Ein überraschendes Jahr. Auf ins nächste.

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Ausführliche und ausgefeilte Jahresrückblicke sind nicht so meine Sache, das wissen die Leserinnen und Leser von Augen geradeaus! schon. Aber einen Rückblick auf die größeren Linien im zurückliegenden Jahr und ein vorsichtiger Ausblick aufs kommende sind sicherlich notwendig – auch wenn ich, wie vermutlich die meisten, mit den Ausblicken oft genug daneben liegen kann. Denn wer hätte zu Beginn dieses Jahres vermutet, dass die beherrschende Ukraine-Krise und ihre Folgen in der öffentlichen Debatte völlig an den Rand gedrückt werden würde von den Entwicklungen im Nahen Osten, dass neue Auslandseinsätze hinzukommen würden, aber zugleich die personell größte Herausforderung an die Bundeswehr die Hilfe bei der Bewältigung des Flüchtlingszustroms im Inland werden würde?

Das obige Foto ist ein Zeichen der Hoffnung, aber auch ein Zeichen der gewandelten Herausforderungen: Am 24. August gebar eine Somalierin ein Mädchen an Bord der Fregatte Schleswig-Holstein, das erste Mal, dass auf einem Kriegsschiff der Bundeswehr ein Kind geboren wurde. Die Fregatte war Teil des EU-Einsatzes gegen Menschenschmuggel im Mittelmeer, vor der Küste Libyens. Schon diese Mission, inzwischen nach dem Namen der Neugeborenen Sophia genannt, ist ein Beleg für die unterschiedlichen, fast schon gegensätzlichen Anforderungen, vor denen Streitkräfte inzwischen stehen: Was faktisch als Seenotrettung für Migranten und Flüchtlinge begann, die von Schleppern auf eine gefährliche Reise auf nicht seetüchtigen Booten in Richtung Europa geschickt wurden, soll zunehmend zu einer Militär- und Polizeiaktion gegen diese Schleuser werden. Dennoch steht weiterhin die Seenotrettung im Mittelpunkt – aber das kann und wird sich im kommenden Jahr vermutlich noch deutlich ändern.

Die Mission EU Naval Force Mediterranean (EUNAVFOR MED), also Sophia, war nur einer der Einsätze, der recht überraschend auf die Bundeswehr zukam. Zwei Kriegsschiffe sind seit dem Sommer dafür dauerhaft im Einsatz, die begrenzten Kapazitäten der Deutschen Marine führten dazu, dass eine eigentlich für die Mission gegen Piraterie am Horn von Afrika vorgesehene Fregatte kurzfristig vor die libysche Küste umdirigiert wurde. Dafür wurde dann eine Korvette aus dem UNIFIL-Einsatz vor dem Libanon in den Antipiraterie-Einsatz Atalanta vor Somalia abgezogen, und eines der demnächst zur Ausmusterung anstehenden Schnellboote ging in die UNIFIL-Mission. Auch ein Ausdruck von Mangelverwaltung.

Knapp wurde es auch bei einer Aufgabe, die nicht in die Reihe der Auslandseinsätze gehört: Als Konsequenz der Ukraine-Krise und des gewandelten Verhältnisses zu Russland hatte die NATO bereits auf ihrem Gipfel im Herbst 2014 in Wales eine schnelle Eingreiftruppe beschlossen, die so genannte Speerspitze, offiziell als Very High Readiness Joint Task Force (VJTF) bezeichnet. Die Bundeswehr stellte dafür als Kern einen Gefechtsverband – doch das dafür eingeteilte Panzergrenadierbataillon 371 aus Marienberg in Sachsen, die Marienberger Jäger, musste sich einen Teil der Ausrüstung für diese Aufgabe erst mal im Heer zusammenborgen.

Und eine weitere Folge der NATO-Beschlüsse ist im Laufe dieses Jahres in der öffentlichen Wahrnehmung völlig untergangen: Fast das ganze Jahr über waren deutsche Soldaten auf Übungen im Osten des Bündnisgebiets unterwegs, vor allem in Polen und in den baltischen Staaten. Persistent Presence, dauerhafte Präsenz, war der Oberbegriff für die Maßnahmen, die den östlichen Verbündeten den Rückhalt der Allianz demonstrieren sollten. Kein Auslandseinsatz, keine hierzulande sichtbare Mission, aber eine Aufgabe, die die Bundeswehr ebenfalls personell forderte.

