Deutschlands Rolle im Kampf gegen ISIS: Ein paar Infos – und offene Fragen (Nachtrag)

Die (politische) Debatte läuft seit dem (gestrigen) Mittwochabend: Die Bundeswehr ist laut Medien-Recherchen möglicherweise indirekt an einem Luftangriff in Syrien mit vielen zivilen Todesopfern beteiligt gewesen, meldete zum Beispiel der Deutschlandfunk in seinen Nachrichten, und die Formulierung macht schon klar: Das ist eine recht komplexe Situation. Welche Rolle spielen die Aufklärungsfotos, die die Bundeswehr im Kampf gegen die islamistischen ISIS-Milizen im Irak und in Syrien liefert, für den Einsatz der internationalen Anti-ISIS-Koalition – generell und in diesem speziellen Fall?

Ein paar Infos zur Sachklärung – und noch einige offene Fragen:

• Um welchen Luftangriff geht es?

Unter den zahlreichen Luftangriffen der internationalen Koalition gegen vermutete oder erkannte ISIS-Ziele in Syrien und Irak, bei denen nach einer Übersicht der NGO airwars.org Zivilisten ums Leben kamen, dürfte dieser Luftschlag gegen ein Gebäude bei Mansur (al-Mansour) westlich von Raqqa in Syrien gemeint sein:

March 21st 2017: المنصورة Al Mansoura, Raqqa governorate, Syria
Summary: In a major casualty incident at least 33 civilians died (and as many as 420 according to some claims) with dozens more injured in an alleged Coalition airstrike on the al Badiya school in Mansoura, which was said to have housed up to 100 displaced families.
Coalition commander Lt General Townsend later denied that the strike had killed civilians, stating: “We had multiple corroborating intelligence sources from various types of intelligence that told us the enemy was using that school. And we observed it. And we saw what we expected to see. We struck it. We saw what we expected to see. Afterwards, we got an allegation that it wasn’t ISIS fighters in there; got a single allegation it wasn’t ISIS fighters in there; it was instead refugees of some sort in the school. Yet, not seeing any corroborating evidence of that. In fact, everything we’ve seen since then suggests that it was the 30 or so ISIS fighters that we expected to be there.”
Local monitors disagreed. In a video Jisr TV said: “Tens of people displaced were in that school and until now we couldn’t reach the school and don’t know what happened to them. Whether they evacuated the school or not is unknown before it was targeted by Coalition warplanes.” Qasioun added that “the Coalition carried out three raids on the school and it’s not clear how many people were killed. The school hosted displaced people from Aleppo.”

Die Aufklärungs-Tornados der Luftwaffe hatten das fragliche Gebäude zwei Tage zuvor überflogen, ebenso ein paar Tage später, um die Wirkung des Luftangriffs bewerten zu können. Entsprechende Informationen gab das Verteidigungsministerium am Mittwoch dem Verteidigungsausschuss des Bundestages.

• Was macht die Bundeswehr mit ihren Aufklärungsflugzeugen dort, und warum?

Der Einsatz ist eine direkte Folge der Terrorangriffe in Paris im November 2015: Frankreich hatte damals die Unterstützung seiner Verbündeten eingefordert und sich dabei vor allem auf die entsprechende Beistandsklausel im EU-Vertrag berufen. Zu dieser Unterstützung, aber auch für den Kampf gegen ISIS insgesamt beteiligt sich die Bundeswehr praktisch seit Anfang 2016 an der von den USA geführten Anti-ISIS-Koalition – allerdings nicht wie andere Staaten (vor allem die USA, aber auch Großbritannien, Frankreich, weitere europäische Länder und einige Golfstaaten) mit Luftangriffen, sondern ausschließlich mit Aufklärungsflugzeugen und zudem mit einem Tankflugzeug für die Kampfjets anderer Koalitionsmitglieder.

Die so genannten Recce-Tornados (von recconnaissance – Aufklärung) starten von der türkischen Basis Incirlik zu ihren Flügen über Syrien und dem Irak und liefern hoch aufgelöste Luftbilder, wie ein von der Bundeswehr veröffentlichtes Beispiel aus Syrien zeigt:

Blick hinter die Kulissen-Tagesablauf Torandobesatzung Einsatzaufklärungsflugbetrieb

Was sie aber nicht liefern, sind Luftaufnahmen in Echtzeit: Zwar können die deutschen Tornados die Aufnahmen ihres so genannten Recce Pod bis zu einer gewissen Entfernung mit einem Datenlink über Funk direkt an eine Auswertestation übertragen – allerdings besteht diese Verbindung angesichts der Entfernungen nicht immer. Zum Teil landen die Aufnahmen deshalb erst Stunden später in der – ebenfalls von der Bundeswehr in Incirlik betriebenen – Auswertestation, der Ground Exploitation Station (Foto ganz oben).

• Was passiert mit den deutschen Aufklärungsergebnissen?

Die Fotos der Bundeswehr-Tornados werden ausgewertet, zum Teil werden auch räumlich wirkende Bilder erstellt.  Die Auswertung und die Aufnahmen gehen an das Hauptquartier der Luftstreitkräfte der Anti-ISIS-Koalition auf der Al Udeid Air Base in Katar. Dort werden sie im so genannten targeting-Prozess mit anderen Aufklärungsergebnissen zusammengefasst: Das können aktuelle Luftaufnahmen von Drohnen sein, ebenso aber auch Meldungen von Einheiten – z.B. US-Spezialkräften – am Boden.

