel Lilienthal-Kaserne in Delmenhorst ebenso ihren Namen behalten wie auch das Beispiel eines deutschen Feldwebels im Einsatz im Kosovo zum Traditionsbestand unserer Streitkräfte genommen werden könnte: Er hatte sich allein und schutzlos in einer serbischen Enklave im Kosovo unter Lebensgefahr schützend vor eine serbisch-orthodoxe Kirche gestellt, um sie vor der Verwüstung durch kosovarische Freischärler zu retten – mit Erfolg! Wobei angemerkt sei: Auch der Einmarsch der NATO in das Kosovo – serbisches Staatsgebiet – war eindeutig völkerrechtswidrig.

(Archivbild: Der Ehrenhain in Masar-i-Scharif, Afghanistan, aufgenommen im Dezember 2013)