Folgerungen (nicht nur) aus Pfullendorf-Skandal: ‚Neue Meldekultur‘ für die Bundeswehr

Nach den Vorfällen am Ausbildungszentrum Spezielle Operationen in Pfullendorf und Vorwürfen von Mobbing, sexueller Belästigung und entwürdigender Behandlung auch an anderen Standorten der Bundeswehr hat Generalinspekteur Volker Wieker einen ersten Sachstand einer Analyse zur Inneren Lage der Bundeswehr vorgelegt. Der Bericht zur Tagung des Bundestags-Verteidigungsausschusses am (heutigen) Mittwoch, über den zuerst tagesschau.de berichtete, enthält allerdings nicht die detaillierten Zahlen, mit denen die Süddeutsche Zeitung aufwartet (dazu mehr unten), das dürfte im Ausschuss noch für Unmut sorgen.

Aber der Generalinspekteur nennt in seinem Schreiben an die Abgeordneten schon die Folgerungen aus den verschiedenen Vorwürfen: Vor allem das Ziel einer neuen Meldekultur – und eine zentrale Datenbank zur Erfassung solcher Vorkommnisse.

Wesentliche Teile aus Wiekers Schreiben:

Das BMVg hat in einem ersten Schritt – wie auch durch den Verteidigungsausschuss erbeten – analysiert, ob möglicherweise für weitere mit den Ereignissen am Standort Pfullendorf vergleichbare Verstöße gegen die Grundsätze der Inneren Führung in der Bundeswehr vorliegen.
(…)
Dazu wurden alle dem BMVg bereits bekannte [sic] Verdachtsfälle zu möglichen Verstößen gegen die Innere Führung im Zeitraum 2015 bis 2017 durch Meldungen aus dem nachgeordneten Bereich vervollständigt und anschließend den nachfolgenden Kategorien zugeordnet:
– herabwürdigende Praktiken in der Ausbildung,
– entwürdigende Aufnahmerituale,
– Diskriminierung,
– systematisches Mobbing und
– sexuelle Übergriffe.
(…)
Im Zuge erster Erkenntnisse zeichnet sich ab:
• Die untersuchten Verdachtsfälle von Verstößen gegen die Innere Führung sind im Schwerpunkt Standorten der Truppe mit infanteristisch geprägten Verbänden und in Teilen Ausbildungseinrichtungen zuzuordnen.
• Im Fokus stehen überwiegend Mannschaftssoldaten und Unteroffiziere, vorrangig im Altersband zwischen 20 bis 30 Jahren. Dieses lässt ein besonderes Erfordernis an stringenter Führung, Ausbildung und Erziehung für diesen Personenkreis erkennen.
• Das bisherige Meldesystem mit parallelen Informationssträngen weist in der Praxis Defizite auf. Es ist zersplittert, nicht kohärent und wird uneinheitlich gehandhabt. Ebenso erfolgen Meldungen nicht immer zeitgerecht, auch weil offenkundig die Handlungssicherheit – insbesondere bei unerfahrenen Vorgesetzten – über Meldeanlässe und Meldewege verbesserungsbedürftig ist.
• In der Zukunft gilt es, alle relevanten Ergebnisse aus unterschiedlichen Informationsquellen effektiver zusammenzuführen und auszuwerten. Zu diesen Quellen gehören neben den o.a. Meldungen alle Eingaben an den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Disziplinarverfahren, Meldepflichtige Ereignisse, Studien, Briefe sowie anonyme Hinweise an das BMVg. Es fehlt eine gemeinsame Datenbasis.
(…)
• Bei den rund 40 Hinweisen, die bei der „Ansprechstelle Diskriminierung und Gewalt in der Bundeswehr“ bisher eingegangen sind, werden von zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vorrangig „Mobbing“-Vorwürfe vorgebracht, bei Soldatinnen und Soldaten liegt ein Schwerpunkt im Bereich „sexueller Übergriffe“.
• Bei der Betrachtung unserer internen Abläufe und Verfahren zeichnet die alleinige Nutzung von bundeswehrinterner Kompetenz nur ein unvollständiges Bild. Der unvoreingenommene und kritische „Blick von außen“ kann uns bei der Überprüfung und Optimierung unseres Handelns helfen. Hierdurch können wichtige Handlungsfelder für eine tiefergehende Analyse identifiziert werden.
(…)
Im Ergebnis der Analyse „Innere Lage Bundeswehr“ werden die nachfolgenden Maßnahmen veranlasst:
• Das bisherige Meldewesen zur Inneren und Sozialen Lage der Bundeswehr (ISoLa) wird überprüft. Hierbei sind neben einer Straffung der Meldeverfahren auch die Voraussetzungen für eine neue „Meldekultur“ zu schaffen.
• Eine neue rechnergestützte Datenbank zur „Inneren Lage Bundeswehr“ wird aufgebaut. Sie soll helfen, rascher und leichter als bisher Trends und Fehlentwicklungen zu identifizieren bzw. Querverbindung zwischen einzelnen Meldungen zu erkennen.
• In einem neuen Referat in der Abteilung Führung Streitkräfte im BMVg werden alle truppendienstlichen Angelegenheiten der Inneren Lage und Menschenführung gebündelt. Dieses Referat berücksichtigt die Interessen aller Angehörigen der Bundeswehr und wird sehr eng mit dem Beauftragten des Generalinspekteurs für Erziehung und Ausbildung, der Ansprechstelle „Diskriminierung und Gewalt in der Bundeswehr“ und dem nachgeordneten Bereich zusammenarbeiten.
(…)
• Um einen gleichermaßen professionellen wie methodisch erfahrenen Außenblick auf die Innere Lage der Bundeswehr zu gewährleisten, soll zur weitergehenden Analyse der vorhandenen Daten externer wissenschaftlicher Sachverstand hinzugezogen werden. Prof. Dr. Pfeiffer, ehem. Leiter Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen, wird im Rahmen einer systematischen und vertiefenden Analyse die identifizierten Handlungsfelder in den Blick nehmen, mögliche Schwachstellen identifizieren sowie Vorschläge zur Schulung und Weiterbildung von Fachpersonal, aber auch zur Verbesserung unserer Methodik entwickeln helfen.
• Die Aus- und Weiterbildung von Disziplinarvorgesetzten und Rechtsberatern wird überprüft und – wo erforderlich – verbessert. In diesem Zusammenhang ist, auch um die Handlungssicherheit zu festigen, die Erläuterung und Veranschaulichung von Rechtsbegriffen/-kategorien und Maßstäben sinnvoll.
• Die Verbesserung der Dienstaufsicht (in und außer Dienst) durch Vorgesetzte, insb. auf Einheitsebene ist erforderlich. In diesem Verständnis sind auch infrastrukturelle Rahmenbedingungen (z.B. räumlicher Zusammenhang von Unterkunfts- und Funktionsgebäuden relevant.
(…)
• Darüber hinaus wird zusammen mit Frau Bundesministerin dieser Thematik ein Workshop zur Inneren Lage der Bundeswehr mit Spitzenkräften auf Abteilungsleiter-, Inspekteurs- und Präsidentenebene gewidment. Dieser wird um weitere Workshops und Seminare u.a. der militärischen Gleichstellungsbeauftragten der Bundeswehr und „Spießtagung“ der Bundeswehr ergänzt.