(Am Rande wurde bei diesen ganzen NATO-Übungen deutlich, wie sehr sich der europäische Teil der Allianz über die vergangenen Jahre darauf eingerichtet hat, Kontingente für Einsätze in fernen Ländern zu stellen, und darüber die klassische Aufgabe der collective defense, der Bündnisverteidigung, in den Hintergrund geraten ist. Schon die Verlegung von Truppen und Gerät über die nationalen Grenzen innerhalb von NATO und EU wurde zur Herausforderung. Da hat es schon etwas Ironisches, wenn der Kommandeur der U.S. Army in Europa, Generalleutnant Ben Hodges, für die schnelle Mobilität ein Schengen-Abkommen fürs Militär fordert – während gleichzeitig der Trend in Europa dazu geht, die im Schengen-Abkommen garantierte Bewegungsfreiheit für Menschen innerhalb Europas einzuschränken.)

Ach so, die Afghanistan-Mission wurde ja auch noch aufgestockt, auf knapp unter 1.000 Soldaten. Und die Absicht, im kommenden Jahr die Truppe bei Resolute Support herunterzufahren, ist spätestens seit der vorübergehenden Einnahme von Kundus durch die Taliban Geschichte.

Das alles sind militärische Aufgaben – aber das meiste Personal musste die Bundeswehr im zurückliegenden Jahr abstellen, um Bund und Länder bei der geordneten Bewältung der Rekordzahl von Flüchtlingen zu unterstützen. Bis zu 8.000 Soldatinnen und Soldaten waren und sind dafür im Einsatz, überwiegend als helfende Hände, als Unterstützer bei Logistik und Transport oder in der medizinischen Betreuung. Immer unter dem Vorbehalt, dass die Streitkräfte nach dem Grundgesetz keine hoheitlichen Aufgaben im Inland wahrnehmen dürfen: Die Übernahme von Polizeiaufgaben schied damit ebenso aus wie ein Einsatz mit Entscheidungsbefugnis über Asylanträge. Nun ist es natürlich eine große Verlockung für Regierung und Verwaltung, schnell und verläßlich auf eine große Zahl von Helfern zurückgreifen zu können und damit Lücken zu schließen, die dadurch entstehen, dass über die Jahre an anderen Stellen im öffentlichen Dienst Personal eingespart wurde. Doch eine Aufgabe für Soldaten kann es dauerhaft nicht sein. Dafür muss ein Staat nicht die vergleichsweise teure Truppe ausbilden und unterhalten.

Insgesamt rund 20.000 Soldatinnen und Soldaten, so rechnete das Verteidigungsministerium zum Jahresende den Abgeordneten im Bundestag vor, sind derzeit dauerhaft in den verschiedenen Aufgaben gebunden (neben den oben erwähnten kommen noch Missionen wie die Luftraumüberwachung im Baltikum oder die Abordnung von Kriegsschiffen zu ständigen NATO-Einsatzverbänden hinzu, die nicht mandatierte Auslandseinsätze sind). Die eigentlichen Auslandseinsätze mit derzeit rund 3.000 Mann machen da nur einen kleinen Teil aus.

Mit anderen Worten: Im zurückliegenden Jahr hat die Politik die Anforderungen an die Bundeswehr deutlich heraufgefahren – teilweise absehbar und geplant, wie der Beitrag zur NATO-Speerspitze, zum Teil recht kurzfristig, wie die Unterstützung für Flüchtlinge. Zugleich musste die Truppe aber offenlegen, dass es um ihre materielle Einsatzbereitschaft nicht zum Besten steht. Die VJTF-Abstellung ist da nur, pardon, die Speerspitze des Eisbergs, wie der Bericht des Generalinspekteurs über die Materiallage der Großsysteme noch mal für alle zum Nachlesen deutlich machte.

Und so geht die Truppe ins neue Jahr: Anhaltende technische Probleme, anhaltende Anforderungen – und die nächsten Einsätze schon in der Planung. Der Aufklärungseinsatz im Kampf gegen die ISIS-Terrormilizen wird im Januar ernsthaft beginnen, wenn die ersten Tornado-Kampfjets zu ihren Flügen über Syrien starten; andere Teile dieser Mission Counter Daesh haben ja bereits im Dezember begonnen: Das Tankflugzeug der Luftwaffe liefert bereits seit Mitte Dezember Sprit für Kampfjets der Anti-ISIS-Koalition; die Fregatte Augsburg ist mit dem französischen Flugzeugträger Charles de Gaulle im Persischen Golf unterwegs.

Da dürfte sich im neuen Jahr die Frage stellen, ob von Deutschland in diesem internationalen Kampf gegen ISIS mehr verlangt wird. Ob es bei sechs Aufklärungsflugzeugen, einem Tankflugzeug, einer Fregatte und – nicht zu vergessen – 150 Mann für die Ausbildung kurdischer Peshmerga-Kämpfer bleiben kann und wird. Oder ob nicht doch Anfragen nach einer direkten Beteiligung an Luftangriffen lauter werden. Oder gar nach Spezialkräften am Boden – sei es im Irak, sei es in Syrien.

