Chef der Bundeswehr-Einsätze sieht „kritische Phase“ in Afghanistan

(Foto: Euroforum/Dietmar Gust)

Eigentlich hatte heute auf der Handelsblatt-Konferenz Sicherheitspolitik und Verteidigungsindustrie in Berlin Bundeswehr-Generalinspekteur Volker Wieker reden sollen. Der war allerdings verhindert, und so trat an seiner Stelle der Befehlshaber des Einsatzführungskommandos, Generalleutnant Rainer Glatz, ans Mikrofon – vielleicht gar nicht schlecht, dass es so kam. Denn Glatz hielt sich einfach mal nicht (nur) an das vorgegebene Vortragsthema Ein Blick in das Lastenheft der Bundeswehr, sondern sagte auch was zu aktuellen Einsätzen. Und vor allem deutliche Worte zur laufenden – und anstehenden – Veränderung der Afghanistan-Mission.

Interessant fand ich vor allem, dass der Chef der internationalen Bundeswehr-Einsätze durchaus Probleme bei der weiteren Übergabe der Sicherheitsverantwortung am Hindukusch an die afghanischen Sicherheitskräfte sieht – und die Frage stellt, ob sie wirklich, wie geplant und erhofft, alleine die Sicherheit garantieren können. Diese Passage dokumentiere ich deshalb im Wortlaut (unten hänge ich die Audio-Datei seiner ganzen Rede an; der Teil zu Afghanistan findet sich ab Minute 12:40):

Wir befinden uns dort operativ in einer durchaus kritischen Phase. In der Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen, in der Durchführung der Transition insgesamt sowie der Planung der Rückführung unserer Kräfte, die in immer stärkerem Maße unsere Aufmerksamkeit bindet. Hier wird es in naher Zukunft unter anderem zur Nagelprobe kommen, ob und wie die afghanischen Sicherheitskräfte allein in der Lage sind, das staatliche Gewaltmonopol, das sie ja jetzt alleinverantwortlich übernehmen, in der Fläche tatsächlich auch aufrecht erhalten können. Denn bei weiterem Abbau der ISAF-Kräfte auf der Zeitachse bis Ende 2014 über die Kräfte und Mittel hinaus, welche dann die internationalen Kontingente vornehmlich für den Eigenschutz benötigen werden, wird eine Unterstützung von afghanischen Sicherheitskräften künftig nur noch sehr begrenzt möglich sein.

Durchaus kritische Phase, Nagelprobe: Das klingt noch nicht so, wie es aus der Politik oft genug zu hören ist, dass die Übergabe in Verantwortung nur noch Erfolg haben könne.

In dem Zusammenhang lohnt auch ein Blick auf das, was Glatz zu der beabsichtigen neuen Mission zu sagen hat, wenn ISAF Ende 2014 ausläuft. Unterm Strich: nicht auf die USA warten, schon mal mit dem Planen anfangen, aber ohne die USA wird doch nicht klar sein, was machbar wird:

Darüber hinaus nehmen, wie Sie alle wissen, die Überlegungen zur einer ISAF-Folgemission ab 2015 Fahrt auf. Diese Mission, im Augenblick mit dem Arbeitsbegriff ITAAM – International Training, Assistance and Advisory Mission – soll vornehmlich eine Ausbildungs- und Unterstützungsmission unter den Stichworten Train, Advise and Assist sein. Dazu muss aber die völkerrechtliche Grundlage erneut geschaffen werden in Form einer VN-Sicherheitsresolution – aus meiner Sicht nach Kapitel VII -, aber auch eine Einladung der afghanischen Regierung vorliegen. Denn wenn das ISAF-Mandat bis Ende 2014 ausläuft, läuft auch das für ISAF zu Grunde liegende Status of Forces Agreement und das Military Technical Agreement aus. Da haben wir ein kleines Problem, denn wir wissen jetzt, dass im April 2014 gewählt wird. Und das hat dann natürlich auch Rückwirkungen auf die zukünftige Gestaltung unserer Mandatsreichweite, was Sie ja auch aus den Diskussionen entnehmen konnten. Bereits während des Verteidigungsministertreffens im Oktober ist der militärische Planungsprozess der NATO unabhängig davon eingeleitet worden.
Die NATO steht dazu dieser Tage mitten im beginnenden multinationalen Planungs- und Abstimmungsprozess. Er wird damit abschließen, dass die NATO-Nationen im Laufe des Jahres 2013 – meine Prognose: eher in der zweiten Jahreshälfte – endgültig gefragt werden, wie sich konkret an dieser ISAF-Folgemission beteiligen werden. Viel wird dabei von der Haltung der USA abhängen, die jedoch jetzt nach der Präsidentenwahl vermutlich erst Anfang des nächsten Jahres, meiner persönlichen Einschätzung nach im Februar/März – wirklich erst die endgültigen Entscheidungen treffen werden, wie es 2013/14 und darüber hinaus folgende weiter gehen wird.
Wir sind deshalb gut beraten, uns unabhängig davon Gedanken zu machen, welchen Beitrag wir nach 2014 leisten können und wollen. Beispielsweise wäre es vorstellbar, sich im Bereich Train and Advise auf die Hochwertausbildung der ANA, auf die Beratung und Ausbildung an den ANA-Schulen sowie die ANA-Führung zu konzentrieren. Dies würde eine Konzentration unserer Kräfte auf wenige Standorte erlauben. Hierfür wären Ausbilder, Trainer und Mentoren nötig, die aber auch geschützt und versorgt werden müssen, um ihren Auftrag erfüllen zu können.
Man ist daher wohl gut beraten, den eigenen Beitrag für die Afghanen in multinationaler Abstimmung mit den dafür benötigten eigenen Unterstützungskräften so zu verknüpfen, dass daraus die richtigen Folgerungen für den notwendigen eigenen Kräftezuschnitt, dessen Umfang und die Dislozierung relativ frühzeitig eingeleitet und abgestimmt werden können. All dies ist im Detail mit unseren Verbündeten abzustimmen, um am Ende eine ausgewogene multinationale Balance zu erreichen. Daher sind aus meiner Sicht zum jetzigen Zeitpunkt alle derzeit in der Diskussion genannten Zahlen lediglich Absichtserklärungen, in Anführungszeichen Hausnummern, zum Teil sogar eher Spekulation, die weder durch einen tragfähigen Operationsplan, den es faktisch noch gar nicht gibt, noch dessen Kräftegewinnung im internationalen Verbund unterfüttert sind. Hier ist schlicht noch Geduld angesagt. Daher warne ich persönlich zu diesem Zeitpunkt stets vor Zahlenspielen und möglichen Milchmädchenrechnungen.
Neben der Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte werden wir aber auf dem Weg dorthin – das heißt bis Ende 2014 – unsere Verpflichtung als Lead Nation in Nordafghanistan nicht vernachlässigen dürfen, wenn wir die Unterstützung unserer kleineren Bündnispartner im Norden nicht verlieren wollen. Und diese Unterstützung werden wir auch künftig brauchen.

Wer in die Rede reinhört: Gleich zu Beginn (ca. ab Minute 04:15) bemängelt der General Defizite bei unserer Analyse- und Planungsfähigkeit – die Einsätze der Bundeswehr kämen immer anscheinend unvorhergesehen, kurzfristig und überraschend. Das ist auch spannend und wäre mal ein Thema für einen eigenen Thread…

20121119_Glatz