Die Bestimmung von Angriffszielen in einem Luftkrieg ist üblicherweise keine kurzfristige Entscheidung: Die Ziele werden Tage zuvor festgelegt. Die deutschen Luftbilder dienen deshalb zwar als Planungsgrundlage, sind wegen des zeitlichen Vorlaufs aber wenig geeignet, um z.B. kurzfristig zu klären, ob ein Gebäude inzwischen als Unterkunft von Zivilisten dient.

An der eigentlichen Zielentscheidung ist die Bundeswehr nicht mehr beteiligt – ihre Mitsprache endet bislang bei der Frage, ob die Zuweisung von Aufklärungszielen an die deutschen Flugzeuge und die Aufklärungsergebnisse den Vorgaben des Bundestagsmandats entsprechen.

• Warum werden – in jüngster Zeit zunehmend – Zivilisten Opfer der Luftangriffe?

Der Kampf gegen ISIS ist kein regulärer Krieg gegen die Streitkräfte eines anderen Landes, bei dem militärische Einrichtungen von zivilen Wohngebieten sauber zu unterscheiden wären – im Gegenteil: Je mehr ISIS in Städten wie Raqqa in Syrien oder Mossul im Irak in die Enge getrieben wird, um so größer ist die Gefahr, dass Zivilisten als menschliche Schutzschilde missbraucht und ihre Wohnungen und Häuser als Kampfstellungen genutzt werden.

Hinzu kommt zum Beispiel im Irak der Wunsch der irakischen Streitkräfte, beim gefährlichen Häuserkampf erkannte gegnerische Stellungen möglichst schnell auszuschalten – mit Hilfe der Kampfflugzeuge der Koalition, um die eigenen Soldaten weniger dem Risiko auszusetzen. Ob dabei auch immer die nötige Rücksicht auf Zivilisten genommen wird, ist zumindest fraglich.

• Ist Deutschland damit letztendlich auch für die zivilen Opfer mit verantwortlich?

Es ist eine irrige Ansicht, zu glauben, bei solchen Kampfhandlungen mache es einen großen Unterschied, ob eine Nation Aufklärungsergebnisse liefert oder mit eigenen Flugzeugen bombardiert: Zu dem militärischen Vorgehen gehört beides. Ob die Bundesregierung bewusst nur Aufklärungsflugzeuge für die Anti-ISIS-Koalition anbot, weil das (innen)politisch harmloser schien, lasse ich mal dahingestellt – aber so zu tun, als sei man damit nicht Teil des militärischen Vorgehens insgesamt und deshalb auch für Fehlschläge wie die Bombardierung von Zivilisten nicht verantwortlich zu machen, ist zu kurz gegriffen.

Was wir bislang nicht wissen:

• Seit Beginn der deutschen Aufklärungsmissionen am 8. Januar 2016  bis zum 28. März dieses Jahres sind die Tornados nach Angaben des Verteidigungsministeriums zu insgesamt 830 Einsatzflügen gestartet. In wie vielen Fällen die deutschen Aufklärungsergebnisse direkt zu Luftangriffen führten, ist öffentlich ebenso unklar wie die Antwort auf die Frage, ob es in der Vergangenheit schon Fälle gab, in denen Luftschläge mit getöteten Zivilisten auch auf diesen Bundeswehr-Aufklärungsbildern beruhten.

• In den vergangenen Tagen und Wochen hat die Zahl der getöteten Zivilisten als Folge von Luftangriffen auf ISIS-Stellungen zugenommen – und es gibt die Vermutung, dass die USA seit dem Amtsantritt von Präsident Donald Trump ihre Verfahren geändert haben und weniger zurückhaltend sind bei Bombardements, die auch Zivilisten gefährden können. Die Frage ist, ob Deutschland als Teil der Anti-ISIS-Koalition das bei Besprechungen innerhalb der Koalition thematisiert und auch versucht, auf die Verfahren bei der Planung der Luftangriffe Einfluss zu nehmen.

Nachtrag: Solche Fragen werden inzwischen auch in den USA gestellt, wie die Washington Post berichtet:

In a sign of mounting concern over civilian deaths, a U.S. lawmaker sent a letter this week to Defense Secretary Jim Mattis requesting details on how the Trump administration is waging its air campaign against the Islamic State.
(…)
In his letter, Lieu drew attention to comments that President Trump made in the run-up to his election, including his assertion that the United States should “take out” militants’ families and “bomb the s—” out of the Islamic State.“The substantial increases in civilian deaths caused by U.S. military force in Syria and Iraq brings into question whether the Trump administration is violating the Law of War,” he said. “The large number of civilian casualties also suggests a possible breakdown in target selection, intelligence gathering, and operational execution.”

(Sollte ich einen wesentlichen Aspekt übersehen haben, bitte ein Hinweis in den Kommentaren)

(Foto oben: Auswertestation in Incirlik, Januar 2016; Foto unten: Tornado-Luftaufnahme aus Syrien – Foto Bundeswehr)