Zudem ist ein anderer Einsatz bereits so gut wie beschlossen. Schon im August hatten Auswärtiges Amt und Verteidigungsministerium das Parlament informiert, dass Deutschland einen nennenswerten Beitrag zum Einsatz der Vereinten Nationen in Mali leisten wolle: Nicht mehr nur wie bisher (unter EU-Mandat) die Ausbildung malischer Soldaten, sondern eine robuste Mission unter dem Blauhelm zur Bekämpfung von Islamisten im gefährlichen Norden des westafrikanischen Landes. Gewünscht worden war diese Unterstützung vor allem von den Niederländern, die Teile ihrer sehr robusten Truppe – Kampfhubschrauber und Spezialkräfte – aus der Wüste Malis abziehen wollen. Nach den Anschlägen von Paris am 13. November wurde das von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zwar zur Unterstützung Frankreichs in Westafrika umgedeutet, aber egal: es wird eine gefährliche und fordernde Mission, und es wird spannend werden, das Mandat und die eingesetzten Kräfte zu sehen, wenn der Bundestag voraussichtlich im Januar seinen Beschluss fasst.

Das alles trifft auf eine Bundeswehr, die neben ihren Materialproblemen auch mit der Personaldecke kämpft. Die Gesamtzahl von rund 178.000 Soldatinnen und Soldaten, die Struktur mit dem Verhältnis von Berufssoldaten, Zeitsoldaten und Freiwillig Wehrdienst Leistenden funktioniert offensichtlich nicht, wie mit der – noch laufenden! – Neuausrichtung der Truppe geplant. Und Forderungen nach einer personellen Aufstockung der Streitkräfte kamen ja schon, erwartbar vom Bundeswehrverband, aber auch vom Wehrbeauftragten.

Da wird es spannend zu beobachten, wie sich eine administrative Neurung ab dem 1. Januar auswirkt: Die EU-Arbeitszeitrichtlinie wird für das Militär in Kraft gesetzt. Maximal Regelmäßig 41 Wochenarbeitsstunden sollen es künftig sein. (Ergänzung: Im Detail ganz schön tricky, deswegen habe ich mich auch bei maximal und regelmäßig vertan. Erläuterungen auf der Bundeswehr-Webseite hier; die Verordnung im Wortlaut hier.)  Einsätze und so genannte einsatzgleiche Verpflichtungen bleiben zwar davon ausgenommen, aber während diese Umstellung vermutlich für manche Einheiten vergleichsweise problemlos umzusetzen sein wird, wird es für andere einen Rattenschwanz an Folgen nach sich ziehen: Bei der Marine wird das unter anderem dazu führen, dass die Besatzung bei der Liegezeit im Heimathafen nicht mehr an Bord der Schiffe übernachten dürfen wird. Unterkünfte an Land müssen allerdings erst bereitgestellt werden. Andere Einheiten mit hohem Bereitschaftsstand werden vor komplizierte Planungs- und Ausgleichsaufgaben gestellt.

Und was steht für die geforderte Bundeswehr im neuen Jahr sonst noch an? Unter anderem längst fällige Entscheidungen in der Rüstung. Zum Beispiel bei den Drohnen, pardon, den unbemannten Flugsystemen mittlerer Höhe, Kürzel SAATEG (System der abbildenden Aufklärung in der Tiefe des Einsatzgebiets). Da wird sich im ersten Halbjahr klären müssen, welche Systeme beschafft werden – und die Debatte über bewaffnete Drohnen, um die es in jüngster Zeit ruhig geworden war, dürfte damit neu angefacht werden. Ach ja, und eine Entscheidung über einen Nachfolger für das Sturmgewehr G36, das in diesem Jahr per Ministerinnenwort praktisch ausgemustert wurde, müsste ja auch mal getroffen werden.

Also: mehr als genug für ein herausforderndes neues Jahr. Ich hab‘ bestimmt was vergessen (so bin ich auf die ganzen Krisenherde in Afrika nicht näher eingegangen – Südsudan anyone? Zentralafrikanische Republik? Burundi?), aber auch so ist klar: Einfacher wird’s nicht.

Nachtrag: Dazu passend aus der Reihe der dpa-Jahresendgespräche: Der deutsche General Hans-Lothar Domröse, Befehlshaber des NATO Joint Forces Command in Brunssum, sieht die Machtbalance zwischen NATO und Russland in Gefahr.

(Foto: Die allein reisende Rahma A. aus Mogadischu (Somalia) brachte in den Morgenstunden des 24.08.2015 um 04.15 Uhr an Bord der Fregatte Schleswig-Holstein eine Tochter zur Welt. Das Mädchen trägt den Namen Sophia, ist 49 cm groß, wiegt 3000 Gramm und ist wohlauf – Bundeswehr/Juliane Olbricht)