Den letzten Punkt habe ich hier noch mit zitiert, weil der schon mal in Berichten erwähnt wurde – allerdings ist dieser Workshop mit Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen vermutlich weit weniger ausschlaggebend für die Truppe als die anderen zuvor genannten Veränderungen. Das ist ja durchaus zweigespalten – auf der einen Seite die Forderung nach mehr Dienstaufsicht auf Einheitsebene, ganz im Sinne der Auftragstaktik, auf der anderen die neue Meldekultur und die zentrale Datenbank.

Die Süddeutsche Zeitung (Link aus bekannten Gründen nicht) hat zu der Analyse des GI  noch einige zusätzliche Zahlen geliefert:

Nach SZ-Informationen wurden aus den Jahren 2015 bis 2017 insgesamt 7800 sogenannte „Meldepflichtige Ereignisse zur Inneren und Sozialen Lage der Bundeswehr“ analysiert, wobei es sich lediglich um 3600 sogenannte Erstmeldungen handelte, also neue Fälle. Davon wiederum wurden 3100 als Meldungen mit „Relevanz Innere Führung“ identifiziert – wobei die Spanne hier nach Angaben aus Ministeriumskreisen „von der eigenmächtigen Abwesenheit bis zur vollzogenen Vergewaltigung“ reichte.
So gab es etwa in den beiden zurückliegenden Jahren mehr als 300 Fälle des Verdachts auf „Diebstahl, Unterschlagung, Raub oder Erpressung“, fast 500 Unfälle mit Personenschäden sowie mehr als 250 Fälle von „Straftaten und Ordnungswidrigkeiten nach dem Betäubungsmittelgesetz“. Und in mehr als 200 Fällen ging es um „sexuelle Belästigung, Benachteiligung, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ – wobei auch hier sowohl Fälle innerhalb der Bundeswehr als auch im privaten Bereich erfasst wurden.

Entscheidend ist dabei der letzte Satz: In den Zahlen – und damit vermutlich auch in der Analyse der Inneren Lage der Bundeswehr – sind auch Vorfälle enthalten, die außerhalb des Dienstbetriebs stattfanden. Also die Fahrerflucht mit dem Privatauto genau so wie die sexuelle Belästigung bei der Grillparty am Wochenende. Das ist angesichts der besonderen Stellung von Soldaten zwar nachvollziehbar, muss aber auch in die Bewertung der Zahlen mit einbezogen werden.

(Archivbild Februar 2017: Übung im Gefechtsübungszentrum – Jane Schmidt/Bundeswehr)